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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die deutsche Weltpolitik und England

im Interesse besserer Beziehungen zu Deutschland eröffnet hat, so braucht sie die
Arbeit auch nicht mehr ganz von vorn zu beginnen. Der Umschwung der
Stimmung hat bereits ohne ihr Zutun in Kreisen eingesetzt, die man früher einer
besseren Einsicht kaum für zugänglich hielt. Recht bemerkenswert ist die veränderte
Haltung der Presse, insbesondere der unionistischen Presse. Mit Ausnahme der
Times sind fast alle unionistischen Blätter von Bedeutung in den letzten Wochen
für eine Verständigung mit Deutschland eingetreten. Es ist ferner ganz interessant
festzustellen, daß die neue Stimmung ihren ersten Ausdruck gerade in den
Monatsschriften fand, die vor zwölf Jahren den Reigen der antideutschen Agitation
eröffnet hatten. Zwar haben die antideutschen Mitarbeiter dieser Revuen ihre
Arbeit an ihnen nicht eingestellt, aber es ist ein wertvolles Zeichen, daß neben
ihnen die entgegengesetzte Meinung zu Wort kommt. Fast jede neue Nummer
der Revuen bringt Proben davon. Auch in den unionistischen Wochenschriften,
wie dem spectator und der Saturday Review begegnen wir dieser veränderten
Haltung gegen Deutschland.

Was sind nun die Ursachen dieses Stimmungswechsels? Man fühlt sich an
das alte Gedicht von dem Reiter erinnert, der ahnungslos über den zugefrorenen
Bodensee reitet, und den hinterher der Schrecken packt, als er erfährt, welcher
Gefahr er glücklich entronnen. Der öffentlichen Meinung Englands sind die
Gefahren und die unübersehbaren Folgen eines Krieges mit Deutschland erst
völlig zum Bewußtsein gekommen, als die Marokkokrisis der Lösung schon so
nahe war, daß niemand mehr an ihrem guten Ausgang zweifeln konnte.

In Deutschland scheint man den politischen Rechenfehler zu machen, daß
man sagt: eben weil England in der Marokko frage auf der gegnerischen Seite
stand, werde es auch weiterhin unser Gegner sein. Das ist durchaus nicht not¬
wendig. Die Ursachen für Englands Haltung im Sommer sind mit der Er¬
ledigung der Marokkofrage fortgefallen. Das deutsche Argument lautet weiter:
"England gönnt uns unseren Platz an der Sonne nicht und will uns an jeder
notwendigen kolonialen Expansion verhindern." Aber gerade die Marokkokrisis
hat zur Folge gehabt, daß die Engländer die Natürlichkeit und Notwendigkeit
und darum Berechtigung unserer kolonialen Expansion erkannt haben, und daß
sie nachdrücklich erklären, uns darin nicht entgegentreten zu wollen. Man muß
sich vergegenwärtigen, welche Rolle die Idee der deutschen Weltpolitik in den
letzten zwölf Jahren in der englischen Politik und Presse gespielt hat. Wir
hatten beständig von Expansion gesprochen und geschrieben, und eine ungezügelte
Phantasie ebenso wie wildeste Konjekturalpolitik hatten dabei ihre buntesten
Blüten getrieben. All das griffen die Engländer in jener Zeit antideutscher
Stimmung auf. Man konnte uns die widersinnigsten weltpolitischen Pläne
unterschieben, weil man dafür Belege in der deutschen Presse oder in Flug¬
schriften fand. Gerade in der Unbestimmtheit und Unklarheit der damaligen
deutschen Expansionstendenzen erblickten die Engländer die Gefahr. Während
der Marokkokrisis des Sommers 1911 bekamen die Engländer zum ersten Male


Die deutsche Weltpolitik und England

im Interesse besserer Beziehungen zu Deutschland eröffnet hat, so braucht sie die
Arbeit auch nicht mehr ganz von vorn zu beginnen. Der Umschwung der
Stimmung hat bereits ohne ihr Zutun in Kreisen eingesetzt, die man früher einer
besseren Einsicht kaum für zugänglich hielt. Recht bemerkenswert ist die veränderte
Haltung der Presse, insbesondere der unionistischen Presse. Mit Ausnahme der
Times sind fast alle unionistischen Blätter von Bedeutung in den letzten Wochen
für eine Verständigung mit Deutschland eingetreten. Es ist ferner ganz interessant
festzustellen, daß die neue Stimmung ihren ersten Ausdruck gerade in den
Monatsschriften fand, die vor zwölf Jahren den Reigen der antideutschen Agitation
eröffnet hatten. Zwar haben die antideutschen Mitarbeiter dieser Revuen ihre
Arbeit an ihnen nicht eingestellt, aber es ist ein wertvolles Zeichen, daß neben
ihnen die entgegengesetzte Meinung zu Wort kommt. Fast jede neue Nummer
der Revuen bringt Proben davon. Auch in den unionistischen Wochenschriften,
wie dem spectator und der Saturday Review begegnen wir dieser veränderten
Haltung gegen Deutschland.

Was sind nun die Ursachen dieses Stimmungswechsels? Man fühlt sich an
das alte Gedicht von dem Reiter erinnert, der ahnungslos über den zugefrorenen
Bodensee reitet, und den hinterher der Schrecken packt, als er erfährt, welcher
Gefahr er glücklich entronnen. Der öffentlichen Meinung Englands sind die
Gefahren und die unübersehbaren Folgen eines Krieges mit Deutschland erst
völlig zum Bewußtsein gekommen, als die Marokkokrisis der Lösung schon so
nahe war, daß niemand mehr an ihrem guten Ausgang zweifeln konnte.

In Deutschland scheint man den politischen Rechenfehler zu machen, daß
man sagt: eben weil England in der Marokko frage auf der gegnerischen Seite
stand, werde es auch weiterhin unser Gegner sein. Das ist durchaus nicht not¬
wendig. Die Ursachen für Englands Haltung im Sommer sind mit der Er¬
ledigung der Marokkofrage fortgefallen. Das deutsche Argument lautet weiter:
„England gönnt uns unseren Platz an der Sonne nicht und will uns an jeder
notwendigen kolonialen Expansion verhindern." Aber gerade die Marokkokrisis
hat zur Folge gehabt, daß die Engländer die Natürlichkeit und Notwendigkeit
und darum Berechtigung unserer kolonialen Expansion erkannt haben, und daß
sie nachdrücklich erklären, uns darin nicht entgegentreten zu wollen. Man muß
sich vergegenwärtigen, welche Rolle die Idee der deutschen Weltpolitik in den
letzten zwölf Jahren in der englischen Politik und Presse gespielt hat. Wir
hatten beständig von Expansion gesprochen und geschrieben, und eine ungezügelte
Phantasie ebenso wie wildeste Konjekturalpolitik hatten dabei ihre buntesten
Blüten getrieben. All das griffen die Engländer in jener Zeit antideutscher
Stimmung auf. Man konnte uns die widersinnigsten weltpolitischen Pläne
unterschieben, weil man dafür Belege in der deutschen Presse oder in Flug¬
schriften fand. Gerade in der Unbestimmtheit und Unklarheit der damaligen
deutschen Expansionstendenzen erblickten die Engländer die Gefahr. Während
der Marokkokrisis des Sommers 1911 bekamen die Engländer zum ersten Male


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[0366] Die deutsche Weltpolitik und England im Interesse besserer Beziehungen zu Deutschland eröffnet hat, so braucht sie die Arbeit auch nicht mehr ganz von vorn zu beginnen. Der Umschwung der Stimmung hat bereits ohne ihr Zutun in Kreisen eingesetzt, die man früher einer besseren Einsicht kaum für zugänglich hielt. Recht bemerkenswert ist die veränderte Haltung der Presse, insbesondere der unionistischen Presse. Mit Ausnahme der Times sind fast alle unionistischen Blätter von Bedeutung in den letzten Wochen für eine Verständigung mit Deutschland eingetreten. Es ist ferner ganz interessant festzustellen, daß die neue Stimmung ihren ersten Ausdruck gerade in den Monatsschriften fand, die vor zwölf Jahren den Reigen der antideutschen Agitation eröffnet hatten. Zwar haben die antideutschen Mitarbeiter dieser Revuen ihre Arbeit an ihnen nicht eingestellt, aber es ist ein wertvolles Zeichen, daß neben ihnen die entgegengesetzte Meinung zu Wort kommt. Fast jede neue Nummer der Revuen bringt Proben davon. Auch in den unionistischen Wochenschriften, wie dem spectator und der Saturday Review begegnen wir dieser veränderten Haltung gegen Deutschland. Was sind nun die Ursachen dieses Stimmungswechsels? Man fühlt sich an das alte Gedicht von dem Reiter erinnert, der ahnungslos über den zugefrorenen Bodensee reitet, und den hinterher der Schrecken packt, als er erfährt, welcher Gefahr er glücklich entronnen. Der öffentlichen Meinung Englands sind die Gefahren und die unübersehbaren Folgen eines Krieges mit Deutschland erst völlig zum Bewußtsein gekommen, als die Marokkokrisis der Lösung schon so nahe war, daß niemand mehr an ihrem guten Ausgang zweifeln konnte. In Deutschland scheint man den politischen Rechenfehler zu machen, daß man sagt: eben weil England in der Marokko frage auf der gegnerischen Seite stand, werde es auch weiterhin unser Gegner sein. Das ist durchaus nicht not¬ wendig. Die Ursachen für Englands Haltung im Sommer sind mit der Er¬ ledigung der Marokkofrage fortgefallen. Das deutsche Argument lautet weiter: „England gönnt uns unseren Platz an der Sonne nicht und will uns an jeder notwendigen kolonialen Expansion verhindern." Aber gerade die Marokkokrisis hat zur Folge gehabt, daß die Engländer die Natürlichkeit und Notwendigkeit und darum Berechtigung unserer kolonialen Expansion erkannt haben, und daß sie nachdrücklich erklären, uns darin nicht entgegentreten zu wollen. Man muß sich vergegenwärtigen, welche Rolle die Idee der deutschen Weltpolitik in den letzten zwölf Jahren in der englischen Politik und Presse gespielt hat. Wir hatten beständig von Expansion gesprochen und geschrieben, und eine ungezügelte Phantasie ebenso wie wildeste Konjekturalpolitik hatten dabei ihre buntesten Blüten getrieben. All das griffen die Engländer in jener Zeit antideutscher Stimmung auf. Man konnte uns die widersinnigsten weltpolitischen Pläne unterschieben, weil man dafür Belege in der deutschen Presse oder in Flug¬ schriften fand. Gerade in der Unbestimmtheit und Unklarheit der damaligen deutschen Expansionstendenzen erblickten die Engländer die Gefahr. Während der Marokkokrisis des Sommers 1911 bekamen die Engländer zum ersten Male

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/366>, abgerufen am 27.09.2024.