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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Schule und Zeitgeist

Literatur zu finden, der den antiken Unterricht ersetzen soll! aber ich
komme doch je länger desto mehr dazu zurück, daß der gebildete junge
Mann am Mittelmeer gelebt haben muß, wenn er dann historischen oder
theologisch-philosophischen Studien sich widmen will." In Österreich ist einer
der rührigsten und entschiedensten Verfechter des humanistischen Gymnasiums
der Sozialdemokrat Pernerstorfer. Daher schrieb denn auch der vorsichtig ab¬
wägende Münch in diesem Blatte 1911: "Die eindringende (nicht die flüchtige)
Beschäftigung mit den alten Sprachen und Literaturen im Mittelpunkte des
Bildimgsplanes hat nach der begründeten Überzeugung der wirklichen Sach¬
kundigen so sicheren Wert, daß der Verzicht darauf im höheren nationalen
Interesse nicht verantwortet werden könnte."

Nun wird aber heute von den Gegnern der Antike gerade das nationale
Interesse für die Eliminierung oder starke Beschränkung der alten Sprachen im
Schulunterrichte geltend gemacht. Wo bleibt da, sagen sie, in einem seiner
Kraft bewußten und mit seinen ureigensten Vorzügen zur Beherrschung der Gegen¬
wart gleichsam prädestinierten Volke die nationale Erziehung? Daß wir unseren
Schülern kein flancs Weltbürgertum anerziehen, sondern ihnen eine für ihr
Fortkommen im Vaterlande nötige und dem Wohle des Vaterlandes förderliche
nationale Bildung mitgeben, sie auch mit einer vorläufigen und großzügigen
Orientierung im Staatsorganismus entlassen müssen, ist ohne weiteres zuzugeben.
Die Geschichte spricht dagegen, daß sich die höhere Schule dieser Aufgabe bisher
nicht gewachsen gezeigt oder sich ihr entzogen hat. Noch zu keiner Zeit hat es
unserem Vaterlande an Persönlichkeiten gefehlt, an pflichttreuen Beamten,
Männern, die sich, auch unbeamtet und unbelohnt, mit Hingebung und Erfolg
dem öffentlichen Wohle widmeten; und wenn unsere gesetzgebenden Körperschaften
zu Zeiten ein wenig erbauliches Schauspiel darboten und sich manch tüchtige
Kraft aus Ekel vor einem öden Parteitreiben in die politische Arena hinabzu¬
steigen scheute, so hat sich doch im ganzen unsere Gesetzgebung in aufsteigender
Linie bewegt und marschiert in spezifisch modernen Forderungen an der Spitze
der zivilisierten Nationen, und ohne pharisäischen Hochmut dürfen wir bekennen,
daß es und unserem Vaterlande noch immer -- wenn auch ruckweise -- auf¬
wärts geht und trotz allem Jammern über "Schulelend", "Kläglichkeit des ganzen
Systems", "unerträgliche Notlage der deutschen Schule" sich deutsche Intelligenz
und deutsche Tatkraft die Erde zu erobern fortfahren. Von den Erfolgen eines
einem warmherzigen und begeisterungsfähigen Lehrer anvertrauten deutschen
und Geschichtsunterrichts -- trockene Präzeptoren sind hier am wenigsten am
Platze -- will ich nur andeutend reden. Dem Geschichtsunterricht mag man
auch die heut so ungestüm und durch ganze ac! Koa-Verbände geforderte staats¬
bürgerliche Unterweisung organisch oder zwanglos angliedern; als besonderer
Lehrgegenstand führte sie zu einer ihrem Zweck unangemessenen Breite, verleitete
zum Politisieren in der Schulstube, wohl gar zu politischem Seelenfang und
könnte eine bedenkliche politische Frühreife großziehen, die mit politischer Unreife


Grenzboten I 1912 60
Schule und Zeitgeist

Literatur zu finden, der den antiken Unterricht ersetzen soll! aber ich
komme doch je länger desto mehr dazu zurück, daß der gebildete junge
Mann am Mittelmeer gelebt haben muß, wenn er dann historischen oder
theologisch-philosophischen Studien sich widmen will." In Österreich ist einer
der rührigsten und entschiedensten Verfechter des humanistischen Gymnasiums
der Sozialdemokrat Pernerstorfer. Daher schrieb denn auch der vorsichtig ab¬
wägende Münch in diesem Blatte 1911: „Die eindringende (nicht die flüchtige)
Beschäftigung mit den alten Sprachen und Literaturen im Mittelpunkte des
Bildimgsplanes hat nach der begründeten Überzeugung der wirklichen Sach¬
kundigen so sicheren Wert, daß der Verzicht darauf im höheren nationalen
Interesse nicht verantwortet werden könnte."

Nun wird aber heute von den Gegnern der Antike gerade das nationale
Interesse für die Eliminierung oder starke Beschränkung der alten Sprachen im
Schulunterrichte geltend gemacht. Wo bleibt da, sagen sie, in einem seiner
Kraft bewußten und mit seinen ureigensten Vorzügen zur Beherrschung der Gegen¬
wart gleichsam prädestinierten Volke die nationale Erziehung? Daß wir unseren
Schülern kein flancs Weltbürgertum anerziehen, sondern ihnen eine für ihr
Fortkommen im Vaterlande nötige und dem Wohle des Vaterlandes förderliche
nationale Bildung mitgeben, sie auch mit einer vorläufigen und großzügigen
Orientierung im Staatsorganismus entlassen müssen, ist ohne weiteres zuzugeben.
Die Geschichte spricht dagegen, daß sich die höhere Schule dieser Aufgabe bisher
nicht gewachsen gezeigt oder sich ihr entzogen hat. Noch zu keiner Zeit hat es
unserem Vaterlande an Persönlichkeiten gefehlt, an pflichttreuen Beamten,
Männern, die sich, auch unbeamtet und unbelohnt, mit Hingebung und Erfolg
dem öffentlichen Wohle widmeten; und wenn unsere gesetzgebenden Körperschaften
zu Zeiten ein wenig erbauliches Schauspiel darboten und sich manch tüchtige
Kraft aus Ekel vor einem öden Parteitreiben in die politische Arena hinabzu¬
steigen scheute, so hat sich doch im ganzen unsere Gesetzgebung in aufsteigender
Linie bewegt und marschiert in spezifisch modernen Forderungen an der Spitze
der zivilisierten Nationen, und ohne pharisäischen Hochmut dürfen wir bekennen,
daß es und unserem Vaterlande noch immer — wenn auch ruckweise — auf¬
wärts geht und trotz allem Jammern über „Schulelend", „Kläglichkeit des ganzen
Systems", „unerträgliche Notlage der deutschen Schule" sich deutsche Intelligenz
und deutsche Tatkraft die Erde zu erobern fortfahren. Von den Erfolgen eines
einem warmherzigen und begeisterungsfähigen Lehrer anvertrauten deutschen
und Geschichtsunterrichts — trockene Präzeptoren sind hier am wenigsten am
Platze — will ich nur andeutend reden. Dem Geschichtsunterricht mag man
auch die heut so ungestüm und durch ganze ac! Koa-Verbände geforderte staats¬
bürgerliche Unterweisung organisch oder zwanglos angliedern; als besonderer
Lehrgegenstand führte sie zu einer ihrem Zweck unangemessenen Breite, verleitete
zum Politisieren in der Schulstube, wohl gar zu politischem Seelenfang und
könnte eine bedenkliche politische Frühreife großziehen, die mit politischer Unreife


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[0397] Schule und Zeitgeist Literatur zu finden, der den antiken Unterricht ersetzen soll! aber ich komme doch je länger desto mehr dazu zurück, daß der gebildete junge Mann am Mittelmeer gelebt haben muß, wenn er dann historischen oder theologisch-philosophischen Studien sich widmen will." In Österreich ist einer der rührigsten und entschiedensten Verfechter des humanistischen Gymnasiums der Sozialdemokrat Pernerstorfer. Daher schrieb denn auch der vorsichtig ab¬ wägende Münch in diesem Blatte 1911: „Die eindringende (nicht die flüchtige) Beschäftigung mit den alten Sprachen und Literaturen im Mittelpunkte des Bildimgsplanes hat nach der begründeten Überzeugung der wirklichen Sach¬ kundigen so sicheren Wert, daß der Verzicht darauf im höheren nationalen Interesse nicht verantwortet werden könnte." Nun wird aber heute von den Gegnern der Antike gerade das nationale Interesse für die Eliminierung oder starke Beschränkung der alten Sprachen im Schulunterrichte geltend gemacht. Wo bleibt da, sagen sie, in einem seiner Kraft bewußten und mit seinen ureigensten Vorzügen zur Beherrschung der Gegen¬ wart gleichsam prädestinierten Volke die nationale Erziehung? Daß wir unseren Schülern kein flancs Weltbürgertum anerziehen, sondern ihnen eine für ihr Fortkommen im Vaterlande nötige und dem Wohle des Vaterlandes förderliche nationale Bildung mitgeben, sie auch mit einer vorläufigen und großzügigen Orientierung im Staatsorganismus entlassen müssen, ist ohne weiteres zuzugeben. Die Geschichte spricht dagegen, daß sich die höhere Schule dieser Aufgabe bisher nicht gewachsen gezeigt oder sich ihr entzogen hat. Noch zu keiner Zeit hat es unserem Vaterlande an Persönlichkeiten gefehlt, an pflichttreuen Beamten, Männern, die sich, auch unbeamtet und unbelohnt, mit Hingebung und Erfolg dem öffentlichen Wohle widmeten; und wenn unsere gesetzgebenden Körperschaften zu Zeiten ein wenig erbauliches Schauspiel darboten und sich manch tüchtige Kraft aus Ekel vor einem öden Parteitreiben in die politische Arena hinabzu¬ steigen scheute, so hat sich doch im ganzen unsere Gesetzgebung in aufsteigender Linie bewegt und marschiert in spezifisch modernen Forderungen an der Spitze der zivilisierten Nationen, und ohne pharisäischen Hochmut dürfen wir bekennen, daß es und unserem Vaterlande noch immer — wenn auch ruckweise — auf¬ wärts geht und trotz allem Jammern über „Schulelend", „Kläglichkeit des ganzen Systems", „unerträgliche Notlage der deutschen Schule" sich deutsche Intelligenz und deutsche Tatkraft die Erde zu erobern fortfahren. Von den Erfolgen eines einem warmherzigen und begeisterungsfähigen Lehrer anvertrauten deutschen und Geschichtsunterrichts — trockene Präzeptoren sind hier am wenigsten am Platze — will ich nur andeutend reden. Dem Geschichtsunterricht mag man auch die heut so ungestüm und durch ganze ac! Koa-Verbände geforderte staats¬ bürgerliche Unterweisung organisch oder zwanglos angliedern; als besonderer Lehrgegenstand führte sie zu einer ihrem Zweck unangemessenen Breite, verleitete zum Politisieren in der Schulstube, wohl gar zu politischem Seelenfang und könnte eine bedenkliche politische Frühreife großziehen, die mit politischer Unreife Grenzboten I 1912 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/397>, abgerufen am 27.09.2024.