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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Raimund und Nestroy

wieder einer herrschenden Macht) bewahrt den Verschwender vor dem Untergang.
Ich möchte sagen, bei Grillparzer handele es sich um die wehmütige oder bittere
Unterwerfung unter das Schicksal, bei Raimund um eine angeborene heitere
Unterwürfigkeit. Grillparzers Menschen werden zerbrochen, Raimunds haben
biegsame Glieder und fühlen sich gebückt am wohlsten. Sie sind dann aller
Verantwortlichkeit überhoben und haben, sofern sie brav sind, satt zu essen. Jenes
Freisein von der Verantwortlichkeit gesellt sie fast den modernsten Menschen der
Hofmannsthal und Beer-Hofmann zu, die in der Verschanzung hinter dem Wechsel,
der Vielfältigkeit und "Unrettbarkeit" des Ichs die Bequemlichkeit des Jndivi-
duums suchen; aber freilich, das mystische All ist ein angenehmerer Herr als
irgend ein tatsächlicher Gebieter der Erde oder des Geisterreichs, und deshalb
kommt es bei den Schicksalsgebundenen der Moderne auf ein zügelloses Genießen
hinaus, bei denen Ferdinand Raimunds auf folgsame Bescheidenheit. Und so
kann Hermann Bahr als Wortführer der Moderne sehr wohl gegen ihn eifern,
weil er "Lakaien" und "die Gesinnung des Lakaien" verherrlicht und statt des
"Menschen" den "Untertan" preist.

Aber nicht diese Unterwürfigkeit ist es in erster Linie, was den Raimundschen
Stücken heute Abbruch tut, denn sie gibt sich fast immer kindlich, fast nie
knechtisch. Raimunds Schwäche liegt in seiner Technik und vor allem in dem
fruchtlosen Bemühen, sie auf Themen anzuwenden, zu deren Bewältigung sie
nicht besser paßt, als ein einzelnes schwaches Ruder zur Fortbewegung eines
großen Seeschiffes. Der Dichter Raimund mochte sich noch so weit über den
Autor des "Barometermachers" emporentwickeln, der Schauspieler und Schauspiel¬
direktor mußte doch immer im Fahrwasser dieser Posse bleiben. Das Volk
wollte etwas zu sehen haben und etwas zu raten und etwas zu lachen, auch
die Rührung und allenfalls das Gruseln liebte es -- nur keineswegs das ernst¬
haft zu Durchdenkende und das wuchtend Tragische. Da mußten Geister auf¬
treten, die gemütlich sprachen wie die Wiener und doch ganz andere gewaltige
Herren waren, da mußten sich plötzlich Paläste in Schutthaufen und Wüsteneien
in blühende Gärten verwandeln, mußten die Spielenden aus der Versenkung
steigen und aus den Wolken niederfahren, plötzlich ihr Gewand und
auch wohl ihre Gestalt ändern; es mußte häufig donnern, unvermittelt Tag
und Nacht anbrechen; es mußten seltsame Bedingungen gestellt und seltsam
gelöst werden; es mußten eigentümliche Strafen und eigentümliche Belohnungen --
und natürlich immer nach Verdienst! -- freigiebigst erfolgen; es mußte in der
ernstesten Szene ein Plätzchen für derbe Komik freibleiben, und nie durften vor¬
zugsweise lustige Gesangseinlagen fehlen -- all dieses mußte sein, wenn das
Publikum sich einstellen sollte, und wie der Dichter all diesem genügte und
dennoch ein wenig von niemandem geforderte wirkliche Kunst mit ins Spiel
brachte, war seine Sache.

Das Lachbedürfnis zu befriedigen, gab es ein einfaches und altgeheiligtes
Mittel: die Personen niederen Ranges hatten bei aller Treue und Tüchtigkeit


Raimund und Nestroy

wieder einer herrschenden Macht) bewahrt den Verschwender vor dem Untergang.
Ich möchte sagen, bei Grillparzer handele es sich um die wehmütige oder bittere
Unterwerfung unter das Schicksal, bei Raimund um eine angeborene heitere
Unterwürfigkeit. Grillparzers Menschen werden zerbrochen, Raimunds haben
biegsame Glieder und fühlen sich gebückt am wohlsten. Sie sind dann aller
Verantwortlichkeit überhoben und haben, sofern sie brav sind, satt zu essen. Jenes
Freisein von der Verantwortlichkeit gesellt sie fast den modernsten Menschen der
Hofmannsthal und Beer-Hofmann zu, die in der Verschanzung hinter dem Wechsel,
der Vielfältigkeit und „Unrettbarkeit" des Ichs die Bequemlichkeit des Jndivi-
duums suchen; aber freilich, das mystische All ist ein angenehmerer Herr als
irgend ein tatsächlicher Gebieter der Erde oder des Geisterreichs, und deshalb
kommt es bei den Schicksalsgebundenen der Moderne auf ein zügelloses Genießen
hinaus, bei denen Ferdinand Raimunds auf folgsame Bescheidenheit. Und so
kann Hermann Bahr als Wortführer der Moderne sehr wohl gegen ihn eifern,
weil er „Lakaien" und „die Gesinnung des Lakaien" verherrlicht und statt des
„Menschen" den „Untertan" preist.

Aber nicht diese Unterwürfigkeit ist es in erster Linie, was den Raimundschen
Stücken heute Abbruch tut, denn sie gibt sich fast immer kindlich, fast nie
knechtisch. Raimunds Schwäche liegt in seiner Technik und vor allem in dem
fruchtlosen Bemühen, sie auf Themen anzuwenden, zu deren Bewältigung sie
nicht besser paßt, als ein einzelnes schwaches Ruder zur Fortbewegung eines
großen Seeschiffes. Der Dichter Raimund mochte sich noch so weit über den
Autor des „Barometermachers" emporentwickeln, der Schauspieler und Schauspiel¬
direktor mußte doch immer im Fahrwasser dieser Posse bleiben. Das Volk
wollte etwas zu sehen haben und etwas zu raten und etwas zu lachen, auch
die Rührung und allenfalls das Gruseln liebte es — nur keineswegs das ernst¬
haft zu Durchdenkende und das wuchtend Tragische. Da mußten Geister auf¬
treten, die gemütlich sprachen wie die Wiener und doch ganz andere gewaltige
Herren waren, da mußten sich plötzlich Paläste in Schutthaufen und Wüsteneien
in blühende Gärten verwandeln, mußten die Spielenden aus der Versenkung
steigen und aus den Wolken niederfahren, plötzlich ihr Gewand und
auch wohl ihre Gestalt ändern; es mußte häufig donnern, unvermittelt Tag
und Nacht anbrechen; es mußten seltsame Bedingungen gestellt und seltsam
gelöst werden; es mußten eigentümliche Strafen und eigentümliche Belohnungen —
und natürlich immer nach Verdienst! — freigiebigst erfolgen; es mußte in der
ernstesten Szene ein Plätzchen für derbe Komik freibleiben, und nie durften vor¬
zugsweise lustige Gesangseinlagen fehlen — all dieses mußte sein, wenn das
Publikum sich einstellen sollte, und wie der Dichter all diesem genügte und
dennoch ein wenig von niemandem geforderte wirkliche Kunst mit ins Spiel
brachte, war seine Sache.

Das Lachbedürfnis zu befriedigen, gab es ein einfaches und altgeheiligtes
Mittel: die Personen niederen Ranges hatten bei aller Treue und Tüchtigkeit


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[0439] Raimund und Nestroy wieder einer herrschenden Macht) bewahrt den Verschwender vor dem Untergang. Ich möchte sagen, bei Grillparzer handele es sich um die wehmütige oder bittere Unterwerfung unter das Schicksal, bei Raimund um eine angeborene heitere Unterwürfigkeit. Grillparzers Menschen werden zerbrochen, Raimunds haben biegsame Glieder und fühlen sich gebückt am wohlsten. Sie sind dann aller Verantwortlichkeit überhoben und haben, sofern sie brav sind, satt zu essen. Jenes Freisein von der Verantwortlichkeit gesellt sie fast den modernsten Menschen der Hofmannsthal und Beer-Hofmann zu, die in der Verschanzung hinter dem Wechsel, der Vielfältigkeit und „Unrettbarkeit" des Ichs die Bequemlichkeit des Jndivi- duums suchen; aber freilich, das mystische All ist ein angenehmerer Herr als irgend ein tatsächlicher Gebieter der Erde oder des Geisterreichs, und deshalb kommt es bei den Schicksalsgebundenen der Moderne auf ein zügelloses Genießen hinaus, bei denen Ferdinand Raimunds auf folgsame Bescheidenheit. Und so kann Hermann Bahr als Wortführer der Moderne sehr wohl gegen ihn eifern, weil er „Lakaien" und „die Gesinnung des Lakaien" verherrlicht und statt des „Menschen" den „Untertan" preist. Aber nicht diese Unterwürfigkeit ist es in erster Linie, was den Raimundschen Stücken heute Abbruch tut, denn sie gibt sich fast immer kindlich, fast nie knechtisch. Raimunds Schwäche liegt in seiner Technik und vor allem in dem fruchtlosen Bemühen, sie auf Themen anzuwenden, zu deren Bewältigung sie nicht besser paßt, als ein einzelnes schwaches Ruder zur Fortbewegung eines großen Seeschiffes. Der Dichter Raimund mochte sich noch so weit über den Autor des „Barometermachers" emporentwickeln, der Schauspieler und Schauspiel¬ direktor mußte doch immer im Fahrwasser dieser Posse bleiben. Das Volk wollte etwas zu sehen haben und etwas zu raten und etwas zu lachen, auch die Rührung und allenfalls das Gruseln liebte es — nur keineswegs das ernst¬ haft zu Durchdenkende und das wuchtend Tragische. Da mußten Geister auf¬ treten, die gemütlich sprachen wie die Wiener und doch ganz andere gewaltige Herren waren, da mußten sich plötzlich Paläste in Schutthaufen und Wüsteneien in blühende Gärten verwandeln, mußten die Spielenden aus der Versenkung steigen und aus den Wolken niederfahren, plötzlich ihr Gewand und auch wohl ihre Gestalt ändern; es mußte häufig donnern, unvermittelt Tag und Nacht anbrechen; es mußten seltsame Bedingungen gestellt und seltsam gelöst werden; es mußten eigentümliche Strafen und eigentümliche Belohnungen — und natürlich immer nach Verdienst! — freigiebigst erfolgen; es mußte in der ernstesten Szene ein Plätzchen für derbe Komik freibleiben, und nie durften vor¬ zugsweise lustige Gesangseinlagen fehlen — all dieses mußte sein, wenn das Publikum sich einstellen sollte, und wie der Dichter all diesem genügte und dennoch ein wenig von niemandem geforderte wirkliche Kunst mit ins Spiel brachte, war seine Sache. Das Lachbedürfnis zu befriedigen, gab es ein einfaches und altgeheiligtes Mittel: die Personen niederen Ranges hatten bei aller Treue und Tüchtigkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/439>, abgerufen am 27.09.2024.