Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.Reichsspiegel Reichstagsschmerzen Reichstagsanfang -- Die erste Präsidentenwahl -- Herr Scheidemann -- Neuwahl am Mittwoch -- Keine falsche Scham I -- Tauroggeu der inneren Politik Die ersten Sitzungen des Reichstages haben das gehalten, was die Das am Freitag in fünfstündiger Wahlqual zustande gekommene Reichsspiegel Reichstagsschmerzen Reichstagsanfang — Die erste Präsidentenwahl — Herr Scheidemann — Neuwahl am Mittwoch — Keine falsche Scham I — Tauroggeu der inneren Politik Die ersten Sitzungen des Reichstages haben das gehalten, was die Das am Freitag in fünfstündiger Wahlqual zustande gekommene <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0358" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320775"/> <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341895_320416/figures/grenzboten_341895_320416_320775_000.jpg"/><lb/> </div> </div> </div> <div n="1"> <head> Reichsspiegel<lb/></head><lb/> <div n="2"> <head> Reichstagsschmerzen</head><lb/> <note type="argument"> Reichstagsanfang — Die erste Präsidentenwahl — Herr Scheidemann — Neuwahl<lb/> am Mittwoch — Keine falsche Scham I — Tauroggeu der inneren Politik</note><lb/> <p xml:id="ID_1525"> Die ersten Sitzungen des Reichstages haben das gehalten, was die<lb/> Wahlen und das Reichstagspräludium im Preußischen Landtage versprochen<lb/> hatten. Hier die äußere Signatur: Zwischen Rechts und Links, und innerhalb<lb/> der bürgerlichen Parteien eine schier unüberwindliche Verbitterung; aus der<lb/> rechten Seite schärfste Ablehnung aller Verständigungsvorschlage, die aus der<lb/> Mitte kommen und in der Mitte selbst scheinbar Ratlosigkeit und im Steigen<lb/> begriffene Unsicherheit! Für den Fernerstehenden erwecken die Vorgänge bei<lb/> der Wahl des Reichstagspräsidiums den Anschein, als werde die Mitte von<lb/> den Extremen der Rechten und Linken hin und her gezerrt und als sei das<lb/> erste Ergebnis der Präsidentenwahl lediglich ein Zufall, möglich geworden durch<lb/> die Unentschlossen!)eit der nationalliberalen Führer. Die nähere Prüfung aller<lb/> Vorgänge zeigt indessen ein wesentlich anderes Bild: zwischen rechts und links<lb/> tobt ein 'heißer Kampf um die Seelen der Nationalliberalen, beide Extreme möchten<lb/> sie auf ihre Seite ziehen, um^sie beherrschen zu können; die Methoden der Rechten<lb/> erweisen sich einstweilen als die wirksameren, weil sie besser als die Linken die<lb/> Psyche der Nationalliberalen erfassen; die Nationalliberalen aber lenken das Spiel<lb/> so, daß ein Großblockpräsidium nur als ultima ratio und eventuell als Provisorium<lb/> zustande kommt, dann natürlich unter der Führung eines Nationalliberalen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1526" next="#ID_1527"> Das am Freitag in fünfstündiger Wahlqual zustande gekommene<lb/> Präsidium war denn auch das getreue Spiegelbild der angedeuteten Zer¬<lb/> rissenheit und Parteikämpfe. Das Präsidium, in dem Herr spähn, der viel¬<lb/> gewandte Führer der Ultramontanen und der Sozialdemokrat Scheidemann<lb/> Dirigenten des deutschen Reichstages sein sollten, bedeutete in der Tat einen<lb/> blutigen Hohn auf die gesamte Vergangenheit der deutschen Volksvertretung!<lb/> Es bot kein anziehendes Bild und war kaum geeignet, die Autorität früherer<lb/> Präsidien zu gewährleisten. Was konnte die drei Männer (der nationalliberale<lb/> Paasche ward zweiter Vizepräsident), die berufen waren, die Geschäfte des Reichs-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0358]
[Abbildung]
Reichsspiegel
Reichstagsschmerzen
Reichstagsanfang — Die erste Präsidentenwahl — Herr Scheidemann — Neuwahl
am Mittwoch — Keine falsche Scham I — Tauroggeu der inneren Politik
Die ersten Sitzungen des Reichstages haben das gehalten, was die
Wahlen und das Reichstagspräludium im Preußischen Landtage versprochen
hatten. Hier die äußere Signatur: Zwischen Rechts und Links, und innerhalb
der bürgerlichen Parteien eine schier unüberwindliche Verbitterung; aus der
rechten Seite schärfste Ablehnung aller Verständigungsvorschlage, die aus der
Mitte kommen und in der Mitte selbst scheinbar Ratlosigkeit und im Steigen
begriffene Unsicherheit! Für den Fernerstehenden erwecken die Vorgänge bei
der Wahl des Reichstagspräsidiums den Anschein, als werde die Mitte von
den Extremen der Rechten und Linken hin und her gezerrt und als sei das
erste Ergebnis der Präsidentenwahl lediglich ein Zufall, möglich geworden durch
die Unentschlossen!)eit der nationalliberalen Führer. Die nähere Prüfung aller
Vorgänge zeigt indessen ein wesentlich anderes Bild: zwischen rechts und links
tobt ein 'heißer Kampf um die Seelen der Nationalliberalen, beide Extreme möchten
sie auf ihre Seite ziehen, um^sie beherrschen zu können; die Methoden der Rechten
erweisen sich einstweilen als die wirksameren, weil sie besser als die Linken die
Psyche der Nationalliberalen erfassen; die Nationalliberalen aber lenken das Spiel
so, daß ein Großblockpräsidium nur als ultima ratio und eventuell als Provisorium
zustande kommt, dann natürlich unter der Führung eines Nationalliberalen.
Das am Freitag in fünfstündiger Wahlqual zustande gekommene
Präsidium war denn auch das getreue Spiegelbild der angedeuteten Zer¬
rissenheit und Parteikämpfe. Das Präsidium, in dem Herr spähn, der viel¬
gewandte Führer der Ultramontanen und der Sozialdemokrat Scheidemann
Dirigenten des deutschen Reichstages sein sollten, bedeutete in der Tat einen
blutigen Hohn auf die gesamte Vergangenheit der deutschen Volksvertretung!
Es bot kein anziehendes Bild und war kaum geeignet, die Autorität früherer
Präsidien zu gewährleisten. Was konnte die drei Männer (der nationalliberale
Paasche ward zweiter Vizepräsident), die berufen waren, die Geschäfte des Reichs-
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