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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Der Sozialismus in England

entweder ja oder nein zu sagen, dann müßte sie wohl auch den gleichen Stand¬
punkt einnehmen, wenn einmal eine konservative Negierung sich wieder aufgetan
hat. Eine solche Politik aber, bei der automatisch einfach der Maßstab des
Prinzips an die einzelnen Dinge gelegt wird, ganz unbekümmert darum, von
wem sie betrieben werden und im Nahmen welcher Gesamtpolitik, die paßt
absolut nicht in die parlamentarischen Verhältnisse Englands. Sie kann etwa
von einer Partei, wie die der irischen Nationalisten, getrieben werden, die nur
auf einen einzigen Programmpunkt gewählt ist, nur ein Ziel hat und sich auf¬
lösen muß, wenn dies Ziel erreicht und sichergestellt ist. Aber eine Gruppe
wie die Arbeiterpartei, die letzten Endes den völligen Umbau des Staates und
der Gesellschaft plant, kann auf die Dauer nicht so verfahren, weil sie sich
damit nur selbst schädigen würde. Wenn sie nämlich nicht lernt, daß man in
der Politik mitunter fünf gerade sein lassen muß, dann würde sie es bei der
jetzigen parlamentarischen Lage bald dahin gebracht haben, daß die liberale
Regierung das Spiel aufgeben muß. Die Führer der Arbeiter wissen aber
recht gut, daß sie unter einem konservativen Regiment noch mit viel größeren
Schwierigkeiten zu kämpfen haben werden, auch wenn die Konservativen sich das
neue soziale Mäntelchen, das eben beim Schneider in Arbeit ist, umgehängt
haben werden. Sie wissen, daß die konservative Partei die Partei der kon¬
solidierten, wohl fundierten Interessen ist und daß diesen Interessen eine größere
Widerstandskraft innewohnt, als den aus heterogenen Elementen zusammen¬
gesetzten Liberalen. So ist also die Zwangslage der liberalen Regierung nicht
so drückend, als es den Anschein hat. Wenn die Arbeiterpartei auch theoretisch
ihre völlige Unabhängigkeit proklamiert und gelegentlich, wenn es weiter keinen
Schaden anrichten kann, auch einmal demonstrativ gegen die Regierung stimmt,
so ist sie im ganzen doch genötigt, eine mittlere Linie zu gehen und hat ein
gewisses Interesse daran, der Regierung keine ernsthaften Schwierigkeiten zu
bereiten. Das ist so lange möglich, als es den Führern gelingt, diese Ver¬
hältnisse den Massen ihrer Wähler klarzumachen. Zeitweise, wenn eben jener
"Bodensatz" irgendwie aufgerührt worden ist, mag ihnen das auch nicht mehr
gelingen. Dann wird die Entwicklung der inneren Politik Englands Rückschläge
durchmachen. Schließlich aber liegt es doch schon in der Natur der beiden
großen Parteien, daß die Arbeiterpartei eine liberale Regierung der konservativen
doch immer wieder vorziehen wird, weil sie hier mit der Fabischen Durch¬
setzungspolitik weüer kommt. Auf diese Weise muß schließlich der Zeitpunkt
kommen, da zwischen Liberalismus und Arbeiterpartei praktisch nicht mehr allzu¬
viel Unterschied besteht. Dann stünde dem Verschmelzen beider Organisationen
außer Personenfragen nichts im Wege. Tatsächlich gibt es auch unter den
sozialistischen Führern Leute, die in einer solchen Verschmelzung eine der Möglich¬
keiten der Entwicklung sehen. Personenfragen aber sind in England vielleicht
wichtiger noch als anderswo. Ohne Kenntnis der persönlichen Beziehungen
und Familienverbindungen kann man weder Vergangenheit noch Gegenwart der


Grenzvoten l 1912 42
Der Sozialismus in England

entweder ja oder nein zu sagen, dann müßte sie wohl auch den gleichen Stand¬
punkt einnehmen, wenn einmal eine konservative Negierung sich wieder aufgetan
hat. Eine solche Politik aber, bei der automatisch einfach der Maßstab des
Prinzips an die einzelnen Dinge gelegt wird, ganz unbekümmert darum, von
wem sie betrieben werden und im Nahmen welcher Gesamtpolitik, die paßt
absolut nicht in die parlamentarischen Verhältnisse Englands. Sie kann etwa
von einer Partei, wie die der irischen Nationalisten, getrieben werden, die nur
auf einen einzigen Programmpunkt gewählt ist, nur ein Ziel hat und sich auf¬
lösen muß, wenn dies Ziel erreicht und sichergestellt ist. Aber eine Gruppe
wie die Arbeiterpartei, die letzten Endes den völligen Umbau des Staates und
der Gesellschaft plant, kann auf die Dauer nicht so verfahren, weil sie sich
damit nur selbst schädigen würde. Wenn sie nämlich nicht lernt, daß man in
der Politik mitunter fünf gerade sein lassen muß, dann würde sie es bei der
jetzigen parlamentarischen Lage bald dahin gebracht haben, daß die liberale
Regierung das Spiel aufgeben muß. Die Führer der Arbeiter wissen aber
recht gut, daß sie unter einem konservativen Regiment noch mit viel größeren
Schwierigkeiten zu kämpfen haben werden, auch wenn die Konservativen sich das
neue soziale Mäntelchen, das eben beim Schneider in Arbeit ist, umgehängt
haben werden. Sie wissen, daß die konservative Partei die Partei der kon¬
solidierten, wohl fundierten Interessen ist und daß diesen Interessen eine größere
Widerstandskraft innewohnt, als den aus heterogenen Elementen zusammen¬
gesetzten Liberalen. So ist also die Zwangslage der liberalen Regierung nicht
so drückend, als es den Anschein hat. Wenn die Arbeiterpartei auch theoretisch
ihre völlige Unabhängigkeit proklamiert und gelegentlich, wenn es weiter keinen
Schaden anrichten kann, auch einmal demonstrativ gegen die Regierung stimmt,
so ist sie im ganzen doch genötigt, eine mittlere Linie zu gehen und hat ein
gewisses Interesse daran, der Regierung keine ernsthaften Schwierigkeiten zu
bereiten. Das ist so lange möglich, als es den Führern gelingt, diese Ver¬
hältnisse den Massen ihrer Wähler klarzumachen. Zeitweise, wenn eben jener
„Bodensatz" irgendwie aufgerührt worden ist, mag ihnen das auch nicht mehr
gelingen. Dann wird die Entwicklung der inneren Politik Englands Rückschläge
durchmachen. Schließlich aber liegt es doch schon in der Natur der beiden
großen Parteien, daß die Arbeiterpartei eine liberale Regierung der konservativen
doch immer wieder vorziehen wird, weil sie hier mit der Fabischen Durch¬
setzungspolitik weüer kommt. Auf diese Weise muß schließlich der Zeitpunkt
kommen, da zwischen Liberalismus und Arbeiterpartei praktisch nicht mehr allzu¬
viel Unterschied besteht. Dann stünde dem Verschmelzen beider Organisationen
außer Personenfragen nichts im Wege. Tatsächlich gibt es auch unter den
sozialistischen Führern Leute, die in einer solchen Verschmelzung eine der Möglich¬
keiten der Entwicklung sehen. Personenfragen aber sind in England vielleicht
wichtiger noch als anderswo. Ohne Kenntnis der persönlichen Beziehungen
und Familienverbindungen kann man weder Vergangenheit noch Gegenwart der


Grenzvoten l 1912 42
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[0337] Der Sozialismus in England entweder ja oder nein zu sagen, dann müßte sie wohl auch den gleichen Stand¬ punkt einnehmen, wenn einmal eine konservative Negierung sich wieder aufgetan hat. Eine solche Politik aber, bei der automatisch einfach der Maßstab des Prinzips an die einzelnen Dinge gelegt wird, ganz unbekümmert darum, von wem sie betrieben werden und im Nahmen welcher Gesamtpolitik, die paßt absolut nicht in die parlamentarischen Verhältnisse Englands. Sie kann etwa von einer Partei, wie die der irischen Nationalisten, getrieben werden, die nur auf einen einzigen Programmpunkt gewählt ist, nur ein Ziel hat und sich auf¬ lösen muß, wenn dies Ziel erreicht und sichergestellt ist. Aber eine Gruppe wie die Arbeiterpartei, die letzten Endes den völligen Umbau des Staates und der Gesellschaft plant, kann auf die Dauer nicht so verfahren, weil sie sich damit nur selbst schädigen würde. Wenn sie nämlich nicht lernt, daß man in der Politik mitunter fünf gerade sein lassen muß, dann würde sie es bei der jetzigen parlamentarischen Lage bald dahin gebracht haben, daß die liberale Regierung das Spiel aufgeben muß. Die Führer der Arbeiter wissen aber recht gut, daß sie unter einem konservativen Regiment noch mit viel größeren Schwierigkeiten zu kämpfen haben werden, auch wenn die Konservativen sich das neue soziale Mäntelchen, das eben beim Schneider in Arbeit ist, umgehängt haben werden. Sie wissen, daß die konservative Partei die Partei der kon¬ solidierten, wohl fundierten Interessen ist und daß diesen Interessen eine größere Widerstandskraft innewohnt, als den aus heterogenen Elementen zusammen¬ gesetzten Liberalen. So ist also die Zwangslage der liberalen Regierung nicht so drückend, als es den Anschein hat. Wenn die Arbeiterpartei auch theoretisch ihre völlige Unabhängigkeit proklamiert und gelegentlich, wenn es weiter keinen Schaden anrichten kann, auch einmal demonstrativ gegen die Regierung stimmt, so ist sie im ganzen doch genötigt, eine mittlere Linie zu gehen und hat ein gewisses Interesse daran, der Regierung keine ernsthaften Schwierigkeiten zu bereiten. Das ist so lange möglich, als es den Führern gelingt, diese Ver¬ hältnisse den Massen ihrer Wähler klarzumachen. Zeitweise, wenn eben jener „Bodensatz" irgendwie aufgerührt worden ist, mag ihnen das auch nicht mehr gelingen. Dann wird die Entwicklung der inneren Politik Englands Rückschläge durchmachen. Schließlich aber liegt es doch schon in der Natur der beiden großen Parteien, daß die Arbeiterpartei eine liberale Regierung der konservativen doch immer wieder vorziehen wird, weil sie hier mit der Fabischen Durch¬ setzungspolitik weüer kommt. Auf diese Weise muß schließlich der Zeitpunkt kommen, da zwischen Liberalismus und Arbeiterpartei praktisch nicht mehr allzu¬ viel Unterschied besteht. Dann stünde dem Verschmelzen beider Organisationen außer Personenfragen nichts im Wege. Tatsächlich gibt es auch unter den sozialistischen Führern Leute, die in einer solchen Verschmelzung eine der Möglich¬ keiten der Entwicklung sehen. Personenfragen aber sind in England vielleicht wichtiger noch als anderswo. Ohne Kenntnis der persönlichen Beziehungen und Familienverbindungen kann man weder Vergangenheit noch Gegenwart der Grenzvoten l 1912 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/337>, abgerufen am 27.09.2024.