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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Raimund und Nestroy

liebenswürdigsten Wiener Volkshumors der vormärzlich sanften Art, und hätte
Raimund das Wort seines Longimanus: "besser schön lokal reden als schlecht
hochdeutsch" nur immer beherzigt, so wären ihm Enttäuschungen erspart geblieben.
Und den Kern der Handlung bildet doch hier schon schlicht Menschliches, die
Liebe und Treue einfacher Menschen, denn nicht nur das Dienerpaar Florian
und Mariandl, sondern auch ihr junger Gebieter und seine Auserwählte
zählen zu den einfachen und guten Menschen. Im "Bauer als Millionär"
aber und im "Verschwender" ist die eigentliche Geisterwelt, wozu ich, wie
gesagt, die Allegorien nicht rechne, stark zurückgedrängt, und Raimund schlägt
hier so heitere und so wehmütige, so wirklich humorvolle Töne über die
Torheit des profanen Strebens und die Süße des bescheidenen Glückes an, er
zeichnet hier einfache Charaktere auf falschen und rechten Pfaden mit einer solchen
Eindringlichkeit und (im biblischen Wortsinn) Einfalt, daß alles Kritteln über
die Begrenztheit der Weltanschauung und der Form nur ein Armutszeugnis
für das Gefühl des Kritikers wäre. Aber den Dichter selber befriedigt es
nicht, "nur" solch ein Volksdichter zu sein, und da seine Versuche, sich des
Höheren zu bemächtigen, geringen Beifall, wenn nicht gar Ablehnung finden,
wächst seine in Anlage und Privatleben begründete Melancholie. Er weiß, wie
einem Verbitterten zumute ist und gibt schon 182", also vor der "Unheil¬
bringenden Krone", im "Alpenkönig und Menschenfeind" die haarscharfe, un¬
gemein dramatische und wahrhaft tragikomisch bewegte Analyse einer krankhaften
Seelenverfassung und ihrer Heilung durch Selbsterkenntnis, löst diese komplizierte
und gar nicht naiv volkstümliche Aufgabe mit seinen primitiven Zaubermitteln
so völlig, daß man mit Fug und Recht den freilich tragischeren und auch zur
Tragik berechtigteren Dichter des "Misanthrope" zum Vergleich heranziehen, daß
man auch an die psychologischen Gemälde der Moderne denken kann--und
ahnt nicht, daß ihm nun der ersehnte Schritt über das Volkstümliche hinaus
gelungen ist, ahnt es so wenig, wie seine Zeitgenossen und die meisten späteren
Kritiker, die keinen graduellen Unterschied zwischen diesem Drama und etwa dem
"Verschwender" sehen.

Unterschätzt man aber diese psychologische Reife des Mannes, die ihn nach
dem modernen Umfang des Wortes erst so recht eigentlich zum Dichter macht --
eine Unterschätzung, zu der leicht auch ein Übersehen des Realisten Raimund
tritt, wie er sich im "Alpenkönig und Menschenfeind" bei Schilderung der an¬
mutig verkommenen, zum Teil aber doch sehr ernstlich verkommenen Hütten¬
bewohner erweist, und wie er auch in anderen Stücken ein paarmal zu Worte
kommt --, so ist damit einer allzu hohen Wertung des nächsten Beherrschers
der Wiener Volksbühne bedenklicher Vorschub geleistet. Denn nun operiert man
mit Formeln wie: Raimund das Kind und Nestroy der Mann, oder Raimund
der Dichter des Gemütes und Nestroy der Dichter des Verstandes, oder Rai¬
mund der Dichter der alten und Nestroy der Dichter der neuen Zeit, wobei
es sich dann sehr gut fügt, daß Nestroys Geburt in den Anfang des neuen Jahr-


Raimund und Nestroy

liebenswürdigsten Wiener Volkshumors der vormärzlich sanften Art, und hätte
Raimund das Wort seines Longimanus: „besser schön lokal reden als schlecht
hochdeutsch" nur immer beherzigt, so wären ihm Enttäuschungen erspart geblieben.
Und den Kern der Handlung bildet doch hier schon schlicht Menschliches, die
Liebe und Treue einfacher Menschen, denn nicht nur das Dienerpaar Florian
und Mariandl, sondern auch ihr junger Gebieter und seine Auserwählte
zählen zu den einfachen und guten Menschen. Im „Bauer als Millionär"
aber und im „Verschwender" ist die eigentliche Geisterwelt, wozu ich, wie
gesagt, die Allegorien nicht rechne, stark zurückgedrängt, und Raimund schlägt
hier so heitere und so wehmütige, so wirklich humorvolle Töne über die
Torheit des profanen Strebens und die Süße des bescheidenen Glückes an, er
zeichnet hier einfache Charaktere auf falschen und rechten Pfaden mit einer solchen
Eindringlichkeit und (im biblischen Wortsinn) Einfalt, daß alles Kritteln über
die Begrenztheit der Weltanschauung und der Form nur ein Armutszeugnis
für das Gefühl des Kritikers wäre. Aber den Dichter selber befriedigt es
nicht, „nur" solch ein Volksdichter zu sein, und da seine Versuche, sich des
Höheren zu bemächtigen, geringen Beifall, wenn nicht gar Ablehnung finden,
wächst seine in Anlage und Privatleben begründete Melancholie. Er weiß, wie
einem Verbitterten zumute ist und gibt schon 182», also vor der „Unheil¬
bringenden Krone", im „Alpenkönig und Menschenfeind" die haarscharfe, un¬
gemein dramatische und wahrhaft tragikomisch bewegte Analyse einer krankhaften
Seelenverfassung und ihrer Heilung durch Selbsterkenntnis, löst diese komplizierte
und gar nicht naiv volkstümliche Aufgabe mit seinen primitiven Zaubermitteln
so völlig, daß man mit Fug und Recht den freilich tragischeren und auch zur
Tragik berechtigteren Dichter des „Misanthrope" zum Vergleich heranziehen, daß
man auch an die psychologischen Gemälde der Moderne denken kann--und
ahnt nicht, daß ihm nun der ersehnte Schritt über das Volkstümliche hinaus
gelungen ist, ahnt es so wenig, wie seine Zeitgenossen und die meisten späteren
Kritiker, die keinen graduellen Unterschied zwischen diesem Drama und etwa dem
„Verschwender" sehen.

Unterschätzt man aber diese psychologische Reife des Mannes, die ihn nach
dem modernen Umfang des Wortes erst so recht eigentlich zum Dichter macht —
eine Unterschätzung, zu der leicht auch ein Übersehen des Realisten Raimund
tritt, wie er sich im „Alpenkönig und Menschenfeind" bei Schilderung der an¬
mutig verkommenen, zum Teil aber doch sehr ernstlich verkommenen Hütten¬
bewohner erweist, und wie er auch in anderen Stücken ein paarmal zu Worte
kommt —, so ist damit einer allzu hohen Wertung des nächsten Beherrschers
der Wiener Volksbühne bedenklicher Vorschub geleistet. Denn nun operiert man
mit Formeln wie: Raimund das Kind und Nestroy der Mann, oder Raimund
der Dichter des Gemütes und Nestroy der Dichter des Verstandes, oder Rai¬
mund der Dichter der alten und Nestroy der Dichter der neuen Zeit, wobei
es sich dann sehr gut fügt, daß Nestroys Geburt in den Anfang des neuen Jahr-


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[0442] Raimund und Nestroy liebenswürdigsten Wiener Volkshumors der vormärzlich sanften Art, und hätte Raimund das Wort seines Longimanus: „besser schön lokal reden als schlecht hochdeutsch" nur immer beherzigt, so wären ihm Enttäuschungen erspart geblieben. Und den Kern der Handlung bildet doch hier schon schlicht Menschliches, die Liebe und Treue einfacher Menschen, denn nicht nur das Dienerpaar Florian und Mariandl, sondern auch ihr junger Gebieter und seine Auserwählte zählen zu den einfachen und guten Menschen. Im „Bauer als Millionär" aber und im „Verschwender" ist die eigentliche Geisterwelt, wozu ich, wie gesagt, die Allegorien nicht rechne, stark zurückgedrängt, und Raimund schlägt hier so heitere und so wehmütige, so wirklich humorvolle Töne über die Torheit des profanen Strebens und die Süße des bescheidenen Glückes an, er zeichnet hier einfache Charaktere auf falschen und rechten Pfaden mit einer solchen Eindringlichkeit und (im biblischen Wortsinn) Einfalt, daß alles Kritteln über die Begrenztheit der Weltanschauung und der Form nur ein Armutszeugnis für das Gefühl des Kritikers wäre. Aber den Dichter selber befriedigt es nicht, „nur" solch ein Volksdichter zu sein, und da seine Versuche, sich des Höheren zu bemächtigen, geringen Beifall, wenn nicht gar Ablehnung finden, wächst seine in Anlage und Privatleben begründete Melancholie. Er weiß, wie einem Verbitterten zumute ist und gibt schon 182», also vor der „Unheil¬ bringenden Krone", im „Alpenkönig und Menschenfeind" die haarscharfe, un¬ gemein dramatische und wahrhaft tragikomisch bewegte Analyse einer krankhaften Seelenverfassung und ihrer Heilung durch Selbsterkenntnis, löst diese komplizierte und gar nicht naiv volkstümliche Aufgabe mit seinen primitiven Zaubermitteln so völlig, daß man mit Fug und Recht den freilich tragischeren und auch zur Tragik berechtigteren Dichter des „Misanthrope" zum Vergleich heranziehen, daß man auch an die psychologischen Gemälde der Moderne denken kann--und ahnt nicht, daß ihm nun der ersehnte Schritt über das Volkstümliche hinaus gelungen ist, ahnt es so wenig, wie seine Zeitgenossen und die meisten späteren Kritiker, die keinen graduellen Unterschied zwischen diesem Drama und etwa dem „Verschwender" sehen. Unterschätzt man aber diese psychologische Reife des Mannes, die ihn nach dem modernen Umfang des Wortes erst so recht eigentlich zum Dichter macht — eine Unterschätzung, zu der leicht auch ein Übersehen des Realisten Raimund tritt, wie er sich im „Alpenkönig und Menschenfeind" bei Schilderung der an¬ mutig verkommenen, zum Teil aber doch sehr ernstlich verkommenen Hütten¬ bewohner erweist, und wie er auch in anderen Stücken ein paarmal zu Worte kommt —, so ist damit einer allzu hohen Wertung des nächsten Beherrschers der Wiener Volksbühne bedenklicher Vorschub geleistet. Denn nun operiert man mit Formeln wie: Raimund das Kind und Nestroy der Mann, oder Raimund der Dichter des Gemütes und Nestroy der Dichter des Verstandes, oder Rai¬ mund der Dichter der alten und Nestroy der Dichter der neuen Zeit, wobei es sich dann sehr gut fügt, daß Nestroys Geburt in den Anfang des neuen Jahr-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/442>, abgerufen am 27.09.2024.