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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Soziale Aufgaben der privaten Lebensversicherung

unterwerfenden Personen da und dort noch geringfügige Grenzregulierungen zu
erwarten und für die Durchführung der Arbeiterversicherung fortgesetzt eine
Vervollkommnung anzustreben sein. Eine wesentliche Ausdehnung der Zwangs¬
versicherung wird sich dagegen kaum rechtfertigen lassen und könnte nur unheil¬
voll wirken; es liegt vielmehr die Befürchtung sehr nahe, daß schon mit dem
Angestelltengesetz der Gedanke des Versicherungszwanges über die richtigen
Grenzen hinausgegriffen hat.

Bei dieser Sachlage erklärt es sich denn auch, daß in letzter Zeit auch in
den Kreisen der eifrigsten Freunde unserer sozialen Arbeiterversicherung immer
mehr die Frage nach den Grenzen der Zwangsversicherung erörtert und bei
der besseren Erkenntnis der dem Gedanken des Versicherungszwanges gesteckten
Grenzen nach einem Wege gesucht wird, auf dem ein Zusammenwirken von
Zwangsversicherung und freiwilliger Versicherung, eine Ergänzung der ersteren
durch die letztere ermöglicht und zu diesem Zwecke die Privatversicherung möglichst
wirksam in den Dienst sozialer Aufgaben gestellt wird.

Bemerkenswert in dieser Richtung sind die Verhandlungen der Zweiten
Internationalen Konferenz für Sozialversicherung in Dresden 1911 über die
Verbindung staatlicher Zwangsversicherung und freier Privatversicherung (Zeit¬
schrift für die gesamte Versicherungswissenschaft Bd. XI S. 921 f.) sowie die
Verhandlungen der im Dezember 1911 stattgehabten Mitgliederversammlung des
Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaft über die Grenzen der Privat-
und Sozialversicherung (ebendas. Bd. XII S. 227 f.; vgl. auch die Arbeiter¬
versorgung vom 1. Oktober 1911 Ur. 28 S. 649 f. und Dr. R. Piloty,
"Der Versicherungszwang in der deutschen Arbeiterversicherung." Stuttgart 1910).

Man kann in der Tat, wie wir es von den ersten Anfängen der Betätigung
der Reichsgesetzgebung auf dem Gebiete der Arbeiterversicherung an gewesen
sind, überzeugter Anhänger des Versicherungszwanges sein und die segensreiche
Wirkung unserer Sozialversicherung trotz mancher ungünstigen Begleiterscheinung
(Anreiz zur Begehrlichkeit, Simulation) außerordentlich hoch einschätzen, muß sich
aber doch anderseits des Unterschiedes in den Voraussetzungen und Wirkungen
der Zwangsversicherung und der freiwilligen Versicherung bewußt bleiben und
darf die Grenzen nicht verkennen, innerhalb deren das eine oder das andere
System mit gutem Erfolge angewandt werden kann.

Der Versicherungszwang ist nur gegenüber solchen Personenkreisen gerecht¬
fertigt, denen die materielle und moralische Kraft und Selbständigkeit zur eigenen
freiwilligen Fürsorge fehlt, und darf auch hinsichtlich des Umfanges der zu
erzwingenden Fürsorge nicht über das im allgemeinen Interesse Unerläßliche
hinausgehen. Greift er in persönlicher oder sachlicher Beziehung weiter, so ist
er nicht bloß entbehrlich, sondern geradezu schädlich, indem er das Verantwort-
lichkeits- und Selbstgefühl der vom Zwange Betroffenen mindert und trotz
materieller Besserstellung doch statt sittlicher Hebung eine Herabdrückung der
Persönlichkeit bewirkt und damit zugleich tiefgehende Unzufriedenheit erzeugt.


Soziale Aufgaben der privaten Lebensversicherung

unterwerfenden Personen da und dort noch geringfügige Grenzregulierungen zu
erwarten und für die Durchführung der Arbeiterversicherung fortgesetzt eine
Vervollkommnung anzustreben sein. Eine wesentliche Ausdehnung der Zwangs¬
versicherung wird sich dagegen kaum rechtfertigen lassen und könnte nur unheil¬
voll wirken; es liegt vielmehr die Befürchtung sehr nahe, daß schon mit dem
Angestelltengesetz der Gedanke des Versicherungszwanges über die richtigen
Grenzen hinausgegriffen hat.

Bei dieser Sachlage erklärt es sich denn auch, daß in letzter Zeit auch in
den Kreisen der eifrigsten Freunde unserer sozialen Arbeiterversicherung immer
mehr die Frage nach den Grenzen der Zwangsversicherung erörtert und bei
der besseren Erkenntnis der dem Gedanken des Versicherungszwanges gesteckten
Grenzen nach einem Wege gesucht wird, auf dem ein Zusammenwirken von
Zwangsversicherung und freiwilliger Versicherung, eine Ergänzung der ersteren
durch die letztere ermöglicht und zu diesem Zwecke die Privatversicherung möglichst
wirksam in den Dienst sozialer Aufgaben gestellt wird.

Bemerkenswert in dieser Richtung sind die Verhandlungen der Zweiten
Internationalen Konferenz für Sozialversicherung in Dresden 1911 über die
Verbindung staatlicher Zwangsversicherung und freier Privatversicherung (Zeit¬
schrift für die gesamte Versicherungswissenschaft Bd. XI S. 921 f.) sowie die
Verhandlungen der im Dezember 1911 stattgehabten Mitgliederversammlung des
Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaft über die Grenzen der Privat-
und Sozialversicherung (ebendas. Bd. XII S. 227 f.; vgl. auch die Arbeiter¬
versorgung vom 1. Oktober 1911 Ur. 28 S. 649 f. und Dr. R. Piloty,
„Der Versicherungszwang in der deutschen Arbeiterversicherung." Stuttgart 1910).

Man kann in der Tat, wie wir es von den ersten Anfängen der Betätigung
der Reichsgesetzgebung auf dem Gebiete der Arbeiterversicherung an gewesen
sind, überzeugter Anhänger des Versicherungszwanges sein und die segensreiche
Wirkung unserer Sozialversicherung trotz mancher ungünstigen Begleiterscheinung
(Anreiz zur Begehrlichkeit, Simulation) außerordentlich hoch einschätzen, muß sich
aber doch anderseits des Unterschiedes in den Voraussetzungen und Wirkungen
der Zwangsversicherung und der freiwilligen Versicherung bewußt bleiben und
darf die Grenzen nicht verkennen, innerhalb deren das eine oder das andere
System mit gutem Erfolge angewandt werden kann.

Der Versicherungszwang ist nur gegenüber solchen Personenkreisen gerecht¬
fertigt, denen die materielle und moralische Kraft und Selbständigkeit zur eigenen
freiwilligen Fürsorge fehlt, und darf auch hinsichtlich des Umfanges der zu
erzwingenden Fürsorge nicht über das im allgemeinen Interesse Unerläßliche
hinausgehen. Greift er in persönlicher oder sachlicher Beziehung weiter, so ist
er nicht bloß entbehrlich, sondern geradezu schädlich, indem er das Verantwort-
lichkeits- und Selbstgefühl der vom Zwange Betroffenen mindert und trotz
materieller Besserstellung doch statt sittlicher Hebung eine Herabdrückung der
Persönlichkeit bewirkt und damit zugleich tiefgehende Unzufriedenheit erzeugt.


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[0428] Soziale Aufgaben der privaten Lebensversicherung unterwerfenden Personen da und dort noch geringfügige Grenzregulierungen zu erwarten und für die Durchführung der Arbeiterversicherung fortgesetzt eine Vervollkommnung anzustreben sein. Eine wesentliche Ausdehnung der Zwangs¬ versicherung wird sich dagegen kaum rechtfertigen lassen und könnte nur unheil¬ voll wirken; es liegt vielmehr die Befürchtung sehr nahe, daß schon mit dem Angestelltengesetz der Gedanke des Versicherungszwanges über die richtigen Grenzen hinausgegriffen hat. Bei dieser Sachlage erklärt es sich denn auch, daß in letzter Zeit auch in den Kreisen der eifrigsten Freunde unserer sozialen Arbeiterversicherung immer mehr die Frage nach den Grenzen der Zwangsversicherung erörtert und bei der besseren Erkenntnis der dem Gedanken des Versicherungszwanges gesteckten Grenzen nach einem Wege gesucht wird, auf dem ein Zusammenwirken von Zwangsversicherung und freiwilliger Versicherung, eine Ergänzung der ersteren durch die letztere ermöglicht und zu diesem Zwecke die Privatversicherung möglichst wirksam in den Dienst sozialer Aufgaben gestellt wird. Bemerkenswert in dieser Richtung sind die Verhandlungen der Zweiten Internationalen Konferenz für Sozialversicherung in Dresden 1911 über die Verbindung staatlicher Zwangsversicherung und freier Privatversicherung (Zeit¬ schrift für die gesamte Versicherungswissenschaft Bd. XI S. 921 f.) sowie die Verhandlungen der im Dezember 1911 stattgehabten Mitgliederversammlung des Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaft über die Grenzen der Privat- und Sozialversicherung (ebendas. Bd. XII S. 227 f.; vgl. auch die Arbeiter¬ versorgung vom 1. Oktober 1911 Ur. 28 S. 649 f. und Dr. R. Piloty, „Der Versicherungszwang in der deutschen Arbeiterversicherung." Stuttgart 1910). Man kann in der Tat, wie wir es von den ersten Anfängen der Betätigung der Reichsgesetzgebung auf dem Gebiete der Arbeiterversicherung an gewesen sind, überzeugter Anhänger des Versicherungszwanges sein und die segensreiche Wirkung unserer Sozialversicherung trotz mancher ungünstigen Begleiterscheinung (Anreiz zur Begehrlichkeit, Simulation) außerordentlich hoch einschätzen, muß sich aber doch anderseits des Unterschiedes in den Voraussetzungen und Wirkungen der Zwangsversicherung und der freiwilligen Versicherung bewußt bleiben und darf die Grenzen nicht verkennen, innerhalb deren das eine oder das andere System mit gutem Erfolge angewandt werden kann. Der Versicherungszwang ist nur gegenüber solchen Personenkreisen gerecht¬ fertigt, denen die materielle und moralische Kraft und Selbständigkeit zur eigenen freiwilligen Fürsorge fehlt, und darf auch hinsichtlich des Umfanges der zu erzwingenden Fürsorge nicht über das im allgemeinen Interesse Unerläßliche hinausgehen. Greift er in persönlicher oder sachlicher Beziehung weiter, so ist er nicht bloß entbehrlich, sondern geradezu schädlich, indem er das Verantwort- lichkeits- und Selbstgefühl der vom Zwange Betroffenen mindert und trotz materieller Besserstellung doch statt sittlicher Hebung eine Herabdrückung der Persönlichkeit bewirkt und damit zugleich tiefgehende Unzufriedenheit erzeugt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/428>, abgerufen am 27.09.2024.