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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die deutsche Iveltpolitik und England

druck kommende Gesinnung schätzen; den Vorschlag selbst werden wir uns reiflich
zu überlegen haben. Die Saturdan Review, von der der Vorschlag ausging,
und die Blätter, die ihn befürworteten, haben schließlich nicht das Verfügungs¬
recht über Angola und Mozambique. Und wir sollten nicht wieder in den
Fehler verfallen, neue weltpolitische Ziele in derselben kurzen Zeitspanne zu
improvisieren, die dazu ausreicht, einen, wenn auch noch so schönen Leitartikel
zu schreiben. Wir müssen uns darüber ernsthaft Rechenschaft geben, was wir
unter den obwaltenden Umständen erreichen können. Diese Umstände aber
hängen zum guten Teile von unseren Beziehungen zu den anderen Mächten
ab, und, was unsere Kolonial- und Weltpolitik betrifft, ganz wesentlich von
unseren Beziehungen zu England. Unsere Weltpolitik und unsere Beziehungen
zu England sind in der Tat eng miteinander verflochten. In der europäischen
Politik hat uns die Balkankrisis gelehrt, daß England gegen uns wenig vermag;
anderseits haben wir in dem letzten Sommer gesehen, daß es unserer kolonialen
Expansion große Widerstände in den Weg legen könnte. Wir werden aber im
Einvernehmen mit England weltpolitisch unzweifelhaft mehr erreichen als gegen
England. Nun haben Sir Edward Grey und die öffentliche Meinung Englands
deutlich genug zu erkennen gegeben, daß England uns nicht weiter entgegen¬
arbeiten will, sofern unsere Expansion nicht in Gegensatz zu den materiellen
britischen Interessen gerät.

Nun gibt es bei uns Politiker, die einen Ausgleich mit England für
unmöglich halten. Dieser Standpunkt ist doktrinär, er entbehrt aller real¬
politischen Grundlagen, er beruht vornehmlich auf Gefühlsgründen. Nur der
praktische Versuch kann uns lehren, ob eine Annäherung -- unter Bedingungen,
die uns zufrieden stellen -- möglich ist oder nicht. Der Versuch ist noch nicht
gemacht. Sollen wir nun und gar im Zeitalter, in dem auf allen Gebieten
der Satz herrscht: der sicherste Weg zum Beweise ist das Experiment, nur aus
Gefühlsrücksichten von einem Versuch Abstand nehmen? Sollen wir den herr¬
schenden Zustand der Verbitterung und Entfremdung mit vollen: Bewußtsein
und in voller Absicht erhalten? Wir meinen: der Versuch könnte nicht schaden.
Sollten wir uns, aller Erwartung zuwider, getäuscht sehen, sollte England sich
in der Tat unseren Zielen entgegenstemmen und uns unseren Platz an der
Sonne nicht gönnen, so wäre immer noch Zeit übrig, die Konsequenzen aus
solcher Erkenntnis zu ziehen.

Eine andere Gruppe von Politikern würde eine Besserung der Beziehungen
von Herzen gern sehen, wenn sie möglich wäre, aber sie haben Bedenken wegen
des Ehrenpunktes. Nicht wir dürften England zuerst, sondern England müsse
uns zuerst die Hand reichen. Diese Frage ist nun wohl durch den Besuch
Lord Haldanes als erledigt anzusehen. Eine ganz seltsame Form nimmt aber
die Ehrenfrage bei denen an, die die Theorie aufstellen, daß jede Verständigung
so lange unmöglich sei, als England nicht "unsere Gleichberechtigung anerkannt
hätte". Man liest das nicht so ganz selten, und es muß also wohl einer


Die deutsche Iveltpolitik und England

druck kommende Gesinnung schätzen; den Vorschlag selbst werden wir uns reiflich
zu überlegen haben. Die Saturdan Review, von der der Vorschlag ausging,
und die Blätter, die ihn befürworteten, haben schließlich nicht das Verfügungs¬
recht über Angola und Mozambique. Und wir sollten nicht wieder in den
Fehler verfallen, neue weltpolitische Ziele in derselben kurzen Zeitspanne zu
improvisieren, die dazu ausreicht, einen, wenn auch noch so schönen Leitartikel
zu schreiben. Wir müssen uns darüber ernsthaft Rechenschaft geben, was wir
unter den obwaltenden Umständen erreichen können. Diese Umstände aber
hängen zum guten Teile von unseren Beziehungen zu den anderen Mächten
ab, und, was unsere Kolonial- und Weltpolitik betrifft, ganz wesentlich von
unseren Beziehungen zu England. Unsere Weltpolitik und unsere Beziehungen
zu England sind in der Tat eng miteinander verflochten. In der europäischen
Politik hat uns die Balkankrisis gelehrt, daß England gegen uns wenig vermag;
anderseits haben wir in dem letzten Sommer gesehen, daß es unserer kolonialen
Expansion große Widerstände in den Weg legen könnte. Wir werden aber im
Einvernehmen mit England weltpolitisch unzweifelhaft mehr erreichen als gegen
England. Nun haben Sir Edward Grey und die öffentliche Meinung Englands
deutlich genug zu erkennen gegeben, daß England uns nicht weiter entgegen¬
arbeiten will, sofern unsere Expansion nicht in Gegensatz zu den materiellen
britischen Interessen gerät.

Nun gibt es bei uns Politiker, die einen Ausgleich mit England für
unmöglich halten. Dieser Standpunkt ist doktrinär, er entbehrt aller real¬
politischen Grundlagen, er beruht vornehmlich auf Gefühlsgründen. Nur der
praktische Versuch kann uns lehren, ob eine Annäherung — unter Bedingungen,
die uns zufrieden stellen — möglich ist oder nicht. Der Versuch ist noch nicht
gemacht. Sollen wir nun und gar im Zeitalter, in dem auf allen Gebieten
der Satz herrscht: der sicherste Weg zum Beweise ist das Experiment, nur aus
Gefühlsrücksichten von einem Versuch Abstand nehmen? Sollen wir den herr¬
schenden Zustand der Verbitterung und Entfremdung mit vollen: Bewußtsein
und in voller Absicht erhalten? Wir meinen: der Versuch könnte nicht schaden.
Sollten wir uns, aller Erwartung zuwider, getäuscht sehen, sollte England sich
in der Tat unseren Zielen entgegenstemmen und uns unseren Platz an der
Sonne nicht gönnen, so wäre immer noch Zeit übrig, die Konsequenzen aus
solcher Erkenntnis zu ziehen.

Eine andere Gruppe von Politikern würde eine Besserung der Beziehungen
von Herzen gern sehen, wenn sie möglich wäre, aber sie haben Bedenken wegen
des Ehrenpunktes. Nicht wir dürften England zuerst, sondern England müsse
uns zuerst die Hand reichen. Diese Frage ist nun wohl durch den Besuch
Lord Haldanes als erledigt anzusehen. Eine ganz seltsame Form nimmt aber
die Ehrenfrage bei denen an, die die Theorie aufstellen, daß jede Verständigung
so lange unmöglich sei, als England nicht „unsere Gleichberechtigung anerkannt
hätte". Man liest das nicht so ganz selten, und es muß also wohl einer


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[0368] Die deutsche Iveltpolitik und England druck kommende Gesinnung schätzen; den Vorschlag selbst werden wir uns reiflich zu überlegen haben. Die Saturdan Review, von der der Vorschlag ausging, und die Blätter, die ihn befürworteten, haben schließlich nicht das Verfügungs¬ recht über Angola und Mozambique. Und wir sollten nicht wieder in den Fehler verfallen, neue weltpolitische Ziele in derselben kurzen Zeitspanne zu improvisieren, die dazu ausreicht, einen, wenn auch noch so schönen Leitartikel zu schreiben. Wir müssen uns darüber ernsthaft Rechenschaft geben, was wir unter den obwaltenden Umständen erreichen können. Diese Umstände aber hängen zum guten Teile von unseren Beziehungen zu den anderen Mächten ab, und, was unsere Kolonial- und Weltpolitik betrifft, ganz wesentlich von unseren Beziehungen zu England. Unsere Weltpolitik und unsere Beziehungen zu England sind in der Tat eng miteinander verflochten. In der europäischen Politik hat uns die Balkankrisis gelehrt, daß England gegen uns wenig vermag; anderseits haben wir in dem letzten Sommer gesehen, daß es unserer kolonialen Expansion große Widerstände in den Weg legen könnte. Wir werden aber im Einvernehmen mit England weltpolitisch unzweifelhaft mehr erreichen als gegen England. Nun haben Sir Edward Grey und die öffentliche Meinung Englands deutlich genug zu erkennen gegeben, daß England uns nicht weiter entgegen¬ arbeiten will, sofern unsere Expansion nicht in Gegensatz zu den materiellen britischen Interessen gerät. Nun gibt es bei uns Politiker, die einen Ausgleich mit England für unmöglich halten. Dieser Standpunkt ist doktrinär, er entbehrt aller real¬ politischen Grundlagen, er beruht vornehmlich auf Gefühlsgründen. Nur der praktische Versuch kann uns lehren, ob eine Annäherung — unter Bedingungen, die uns zufrieden stellen — möglich ist oder nicht. Der Versuch ist noch nicht gemacht. Sollen wir nun und gar im Zeitalter, in dem auf allen Gebieten der Satz herrscht: der sicherste Weg zum Beweise ist das Experiment, nur aus Gefühlsrücksichten von einem Versuch Abstand nehmen? Sollen wir den herr¬ schenden Zustand der Verbitterung und Entfremdung mit vollen: Bewußtsein und in voller Absicht erhalten? Wir meinen: der Versuch könnte nicht schaden. Sollten wir uns, aller Erwartung zuwider, getäuscht sehen, sollte England sich in der Tat unseren Zielen entgegenstemmen und uns unseren Platz an der Sonne nicht gönnen, so wäre immer noch Zeit übrig, die Konsequenzen aus solcher Erkenntnis zu ziehen. Eine andere Gruppe von Politikern würde eine Besserung der Beziehungen von Herzen gern sehen, wenn sie möglich wäre, aber sie haben Bedenken wegen des Ehrenpunktes. Nicht wir dürften England zuerst, sondern England müsse uns zuerst die Hand reichen. Diese Frage ist nun wohl durch den Besuch Lord Haldanes als erledigt anzusehen. Eine ganz seltsame Form nimmt aber die Ehrenfrage bei denen an, die die Theorie aufstellen, daß jede Verständigung so lange unmöglich sei, als England nicht „unsere Gleichberechtigung anerkannt hätte". Man liest das nicht so ganz selten, und es muß also wohl einer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/368>, abgerufen am 27.09.2024.