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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die deutsche Iveltpolitik und England

eine deutlichere Vorstellung von den Zielen und der Richtung der deutschen
Expansionspolitik. Sie sahen, daß die erste namhafte koloniale Erwerbung, die
Deutschland seit Bismarck machte, weder in Holland oder Belgien, noch in
Vorderasien, noch gar in Gebieten des britischen Reiches selbst stattfand, sondern
in einem Teile Afrikas, der sich außerhalb des britischen Jnteressenkreises befindet.
Alsbald zogen sie den Schluß, daß auch die künftige Weltpolitik Deutschlands
eine afrikanische Richtung habe. Als politische Realisten, wie die Engländer es
sind, fragen sie sich nun, ob und wieweit die deutschen Ziele mit den Interessen
ihres eigenen Reiches in Einklang gebracht werden können. Schon am
27. November beantwortete Sir Edward Grey die Frage teilweise, indem er in
einer Rede ausführte, England beabsichtige keine weiteren Erwerbungen in
Zentralafrika und sollte Deutschland dort nicht in den Weg treten. Englische
Zeitungen sind in letzter Zeit weiter gegangen und haben die Frage der portu¬
giesischen Kolonien mit allen Einzelheiten untersucht. Dann hat vor nicht langer
Zeit ein Kabinettsminister, und zwar gerade Herr Llond George, das Wort
ergriffen, um für bessere Beziehungen zwischen beiden Ländern einzutreten, und
eine Woche darauf reiste schließlich Lord Haldane nach Berlin.




Die Frage ist nun, wie wir uns unserseits zu England stellen wollen.
Sie berührt nicht allein unser Verhältnis zu England. Wir müssen sie darum
weiter fassen. Sie lautet allgemein: Wo liegen unsere Ziele -- unsere welt-
und kolonialpolitischen Ziele? Die deutsche Nation muß sich darüber klar werden.
Sie war sich nicht darüber klar, als im vorigen Sommer die Marokkofrage in
Nuß kam. Das Ziel der Erwerbung eines Teiles von Marokko war eine
Improvisation unverantwortlicher Politiker, und aus Mangel an Vorbereitung
des politischen Denkens ist die noch immer andauernde Erregung und Verbitterung
w ihrer großen Schärfe möglich geworden. Heutzutage aber kann keine Regierung,
und wäre sie noch so stark, ein politisches Ziel erfolgreich verfolgen, wenn sie die
Nation nicht hinter sich hat.

Wir haben jahrein und jahraus von Weltpolitik gesprochen und geschrieben,
aber immer in einer allgemeinen, vagen Weise, ohne genau zu überlegen, was
wir erreichen könnten, und ohne zu wissen, was wir erstreben müßten. Niemand
wird mit Bestimmtheit sagen können, was die deutsche Nation in den letzten
Zwölf oder fünfzehn Jahren weltpolitisch gewollt, welche positiven Ziele sie sich
gesetzt hatte. Der eine wollte dies und der andere jenes, ohne auch nur kon¬
sequent daran festzuhalten; die Nation als solche hatte keine bestimmten Ziele,
und daher auch keinen entschlossenen Willen. Diesen Grundfehler gilt es in
Zukunft zu vermeiden. Wir müssen wissen, was wir wollen -- dann
werden wir es auch erreichen!

Englische Zeitungen haben uus einen Teil der portugiesischen Kolonien
sozusagen auf dem Präsentierbrett angeboten. Wir sollten die hierin zum Aus-


Die deutsche Iveltpolitik und England

eine deutlichere Vorstellung von den Zielen und der Richtung der deutschen
Expansionspolitik. Sie sahen, daß die erste namhafte koloniale Erwerbung, die
Deutschland seit Bismarck machte, weder in Holland oder Belgien, noch in
Vorderasien, noch gar in Gebieten des britischen Reiches selbst stattfand, sondern
in einem Teile Afrikas, der sich außerhalb des britischen Jnteressenkreises befindet.
Alsbald zogen sie den Schluß, daß auch die künftige Weltpolitik Deutschlands
eine afrikanische Richtung habe. Als politische Realisten, wie die Engländer es
sind, fragen sie sich nun, ob und wieweit die deutschen Ziele mit den Interessen
ihres eigenen Reiches in Einklang gebracht werden können. Schon am
27. November beantwortete Sir Edward Grey die Frage teilweise, indem er in
einer Rede ausführte, England beabsichtige keine weiteren Erwerbungen in
Zentralafrika und sollte Deutschland dort nicht in den Weg treten. Englische
Zeitungen sind in letzter Zeit weiter gegangen und haben die Frage der portu¬
giesischen Kolonien mit allen Einzelheiten untersucht. Dann hat vor nicht langer
Zeit ein Kabinettsminister, und zwar gerade Herr Llond George, das Wort
ergriffen, um für bessere Beziehungen zwischen beiden Ländern einzutreten, und
eine Woche darauf reiste schließlich Lord Haldane nach Berlin.




Die Frage ist nun, wie wir uns unserseits zu England stellen wollen.
Sie berührt nicht allein unser Verhältnis zu England. Wir müssen sie darum
weiter fassen. Sie lautet allgemein: Wo liegen unsere Ziele — unsere welt-
und kolonialpolitischen Ziele? Die deutsche Nation muß sich darüber klar werden.
Sie war sich nicht darüber klar, als im vorigen Sommer die Marokkofrage in
Nuß kam. Das Ziel der Erwerbung eines Teiles von Marokko war eine
Improvisation unverantwortlicher Politiker, und aus Mangel an Vorbereitung
des politischen Denkens ist die noch immer andauernde Erregung und Verbitterung
w ihrer großen Schärfe möglich geworden. Heutzutage aber kann keine Regierung,
und wäre sie noch so stark, ein politisches Ziel erfolgreich verfolgen, wenn sie die
Nation nicht hinter sich hat.

Wir haben jahrein und jahraus von Weltpolitik gesprochen und geschrieben,
aber immer in einer allgemeinen, vagen Weise, ohne genau zu überlegen, was
wir erreichen könnten, und ohne zu wissen, was wir erstreben müßten. Niemand
wird mit Bestimmtheit sagen können, was die deutsche Nation in den letzten
Zwölf oder fünfzehn Jahren weltpolitisch gewollt, welche positiven Ziele sie sich
gesetzt hatte. Der eine wollte dies und der andere jenes, ohne auch nur kon¬
sequent daran festzuhalten; die Nation als solche hatte keine bestimmten Ziele,
und daher auch keinen entschlossenen Willen. Diesen Grundfehler gilt es in
Zukunft zu vermeiden. Wir müssen wissen, was wir wollen — dann
werden wir es auch erreichen!

Englische Zeitungen haben uus einen Teil der portugiesischen Kolonien
sozusagen auf dem Präsentierbrett angeboten. Wir sollten die hierin zum Aus-


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[0367] Die deutsche Iveltpolitik und England eine deutlichere Vorstellung von den Zielen und der Richtung der deutschen Expansionspolitik. Sie sahen, daß die erste namhafte koloniale Erwerbung, die Deutschland seit Bismarck machte, weder in Holland oder Belgien, noch in Vorderasien, noch gar in Gebieten des britischen Reiches selbst stattfand, sondern in einem Teile Afrikas, der sich außerhalb des britischen Jnteressenkreises befindet. Alsbald zogen sie den Schluß, daß auch die künftige Weltpolitik Deutschlands eine afrikanische Richtung habe. Als politische Realisten, wie die Engländer es sind, fragen sie sich nun, ob und wieweit die deutschen Ziele mit den Interessen ihres eigenen Reiches in Einklang gebracht werden können. Schon am 27. November beantwortete Sir Edward Grey die Frage teilweise, indem er in einer Rede ausführte, England beabsichtige keine weiteren Erwerbungen in Zentralafrika und sollte Deutschland dort nicht in den Weg treten. Englische Zeitungen sind in letzter Zeit weiter gegangen und haben die Frage der portu¬ giesischen Kolonien mit allen Einzelheiten untersucht. Dann hat vor nicht langer Zeit ein Kabinettsminister, und zwar gerade Herr Llond George, das Wort ergriffen, um für bessere Beziehungen zwischen beiden Ländern einzutreten, und eine Woche darauf reiste schließlich Lord Haldane nach Berlin. Die Frage ist nun, wie wir uns unserseits zu England stellen wollen. Sie berührt nicht allein unser Verhältnis zu England. Wir müssen sie darum weiter fassen. Sie lautet allgemein: Wo liegen unsere Ziele — unsere welt- und kolonialpolitischen Ziele? Die deutsche Nation muß sich darüber klar werden. Sie war sich nicht darüber klar, als im vorigen Sommer die Marokkofrage in Nuß kam. Das Ziel der Erwerbung eines Teiles von Marokko war eine Improvisation unverantwortlicher Politiker, und aus Mangel an Vorbereitung des politischen Denkens ist die noch immer andauernde Erregung und Verbitterung w ihrer großen Schärfe möglich geworden. Heutzutage aber kann keine Regierung, und wäre sie noch so stark, ein politisches Ziel erfolgreich verfolgen, wenn sie die Nation nicht hinter sich hat. Wir haben jahrein und jahraus von Weltpolitik gesprochen und geschrieben, aber immer in einer allgemeinen, vagen Weise, ohne genau zu überlegen, was wir erreichen könnten, und ohne zu wissen, was wir erstreben müßten. Niemand wird mit Bestimmtheit sagen können, was die deutsche Nation in den letzten Zwölf oder fünfzehn Jahren weltpolitisch gewollt, welche positiven Ziele sie sich gesetzt hatte. Der eine wollte dies und der andere jenes, ohne auch nur kon¬ sequent daran festzuhalten; die Nation als solche hatte keine bestimmten Ziele, und daher auch keinen entschlossenen Willen. Diesen Grundfehler gilt es in Zukunft zu vermeiden. Wir müssen wissen, was wir wollen — dann werden wir es auch erreichen! Englische Zeitungen haben uus einen Teil der portugiesischen Kolonien sozusagen auf dem Präsentierbrett angeboten. Wir sollten die hierin zum Aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/367>, abgerufen am 20.10.2024.