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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Idealismus und Realismus

Aber auch die Gleichsetzung vou Idealismus und Traumverlorenheit ermöglicht
eine gerade entgegengesetzte Wertschätzung. Der Mann des praktischen Lebens,
der es gelernt hat, Menschenwillen und Naturkräfte seinen Zwecken dienstbar zu
machen, verachtet den kallösen Idealisten. Der Dichter, der selbst bei der
Teilung der Erde zu kurz gekommen ist, preist das Geschick des olympischen
Gastes, dem die Einladung gilt: Willst du in meinem Himmel mit mir leben,
so oft du kommst, er soll dir offen sein.

Die Auffassung und Wertbeurteilung des Idealismus in: Alltagsleben
bedingt gegensätzliche Richtungen auf allen möglichen Kulturgebieten. Im künst¬
lerischen, sozialen, politischen Leben, in Kirche und Schule, in der Gestaltung
von Recht und Sittlichkeit treten idealistische und realistische Tendenzen in allen
möglichen Schattierungen und in der verschiedenartigsten Beleuchtung einander
gegenüber.

Der künstlerische Idealismus, wie ihn etwa unter den Dichtern Schiller,
unter den bildenden Künstlern Böcklin vertritt, zeigt die beiden charakteristischen
Züge einer gewissen Geringschätzung der Wirklichkeit und eines da und dort
hervortretenden Unvermögens, der Wirklichkeit in der Darstellung vollkommen
Herr zu werden. Der idealistische Künstler wählt seine Stoffe zumeist nicht
aus dem Bereich der gemeinen Wirklichkeit. Die Götter des Olymps, die Fabel¬
gestalten einer Phantasiewelt, die Helden der Sage oder zum mindesten sagen¬
umwobenen Personen der Geschichte, eine höhere Weltordnung voller Vernunft
und Gerechtigkeit, das Ideal selbst in seinem Gegensatz zum Leben -- das sind
die Gegenstände, die der idealistische Künstler darzustellen sich bemüht. Bild¬
schön, d. h. so schön wie im Unterschied von den Erscheinungen der Wirklichkeit
in der Regel nur die Geschöpfe idealisierender Phantasie sich darstellen, erhebend
und bezaubernd tritt das vollendete Kunstwerk dieser Art vor unsere Seele
und wer gern für eine Weile sich dem Alltagstreiben ganz entrücken läßt, der
wird eine solche Schöpfung für das Vollkommenste erklären, was die Welt
hervorzubringen vermag. Andere freilich, die auch im Kunstgenuß Menschen
bleiben wollen mit dem Bewußtsein der Zusammengehörigkeit von Licht und
Schatten und mit der Freude gerade an der Erdgeborenheit des Schönen und
Guten, werden auch das vollendete Meisterwerk idealistischer Kunst geringer
einschätzen als die Schöpfungen eines großen Realisten, eines Dichters wie Goethe
oder eines Bildners wie Michelangelo.

Gehen so die Vorurteile gegenüber dem künstlerischen Idealismus der
Stoffauswahl beträchtlich auseinander, so zeigt sich größere Übereinstimmung
in der Beurteilung des Idealismus der Stoffbehandlung. Daß in jenem
Unvermögen der Darstellung von Gestalten der Wirklichkeit, wie es auch bei den
größten idealistischen Künstlern gelegentlich hervortritt, nicht gerade ein Vorzug
zu entdecken ist, wird kaum jemand bestreiten. Wenn der Dichter statt Menschen
von Fleisch und Blut leblose Verkörperungen von Ideen, Gestalten, von des
Gedankens Blässe angekränkelt, auf die Bühne bringt, so ist das gewiß nicht


Idealismus und Realismus

Aber auch die Gleichsetzung vou Idealismus und Traumverlorenheit ermöglicht
eine gerade entgegengesetzte Wertschätzung. Der Mann des praktischen Lebens,
der es gelernt hat, Menschenwillen und Naturkräfte seinen Zwecken dienstbar zu
machen, verachtet den kallösen Idealisten. Der Dichter, der selbst bei der
Teilung der Erde zu kurz gekommen ist, preist das Geschick des olympischen
Gastes, dem die Einladung gilt: Willst du in meinem Himmel mit mir leben,
so oft du kommst, er soll dir offen sein.

Die Auffassung und Wertbeurteilung des Idealismus in: Alltagsleben
bedingt gegensätzliche Richtungen auf allen möglichen Kulturgebieten. Im künst¬
lerischen, sozialen, politischen Leben, in Kirche und Schule, in der Gestaltung
von Recht und Sittlichkeit treten idealistische und realistische Tendenzen in allen
möglichen Schattierungen und in der verschiedenartigsten Beleuchtung einander
gegenüber.

Der künstlerische Idealismus, wie ihn etwa unter den Dichtern Schiller,
unter den bildenden Künstlern Böcklin vertritt, zeigt die beiden charakteristischen
Züge einer gewissen Geringschätzung der Wirklichkeit und eines da und dort
hervortretenden Unvermögens, der Wirklichkeit in der Darstellung vollkommen
Herr zu werden. Der idealistische Künstler wählt seine Stoffe zumeist nicht
aus dem Bereich der gemeinen Wirklichkeit. Die Götter des Olymps, die Fabel¬
gestalten einer Phantasiewelt, die Helden der Sage oder zum mindesten sagen¬
umwobenen Personen der Geschichte, eine höhere Weltordnung voller Vernunft
und Gerechtigkeit, das Ideal selbst in seinem Gegensatz zum Leben — das sind
die Gegenstände, die der idealistische Künstler darzustellen sich bemüht. Bild¬
schön, d. h. so schön wie im Unterschied von den Erscheinungen der Wirklichkeit
in der Regel nur die Geschöpfe idealisierender Phantasie sich darstellen, erhebend
und bezaubernd tritt das vollendete Kunstwerk dieser Art vor unsere Seele
und wer gern für eine Weile sich dem Alltagstreiben ganz entrücken läßt, der
wird eine solche Schöpfung für das Vollkommenste erklären, was die Welt
hervorzubringen vermag. Andere freilich, die auch im Kunstgenuß Menschen
bleiben wollen mit dem Bewußtsein der Zusammengehörigkeit von Licht und
Schatten und mit der Freude gerade an der Erdgeborenheit des Schönen und
Guten, werden auch das vollendete Meisterwerk idealistischer Kunst geringer
einschätzen als die Schöpfungen eines großen Realisten, eines Dichters wie Goethe
oder eines Bildners wie Michelangelo.

Gehen so die Vorurteile gegenüber dem künstlerischen Idealismus der
Stoffauswahl beträchtlich auseinander, so zeigt sich größere Übereinstimmung
in der Beurteilung des Idealismus der Stoffbehandlung. Daß in jenem
Unvermögen der Darstellung von Gestalten der Wirklichkeit, wie es auch bei den
größten idealistischen Künstlern gelegentlich hervortritt, nicht gerade ein Vorzug
zu entdecken ist, wird kaum jemand bestreiten. Wenn der Dichter statt Menschen
von Fleisch und Blut leblose Verkörperungen von Ideen, Gestalten, von des
Gedankens Blässe angekränkelt, auf die Bühne bringt, so ist das gewiß nicht


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[0420] Idealismus und Realismus Aber auch die Gleichsetzung vou Idealismus und Traumverlorenheit ermöglicht eine gerade entgegengesetzte Wertschätzung. Der Mann des praktischen Lebens, der es gelernt hat, Menschenwillen und Naturkräfte seinen Zwecken dienstbar zu machen, verachtet den kallösen Idealisten. Der Dichter, der selbst bei der Teilung der Erde zu kurz gekommen ist, preist das Geschick des olympischen Gastes, dem die Einladung gilt: Willst du in meinem Himmel mit mir leben, so oft du kommst, er soll dir offen sein. Die Auffassung und Wertbeurteilung des Idealismus in: Alltagsleben bedingt gegensätzliche Richtungen auf allen möglichen Kulturgebieten. Im künst¬ lerischen, sozialen, politischen Leben, in Kirche und Schule, in der Gestaltung von Recht und Sittlichkeit treten idealistische und realistische Tendenzen in allen möglichen Schattierungen und in der verschiedenartigsten Beleuchtung einander gegenüber. Der künstlerische Idealismus, wie ihn etwa unter den Dichtern Schiller, unter den bildenden Künstlern Böcklin vertritt, zeigt die beiden charakteristischen Züge einer gewissen Geringschätzung der Wirklichkeit und eines da und dort hervortretenden Unvermögens, der Wirklichkeit in der Darstellung vollkommen Herr zu werden. Der idealistische Künstler wählt seine Stoffe zumeist nicht aus dem Bereich der gemeinen Wirklichkeit. Die Götter des Olymps, die Fabel¬ gestalten einer Phantasiewelt, die Helden der Sage oder zum mindesten sagen¬ umwobenen Personen der Geschichte, eine höhere Weltordnung voller Vernunft und Gerechtigkeit, das Ideal selbst in seinem Gegensatz zum Leben — das sind die Gegenstände, die der idealistische Künstler darzustellen sich bemüht. Bild¬ schön, d. h. so schön wie im Unterschied von den Erscheinungen der Wirklichkeit in der Regel nur die Geschöpfe idealisierender Phantasie sich darstellen, erhebend und bezaubernd tritt das vollendete Kunstwerk dieser Art vor unsere Seele und wer gern für eine Weile sich dem Alltagstreiben ganz entrücken läßt, der wird eine solche Schöpfung für das Vollkommenste erklären, was die Welt hervorzubringen vermag. Andere freilich, die auch im Kunstgenuß Menschen bleiben wollen mit dem Bewußtsein der Zusammengehörigkeit von Licht und Schatten und mit der Freude gerade an der Erdgeborenheit des Schönen und Guten, werden auch das vollendete Meisterwerk idealistischer Kunst geringer einschätzen als die Schöpfungen eines großen Realisten, eines Dichters wie Goethe oder eines Bildners wie Michelangelo. Gehen so die Vorurteile gegenüber dem künstlerischen Idealismus der Stoffauswahl beträchtlich auseinander, so zeigt sich größere Übereinstimmung in der Beurteilung des Idealismus der Stoffbehandlung. Daß in jenem Unvermögen der Darstellung von Gestalten der Wirklichkeit, wie es auch bei den größten idealistischen Künstlern gelegentlich hervortritt, nicht gerade ein Vorzug zu entdecken ist, wird kaum jemand bestreiten. Wenn der Dichter statt Menschen von Fleisch und Blut leblose Verkörperungen von Ideen, Gestalten, von des Gedankens Blässe angekränkelt, auf die Bühne bringt, so ist das gewiß nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/420>, abgerufen am 27.09.2024.