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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Idealismus und Realismus

Gegenwart ernsthaft um die Verwirklichung sozialer und politischer Ideale, um
die Herbeiführung eines dauernden Völkerfriedens, um eine gerechtere Einschätzung
der Arbeit, auch der geistigen Arbeit, sich bemühen, kurzweg als unpraktische
Träumer zu betrachten, weil sie vielleicht von der Erreichung ihres Zieles noch
weit entfernt sind.

Auf dem Gebiet der Volkserziehung, in Kirche und Schule, tritt das
gemeinhin als Idealismus bezeichnete Reformertum in ganz ähnlichen Formen
hervor wie in der Behandlung sozialer und politischer Fragen. Der pädagogische
Idealismus ist durchdrungen von einem starken Glauben an die Güte oder doch
wenigstens an die Vervollkommnungsfähigkeit der Menschennatur. In seiner
extremsten Gestaltung als ein ganz und gar wirklichkeitsfremder Optimismus
macht er für alle Übel des gesellschaftlichen Lebens nur die verkehrten menschlichen
Institutionen verantwortlich und betont, daß alles gut sei so wie es aus den
Händen des Weltschöpfers hervorgehe. Eine eigentliche Erziehung ist unter
dieser Voraussetzung durchaus zu verwerfen. Dadurch könnte ja die Reinheit,
Heiligkeit und Schaffenskraft der Kindesnatur nur verdorben werden. Die einzige
Aufgabe des Dieners am Kind, wie man den Erzieher im Sinn einer solchen
Auffassung nennen könnte, besteht dann darin, die Einflüsse einer verderbten
Kultur fernzuhalten und alle Keime des unverbildeten Geisteslebens frei sich
entfalten zu lassen. Rousseau und Tolstoi und all die kleineren Propheten, die
das Evangelium der Selbständigkeit und Selbsttätigkeit des Kindes verkündigen,
stehen dieser Form des idealistischen Optimismus nahe.

Nicht ganz so unvereinbar mit den aufdringlichsten Erfahrungstatsachen,
aber in ihren Zukunftshoffnungen nicht minder idealistisch und optimistisch ist
die aus dem Glauben an die unbegrenzte Vervollkommnungsfähigkeit des
Menschen sich ergebende Lehre von der Allmacht der Erziehung. Man will es
ja nicht geradezu leugnen, daß jedes Kind durch die Einflüsse der Vererbung
von Geburt an eine gewisse Individualität besitzt, wodurch die Zahl der
Bildungsmöglichkeiten eingeschränkt wird. Aber da man von den psychologischen
Voraussetzungen dieser Lehre aus individuelle Verschiedenheiten nur darin zu
finden vermag, daß die einen Menschen diese, die andern jene Art von Vor¬
stellungen leichter aufnehmen und behalten, so erscheinen die Schranken der
Individualität, sofern sie überwunden werden sollen, keineswegs unüberwindlich.
Wenn alle Prägung menschlicher Charaktere auf der Bildung des Vorstellungs¬
kreises beruht, so muß man doch, da schließlich in jedem Individuum, wenigstens
in jedem Vollfinnigen, Vorstellungen von allen Dingen angeregt werden können,
mit der nötigen Ausdauer überall zum Ziel gelangen. Ja selbst wer blind und
taub geboren ist, dem fehlen nach dieser idealistischen Auffassung nur zwei
Sinnespforten. Zwei Wege der Vorstellungsbildung sind dem Erzieher des
Blind- und Taubgeborenen versperrt. Aber andere Wege stehen offen, und ein
Ziel, das auf Umwegen erreichbar ist, ist doch nicht unerreichbar. Man vergißt
nur, daß die Beschränktheit von Zeit und Kraft uns an das Ende eines allzu-


Idealismus und Realismus

Gegenwart ernsthaft um die Verwirklichung sozialer und politischer Ideale, um
die Herbeiführung eines dauernden Völkerfriedens, um eine gerechtere Einschätzung
der Arbeit, auch der geistigen Arbeit, sich bemühen, kurzweg als unpraktische
Träumer zu betrachten, weil sie vielleicht von der Erreichung ihres Zieles noch
weit entfernt sind.

Auf dem Gebiet der Volkserziehung, in Kirche und Schule, tritt das
gemeinhin als Idealismus bezeichnete Reformertum in ganz ähnlichen Formen
hervor wie in der Behandlung sozialer und politischer Fragen. Der pädagogische
Idealismus ist durchdrungen von einem starken Glauben an die Güte oder doch
wenigstens an die Vervollkommnungsfähigkeit der Menschennatur. In seiner
extremsten Gestaltung als ein ganz und gar wirklichkeitsfremder Optimismus
macht er für alle Übel des gesellschaftlichen Lebens nur die verkehrten menschlichen
Institutionen verantwortlich und betont, daß alles gut sei so wie es aus den
Händen des Weltschöpfers hervorgehe. Eine eigentliche Erziehung ist unter
dieser Voraussetzung durchaus zu verwerfen. Dadurch könnte ja die Reinheit,
Heiligkeit und Schaffenskraft der Kindesnatur nur verdorben werden. Die einzige
Aufgabe des Dieners am Kind, wie man den Erzieher im Sinn einer solchen
Auffassung nennen könnte, besteht dann darin, die Einflüsse einer verderbten
Kultur fernzuhalten und alle Keime des unverbildeten Geisteslebens frei sich
entfalten zu lassen. Rousseau und Tolstoi und all die kleineren Propheten, die
das Evangelium der Selbständigkeit und Selbsttätigkeit des Kindes verkündigen,
stehen dieser Form des idealistischen Optimismus nahe.

Nicht ganz so unvereinbar mit den aufdringlichsten Erfahrungstatsachen,
aber in ihren Zukunftshoffnungen nicht minder idealistisch und optimistisch ist
die aus dem Glauben an die unbegrenzte Vervollkommnungsfähigkeit des
Menschen sich ergebende Lehre von der Allmacht der Erziehung. Man will es
ja nicht geradezu leugnen, daß jedes Kind durch die Einflüsse der Vererbung
von Geburt an eine gewisse Individualität besitzt, wodurch die Zahl der
Bildungsmöglichkeiten eingeschränkt wird. Aber da man von den psychologischen
Voraussetzungen dieser Lehre aus individuelle Verschiedenheiten nur darin zu
finden vermag, daß die einen Menschen diese, die andern jene Art von Vor¬
stellungen leichter aufnehmen und behalten, so erscheinen die Schranken der
Individualität, sofern sie überwunden werden sollen, keineswegs unüberwindlich.
Wenn alle Prägung menschlicher Charaktere auf der Bildung des Vorstellungs¬
kreises beruht, so muß man doch, da schließlich in jedem Individuum, wenigstens
in jedem Vollfinnigen, Vorstellungen von allen Dingen angeregt werden können,
mit der nötigen Ausdauer überall zum Ziel gelangen. Ja selbst wer blind und
taub geboren ist, dem fehlen nach dieser idealistischen Auffassung nur zwei
Sinnespforten. Zwei Wege der Vorstellungsbildung sind dem Erzieher des
Blind- und Taubgeborenen versperrt. Aber andere Wege stehen offen, und ein
Ziel, das auf Umwegen erreichbar ist, ist doch nicht unerreichbar. Man vergißt
nur, daß die Beschränktheit von Zeit und Kraft uns an das Ende eines allzu-


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[0422] Idealismus und Realismus Gegenwart ernsthaft um die Verwirklichung sozialer und politischer Ideale, um die Herbeiführung eines dauernden Völkerfriedens, um eine gerechtere Einschätzung der Arbeit, auch der geistigen Arbeit, sich bemühen, kurzweg als unpraktische Träumer zu betrachten, weil sie vielleicht von der Erreichung ihres Zieles noch weit entfernt sind. Auf dem Gebiet der Volkserziehung, in Kirche und Schule, tritt das gemeinhin als Idealismus bezeichnete Reformertum in ganz ähnlichen Formen hervor wie in der Behandlung sozialer und politischer Fragen. Der pädagogische Idealismus ist durchdrungen von einem starken Glauben an die Güte oder doch wenigstens an die Vervollkommnungsfähigkeit der Menschennatur. In seiner extremsten Gestaltung als ein ganz und gar wirklichkeitsfremder Optimismus macht er für alle Übel des gesellschaftlichen Lebens nur die verkehrten menschlichen Institutionen verantwortlich und betont, daß alles gut sei so wie es aus den Händen des Weltschöpfers hervorgehe. Eine eigentliche Erziehung ist unter dieser Voraussetzung durchaus zu verwerfen. Dadurch könnte ja die Reinheit, Heiligkeit und Schaffenskraft der Kindesnatur nur verdorben werden. Die einzige Aufgabe des Dieners am Kind, wie man den Erzieher im Sinn einer solchen Auffassung nennen könnte, besteht dann darin, die Einflüsse einer verderbten Kultur fernzuhalten und alle Keime des unverbildeten Geisteslebens frei sich entfalten zu lassen. Rousseau und Tolstoi und all die kleineren Propheten, die das Evangelium der Selbständigkeit und Selbsttätigkeit des Kindes verkündigen, stehen dieser Form des idealistischen Optimismus nahe. Nicht ganz so unvereinbar mit den aufdringlichsten Erfahrungstatsachen, aber in ihren Zukunftshoffnungen nicht minder idealistisch und optimistisch ist die aus dem Glauben an die unbegrenzte Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen sich ergebende Lehre von der Allmacht der Erziehung. Man will es ja nicht geradezu leugnen, daß jedes Kind durch die Einflüsse der Vererbung von Geburt an eine gewisse Individualität besitzt, wodurch die Zahl der Bildungsmöglichkeiten eingeschränkt wird. Aber da man von den psychologischen Voraussetzungen dieser Lehre aus individuelle Verschiedenheiten nur darin zu finden vermag, daß die einen Menschen diese, die andern jene Art von Vor¬ stellungen leichter aufnehmen und behalten, so erscheinen die Schranken der Individualität, sofern sie überwunden werden sollen, keineswegs unüberwindlich. Wenn alle Prägung menschlicher Charaktere auf der Bildung des Vorstellungs¬ kreises beruht, so muß man doch, da schließlich in jedem Individuum, wenigstens in jedem Vollfinnigen, Vorstellungen von allen Dingen angeregt werden können, mit der nötigen Ausdauer überall zum Ziel gelangen. Ja selbst wer blind und taub geboren ist, dem fehlen nach dieser idealistischen Auffassung nur zwei Sinnespforten. Zwei Wege der Vorstellungsbildung sind dem Erzieher des Blind- und Taubgeborenen versperrt. Aber andere Wege stehen offen, und ein Ziel, das auf Umwegen erreichbar ist, ist doch nicht unerreichbar. Man vergißt nur, daß die Beschränktheit von Zeit und Kraft uns an das Ende eines allzu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/422>, abgerufen am 27.09.2024.