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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Prophet oder Künstler?

Das oben bezeichnete allgemeine Problem des Romans, der Grundgedanke,
Spezialisierte sich für Hauptmann bei der künstlerischen Durchführung im einzelnen
in mannigfaltiger Art.

Es handelte sich zunächst für ihn um die Darstellung des Emanuel Quint,
des Heilandes von Giersdorf, des "Narren in Christo". Ich weiß nicht, ob
das Auftreten dieses Narren zu Anfang der neunziger Jahre des vergangenen
Jahrhunderts eine historische Tatsache ist. Das ist auch von geringer Bedeutung,
weil die Wirklichkeit selbst Gerhart Hauptmann nichts weiter als vielleicht die
äußere Anregung gegeben hat. Im übrigen gestaltet der Künstler bewußt
auch schon in Äußerlichkeiten das Leben des Narren in Christo genau nach dem
Vorbilde des biblischen Christus aus, ja ich sage kühn, er erzählt uns das Leben
des biblischen Christus in modernem Gewände. Emanuel Quint ist der Stief¬
sohn eines Tischlers, von seiner Mutter aus einem Fehltritt in die Ehe gebracht,
er wird von Nathanael Schwarz -- Johannes -- getauft, er macht im Gebirge
und in der Einsamkeit eine "Versuchung", d. h. eine Periode inneren Zweifels,
inneren Kampfes und innerer Entwicklung durch wie Jesus in der Wüste, und
so geht es weiter. Es ist nicht nötig, zu allen übrigen Gestalten des Romans
alle die gleichen und parallelen Erscheinungen aufzuzählen, die sich uns unwill¬
kürlich aus der Bibel her aufdrängen: die beiden Brüder Scharf mit den ersten
Jüngern Christi Simon und Andreas zu vergleichen, die Schwestern Krause mit
den Schwestern des Lazarus, den böhmischen Joseph mit Judas dem Verräter,
die arme Landbevölkerung Schlesiens mit der Galiläas, die Weber mit den
Fischern, Breslau mit Jerusalem und seinen Schriftgelehrten und Pharisäern.

Man könnte sich höchstens fragen, warum Hauptmann, da er doch eine so
genaue Übertragung des Evangeliums und seiner Gestalten ins Moderne vor¬
genommen hat, nicht lieber an das Evangelium selbst heranging und die dort
überlieferten Tatsachen in eine künstlerische Ordnung zu bringen suchte, so wie
es etwa Frenssen in "Hilligenlei" getan hat.

Der Grund dafür liegt einmal darin, daß es Hauptmann gar nicht darauf
ankam, jene erste Erscheinung Christi als eine einmalige und zufällige, seine
Persönlichkeit als eine individuale zu schildern, sondern, wie oben dargelegt
wurde, darauf, sein Schicksal als typisch für jeden Fall hinzustellen, in dem
seine Erscheinung sich wiederholt, wo die von ihm geforderte Nachfolge erst
verwirklicht wird. Scharf gedacht will er also dadurch auf einen inneren
Widerspruch in Christi Lehre hinweisen. Das ist ein außerästhetischer, ein
außerkünstlerischer Grund.

Es besteht aber noch ein zweiter, künstlerischer Grund für die Modernisierung
des Christusschicksals. Seine genaue Bekanntschaft mit der schlesischen Heimat,
ihrem Volke und dessen Denken ermöglichte es dem Künstler, jenes typische
Christusschicksal in ein Gewand zu kleiden, das uns gerade durch seinen modernen
Charakter und seine Realistik die unmittelbare Illusion der Wirklichkeit, für jenes
typische Christusschicksal den Wahrheitsbeweis bringt. Für die Erzeugung der


Prophet oder Künstler?

Das oben bezeichnete allgemeine Problem des Romans, der Grundgedanke,
Spezialisierte sich für Hauptmann bei der künstlerischen Durchführung im einzelnen
in mannigfaltiger Art.

Es handelte sich zunächst für ihn um die Darstellung des Emanuel Quint,
des Heilandes von Giersdorf, des „Narren in Christo". Ich weiß nicht, ob
das Auftreten dieses Narren zu Anfang der neunziger Jahre des vergangenen
Jahrhunderts eine historische Tatsache ist. Das ist auch von geringer Bedeutung,
weil die Wirklichkeit selbst Gerhart Hauptmann nichts weiter als vielleicht die
äußere Anregung gegeben hat. Im übrigen gestaltet der Künstler bewußt
auch schon in Äußerlichkeiten das Leben des Narren in Christo genau nach dem
Vorbilde des biblischen Christus aus, ja ich sage kühn, er erzählt uns das Leben
des biblischen Christus in modernem Gewände. Emanuel Quint ist der Stief¬
sohn eines Tischlers, von seiner Mutter aus einem Fehltritt in die Ehe gebracht,
er wird von Nathanael Schwarz — Johannes — getauft, er macht im Gebirge
und in der Einsamkeit eine „Versuchung", d. h. eine Periode inneren Zweifels,
inneren Kampfes und innerer Entwicklung durch wie Jesus in der Wüste, und
so geht es weiter. Es ist nicht nötig, zu allen übrigen Gestalten des Romans
alle die gleichen und parallelen Erscheinungen aufzuzählen, die sich uns unwill¬
kürlich aus der Bibel her aufdrängen: die beiden Brüder Scharf mit den ersten
Jüngern Christi Simon und Andreas zu vergleichen, die Schwestern Krause mit
den Schwestern des Lazarus, den böhmischen Joseph mit Judas dem Verräter,
die arme Landbevölkerung Schlesiens mit der Galiläas, die Weber mit den
Fischern, Breslau mit Jerusalem und seinen Schriftgelehrten und Pharisäern.

Man könnte sich höchstens fragen, warum Hauptmann, da er doch eine so
genaue Übertragung des Evangeliums und seiner Gestalten ins Moderne vor¬
genommen hat, nicht lieber an das Evangelium selbst heranging und die dort
überlieferten Tatsachen in eine künstlerische Ordnung zu bringen suchte, so wie
es etwa Frenssen in „Hilligenlei" getan hat.

Der Grund dafür liegt einmal darin, daß es Hauptmann gar nicht darauf
ankam, jene erste Erscheinung Christi als eine einmalige und zufällige, seine
Persönlichkeit als eine individuale zu schildern, sondern, wie oben dargelegt
wurde, darauf, sein Schicksal als typisch für jeden Fall hinzustellen, in dem
seine Erscheinung sich wiederholt, wo die von ihm geforderte Nachfolge erst
verwirklicht wird. Scharf gedacht will er also dadurch auf einen inneren
Widerspruch in Christi Lehre hinweisen. Das ist ein außerästhetischer, ein
außerkünstlerischer Grund.

Es besteht aber noch ein zweiter, künstlerischer Grund für die Modernisierung
des Christusschicksals. Seine genaue Bekanntschaft mit der schlesischen Heimat,
ihrem Volke und dessen Denken ermöglichte es dem Künstler, jenes typische
Christusschicksal in ein Gewand zu kleiden, das uns gerade durch seinen modernen
Charakter und seine Realistik die unmittelbare Illusion der Wirklichkeit, für jenes
typische Christusschicksal den Wahrheitsbeweis bringt. Für die Erzeugung der


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[0382] Prophet oder Künstler? Das oben bezeichnete allgemeine Problem des Romans, der Grundgedanke, Spezialisierte sich für Hauptmann bei der künstlerischen Durchführung im einzelnen in mannigfaltiger Art. Es handelte sich zunächst für ihn um die Darstellung des Emanuel Quint, des Heilandes von Giersdorf, des „Narren in Christo". Ich weiß nicht, ob das Auftreten dieses Narren zu Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine historische Tatsache ist. Das ist auch von geringer Bedeutung, weil die Wirklichkeit selbst Gerhart Hauptmann nichts weiter als vielleicht die äußere Anregung gegeben hat. Im übrigen gestaltet der Künstler bewußt auch schon in Äußerlichkeiten das Leben des Narren in Christo genau nach dem Vorbilde des biblischen Christus aus, ja ich sage kühn, er erzählt uns das Leben des biblischen Christus in modernem Gewände. Emanuel Quint ist der Stief¬ sohn eines Tischlers, von seiner Mutter aus einem Fehltritt in die Ehe gebracht, er wird von Nathanael Schwarz — Johannes — getauft, er macht im Gebirge und in der Einsamkeit eine „Versuchung", d. h. eine Periode inneren Zweifels, inneren Kampfes und innerer Entwicklung durch wie Jesus in der Wüste, und so geht es weiter. Es ist nicht nötig, zu allen übrigen Gestalten des Romans alle die gleichen und parallelen Erscheinungen aufzuzählen, die sich uns unwill¬ kürlich aus der Bibel her aufdrängen: die beiden Brüder Scharf mit den ersten Jüngern Christi Simon und Andreas zu vergleichen, die Schwestern Krause mit den Schwestern des Lazarus, den böhmischen Joseph mit Judas dem Verräter, die arme Landbevölkerung Schlesiens mit der Galiläas, die Weber mit den Fischern, Breslau mit Jerusalem und seinen Schriftgelehrten und Pharisäern. Man könnte sich höchstens fragen, warum Hauptmann, da er doch eine so genaue Übertragung des Evangeliums und seiner Gestalten ins Moderne vor¬ genommen hat, nicht lieber an das Evangelium selbst heranging und die dort überlieferten Tatsachen in eine künstlerische Ordnung zu bringen suchte, so wie es etwa Frenssen in „Hilligenlei" getan hat. Der Grund dafür liegt einmal darin, daß es Hauptmann gar nicht darauf ankam, jene erste Erscheinung Christi als eine einmalige und zufällige, seine Persönlichkeit als eine individuale zu schildern, sondern, wie oben dargelegt wurde, darauf, sein Schicksal als typisch für jeden Fall hinzustellen, in dem seine Erscheinung sich wiederholt, wo die von ihm geforderte Nachfolge erst verwirklicht wird. Scharf gedacht will er also dadurch auf einen inneren Widerspruch in Christi Lehre hinweisen. Das ist ein außerästhetischer, ein außerkünstlerischer Grund. Es besteht aber noch ein zweiter, künstlerischer Grund für die Modernisierung des Christusschicksals. Seine genaue Bekanntschaft mit der schlesischen Heimat, ihrem Volke und dessen Denken ermöglichte es dem Künstler, jenes typische Christusschicksal in ein Gewand zu kleiden, das uns gerade durch seinen modernen Charakter und seine Realistik die unmittelbare Illusion der Wirklichkeit, für jenes typische Christusschicksal den Wahrheitsbeweis bringt. Für die Erzeugung der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/382>, abgerufen am 20.10.2024.