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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Raimund und Nestroy

zu dienen. Man betrachte daraufhin etwa den "Zerrissenen", in dem der Welt'
Schmerz persifliert wird, oder "Glück, Mißbrauch und Rückkehr", wo sich Nestroy
einmal als Pädagoge gebärdet, oder den "Unbedeutenden", wo er für die Ehre
der Armen eintritt, oder "Kanot", in dem nun gar -- eine für Nestroy ganz
ungeheuerliche Sache! -- von der größeren Reinheit und dem größeren Glück
der "kleinen" Leute die Rede sein soll: so wird man sich auf die Dauer trotz
einiger witziger, ich möchte sagen Oberflächenszenen aus jenem erwähnten Grunde
abgestoßen fühlen. Und es ist auch nur eine vorübergehende Täuschung, wenn
man in der achtundvierziger Posse "Freiheit in Krähwinkel" etwas wie einen
Gemütsanteil des Autors, sei es Freude an den Errungenschaften der Revo¬
lution, sei es Ärger über die Kleinlichkeiten der Linken oder Rechten, zu finden
meint. Nestroy ist gegenüber dieser Sache nichts anderes als allen anderen
Dingen gegenüber: der Spaßmacher. Man kann deshalb auch keineswegs von
Verrat reden, wenn Nestroys Freiheitsfreude in der Reaktionszeit nicht vorhält
und er in "Lady und Schneider" einen bürgerlichen Politiker lächerlich macht:
"Völker beglücken! Zu was denn so Sachen für einen Bürgersmann, der seine
Zeit weiter braucht?!" Verräter kann man nur, woran man mit der Seele
gehangen, und das hat Nestroy so wenig an der Freiheit wie an sonst irgend¬
einer idealen Sache. Er hat auch die Freiheit, richtiger: das ganze Ereignis
der Revolution, unter dem ihm einzig gemäßen Gesichtspunkt des Witzes an¬
gesehen und sicherlich in dem folgenden Coupletvers aus dem gleichen Schwan!
die äußerste Tiefe seiner eigenen Überzeugung ausgeschöpft:


... 's Elysium sogar, was die Quintessenz g'west,

Is im heurigen Fasching ein trübseliges Nest;

So weit is's jetzt kommen, sür Wien is's a Schand,

Wir sind noch fabr' als Berlin mit sein' Sand und Verstand.

Falle d'Ung'Stallung so aus, sag' ich "nein",

Da hört es auf, ein Vergnügen zu sein.


Einen wirklichen Genuß, wenn auch bescheidener Art, vermag Nestroy,
soweit er nicht travestiert, nur dann zu bieten, wenn er sich keinen kleinsten
Schritt über das enge Gebiet hinauswagt, in dem für ihn das Leben "ein
Vergnügen" bedeutet, wenn er das Leben flacher Menschen schildert, reicher wie
armer, die zumeist ziemlich skrupelfrei, aber doch ohne jedes heldische Schurkentum
auf Wohlstand und Genuß ausgehen und sich sehr edel dünken, wenn sie einmal
etwas Hübsches tun, das sich eigentlich von selbst verstünde. "Ein Mensch, der
kein Geld nimmt, des is über ein' stark, der kein' Mehlwurm frißt!", heißt
es im "Unbedeutenden" von einem Handwerker, der sich nicht den Mund stopfen
läßt, und das zeigt zur Evidenz, wie wenig bei Nestroy dazu gehört, ein edler
Charakter zu sein, wie flach aber eigentlich auch die Schlechtigkeit ist, an die
er glaubt, und die er mit unerschöpflich variierenden Witz darstellt. Wie sich
die Landstreicher und Handwerker und Abenteurer und Sekretäre und Haus¬
besitzer und vor allem auch die Bedienten -- dem: Nestroy hat nun wirklich


Raimund und Nestroy

zu dienen. Man betrachte daraufhin etwa den „Zerrissenen", in dem der Welt'
Schmerz persifliert wird, oder „Glück, Mißbrauch und Rückkehr", wo sich Nestroy
einmal als Pädagoge gebärdet, oder den „Unbedeutenden", wo er für die Ehre
der Armen eintritt, oder „Kanot", in dem nun gar — eine für Nestroy ganz
ungeheuerliche Sache! — von der größeren Reinheit und dem größeren Glück
der „kleinen" Leute die Rede sein soll: so wird man sich auf die Dauer trotz
einiger witziger, ich möchte sagen Oberflächenszenen aus jenem erwähnten Grunde
abgestoßen fühlen. Und es ist auch nur eine vorübergehende Täuschung, wenn
man in der achtundvierziger Posse „Freiheit in Krähwinkel" etwas wie einen
Gemütsanteil des Autors, sei es Freude an den Errungenschaften der Revo¬
lution, sei es Ärger über die Kleinlichkeiten der Linken oder Rechten, zu finden
meint. Nestroy ist gegenüber dieser Sache nichts anderes als allen anderen
Dingen gegenüber: der Spaßmacher. Man kann deshalb auch keineswegs von
Verrat reden, wenn Nestroys Freiheitsfreude in der Reaktionszeit nicht vorhält
und er in „Lady und Schneider" einen bürgerlichen Politiker lächerlich macht:
„Völker beglücken! Zu was denn so Sachen für einen Bürgersmann, der seine
Zeit weiter braucht?!" Verräter kann man nur, woran man mit der Seele
gehangen, und das hat Nestroy so wenig an der Freiheit wie an sonst irgend¬
einer idealen Sache. Er hat auch die Freiheit, richtiger: das ganze Ereignis
der Revolution, unter dem ihm einzig gemäßen Gesichtspunkt des Witzes an¬
gesehen und sicherlich in dem folgenden Coupletvers aus dem gleichen Schwan!
die äußerste Tiefe seiner eigenen Überzeugung ausgeschöpft:


... 's Elysium sogar, was die Quintessenz g'west,

Is im heurigen Fasching ein trübseliges Nest;

So weit is's jetzt kommen, sür Wien is's a Schand,

Wir sind noch fabr' als Berlin mit sein' Sand und Verstand.

Falle d'Ung'Stallung so aus, sag' ich „nein",

Da hört es auf, ein Vergnügen zu sein.


Einen wirklichen Genuß, wenn auch bescheidener Art, vermag Nestroy,
soweit er nicht travestiert, nur dann zu bieten, wenn er sich keinen kleinsten
Schritt über das enge Gebiet hinauswagt, in dem für ihn das Leben „ein
Vergnügen" bedeutet, wenn er das Leben flacher Menschen schildert, reicher wie
armer, die zumeist ziemlich skrupelfrei, aber doch ohne jedes heldische Schurkentum
auf Wohlstand und Genuß ausgehen und sich sehr edel dünken, wenn sie einmal
etwas Hübsches tun, das sich eigentlich von selbst verstünde. „Ein Mensch, der
kein Geld nimmt, des is über ein' stark, der kein' Mehlwurm frißt!", heißt
es im „Unbedeutenden" von einem Handwerker, der sich nicht den Mund stopfen
läßt, und das zeigt zur Evidenz, wie wenig bei Nestroy dazu gehört, ein edler
Charakter zu sein, wie flach aber eigentlich auch die Schlechtigkeit ist, an die
er glaubt, und die er mit unerschöpflich variierenden Witz darstellt. Wie sich
die Landstreicher und Handwerker und Abenteurer und Sekretäre und Haus¬
besitzer und vor allem auch die Bedienten — dem: Nestroy hat nun wirklich


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[0446] Raimund und Nestroy zu dienen. Man betrachte daraufhin etwa den „Zerrissenen", in dem der Welt' Schmerz persifliert wird, oder „Glück, Mißbrauch und Rückkehr", wo sich Nestroy einmal als Pädagoge gebärdet, oder den „Unbedeutenden", wo er für die Ehre der Armen eintritt, oder „Kanot", in dem nun gar — eine für Nestroy ganz ungeheuerliche Sache! — von der größeren Reinheit und dem größeren Glück der „kleinen" Leute die Rede sein soll: so wird man sich auf die Dauer trotz einiger witziger, ich möchte sagen Oberflächenszenen aus jenem erwähnten Grunde abgestoßen fühlen. Und es ist auch nur eine vorübergehende Täuschung, wenn man in der achtundvierziger Posse „Freiheit in Krähwinkel" etwas wie einen Gemütsanteil des Autors, sei es Freude an den Errungenschaften der Revo¬ lution, sei es Ärger über die Kleinlichkeiten der Linken oder Rechten, zu finden meint. Nestroy ist gegenüber dieser Sache nichts anderes als allen anderen Dingen gegenüber: der Spaßmacher. Man kann deshalb auch keineswegs von Verrat reden, wenn Nestroys Freiheitsfreude in der Reaktionszeit nicht vorhält und er in „Lady und Schneider" einen bürgerlichen Politiker lächerlich macht: „Völker beglücken! Zu was denn so Sachen für einen Bürgersmann, der seine Zeit weiter braucht?!" Verräter kann man nur, woran man mit der Seele gehangen, und das hat Nestroy so wenig an der Freiheit wie an sonst irgend¬ einer idealen Sache. Er hat auch die Freiheit, richtiger: das ganze Ereignis der Revolution, unter dem ihm einzig gemäßen Gesichtspunkt des Witzes an¬ gesehen und sicherlich in dem folgenden Coupletvers aus dem gleichen Schwan! die äußerste Tiefe seiner eigenen Überzeugung ausgeschöpft: ... 's Elysium sogar, was die Quintessenz g'west, Is im heurigen Fasching ein trübseliges Nest; So weit is's jetzt kommen, sür Wien is's a Schand, Wir sind noch fabr' als Berlin mit sein' Sand und Verstand. Falle d'Ung'Stallung so aus, sag' ich „nein", Da hört es auf, ein Vergnügen zu sein. Einen wirklichen Genuß, wenn auch bescheidener Art, vermag Nestroy, soweit er nicht travestiert, nur dann zu bieten, wenn er sich keinen kleinsten Schritt über das enge Gebiet hinauswagt, in dem für ihn das Leben „ein Vergnügen" bedeutet, wenn er das Leben flacher Menschen schildert, reicher wie armer, die zumeist ziemlich skrupelfrei, aber doch ohne jedes heldische Schurkentum auf Wohlstand und Genuß ausgehen und sich sehr edel dünken, wenn sie einmal etwas Hübsches tun, das sich eigentlich von selbst verstünde. „Ein Mensch, der kein Geld nimmt, des is über ein' stark, der kein' Mehlwurm frißt!", heißt es im „Unbedeutenden" von einem Handwerker, der sich nicht den Mund stopfen läßt, und das zeigt zur Evidenz, wie wenig bei Nestroy dazu gehört, ein edler Charakter zu sein, wie flach aber eigentlich auch die Schlechtigkeit ist, an die er glaubt, und die er mit unerschöpflich variierenden Witz darstellt. Wie sich die Landstreicher und Handwerker und Abenteurer und Sekretäre und Haus¬ besitzer und vor allem auch die Bedienten — dem: Nestroy hat nun wirklich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/446>, abgerufen am 27.09.2024.