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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Der Sozialismus in England

wird es daher wohl zu heftigen Kämpfen, wenn nicht gar zu einer Spaltung
kommen. Trotzdem wird der Radikalismus nicht dauernd Einfluß auf den Fort¬
gang der sozialistischen Bewegung bekommen, es sei denn, daß sich der Charakter
des englischen Volkes unter dem Einfluß kontinental-sozialistischer Methoden stark
verändern sollte. Einstweilen wird man immer noch sagen können, daß auch
in der Zukunft jener undogmatische, aber praktische und nüchterne Sozialismus,
wie er sich unter den englischen Verhältnissen entwickelt hat und wie ihn die
Arbeiterführer auffassen, der Sozialismus der englischen Arbeiter sein wird.

Dieser Sozialismus ist, um ihn noch einmal kurz zu charakterisieren, nach
einer bezeichnenden Äußerung I. Ramsay Macdonalds zu dem Verfasser: >./in
outlook, not a äoZma" ein Ausblick, kein Dogma. Er weist wohl einzelne
Züge einer religiösen Bewegung auf, aber er hat sich bisher weder fanatisch
noch intolerant gezeigt. Er ist in seiner Art und in seinen Zielen durchaus
national. Gelegentliche internationale "Extratouren" in der Theorie ändern
daran nichts. Er hat seine Freude nicht an Prinzipien, versucht auch nicht die
Verhältnisse in das Prokrustesbett von Prinzipien zu zwängen, sondern ist ganz
und gar opportunistisch und realistisch. Er macht aus der sozialistischen Lehre
keinen Fetisch, sondern nach Möglichkeit einen täglichen Gebrauchsgegenstand.
Von seinen Gefolgsleuten verlangt er keinen Fahneneid, sondern es genügt ihm
vollkommen, wenn sie ihm tatsächlich folgen. Er tritt nicht auf im roten
Garibaldi-Hemd und droht der bürgerlichen Gesellschaft nicht mit Tod und
Vernichtung, sondern er sucht mehr zu lehren und zu überzeugen. So führt
er keinen Klassenkampf, sondern schiebt diese Theorie wie so manchen anderen
theoretischen Plunder mit einer ruhigen Handbewegung beiseite. Das kann aber
dem Fortgang der Bewegung in England nur nützlich sein.

Wie sich der nun gestalten wird? Beim Suchen nach einer Antwort auf
diese Frage verläßt man den Boden der Tatsachen und der Gegenwart. Es
ist ungemein schwierig, sich darüber ein einigermaßen begründetes Urteil zu
bilden, welchen Gang in der Zukunft eine Bewegung nehmen wird, die, obwohl
sie allmählich bestimmtere Züge zeigt, doch in sich selbst immer noch im Fluß
ist, die natürlich noch auf vielerlei Widerstände stoßen wird und die, wie die
politische Entwicklung eines Volkes überhaupt, der Einwirkung von Umständen
und Ereignissen ausgesetzt ist, die in keiner Weise vorausgesehen werden können,
oft aber unvermutet und unabwendbar eintreten. Der Versuch, die Tendenzen
der sozialistischen Bewegung in England aus ihrer bisherigen Entwicklung und
den gegebenen Umständen aufzuzeigen, muß demnach notwendig einen sehr
hypothetischen Charakter tragen.

Wenn die Dinge ihren Gang wie bisher nehmen, wird also der organisierte
Sozialismus in England zunächst wohl keine nennenswerten Fortschritte machen.
Nachdem er mit den Bergarbeitern die letzte große Gruppe der Gewerkschaften
sich angegliedert hat. ist er für einige Zeit sozusagen saturiert. So wird er
sich wohl darauf verlegen, die Gewerkschaften, zu denen er einstweilen äußerlich


Der Sozialismus in England

wird es daher wohl zu heftigen Kämpfen, wenn nicht gar zu einer Spaltung
kommen. Trotzdem wird der Radikalismus nicht dauernd Einfluß auf den Fort¬
gang der sozialistischen Bewegung bekommen, es sei denn, daß sich der Charakter
des englischen Volkes unter dem Einfluß kontinental-sozialistischer Methoden stark
verändern sollte. Einstweilen wird man immer noch sagen können, daß auch
in der Zukunft jener undogmatische, aber praktische und nüchterne Sozialismus,
wie er sich unter den englischen Verhältnissen entwickelt hat und wie ihn die
Arbeiterführer auffassen, der Sozialismus der englischen Arbeiter sein wird.

Dieser Sozialismus ist, um ihn noch einmal kurz zu charakterisieren, nach
einer bezeichnenden Äußerung I. Ramsay Macdonalds zu dem Verfasser: >./in
outlook, not a äoZma" ein Ausblick, kein Dogma. Er weist wohl einzelne
Züge einer religiösen Bewegung auf, aber er hat sich bisher weder fanatisch
noch intolerant gezeigt. Er ist in seiner Art und in seinen Zielen durchaus
national. Gelegentliche internationale „Extratouren" in der Theorie ändern
daran nichts. Er hat seine Freude nicht an Prinzipien, versucht auch nicht die
Verhältnisse in das Prokrustesbett von Prinzipien zu zwängen, sondern ist ganz
und gar opportunistisch und realistisch. Er macht aus der sozialistischen Lehre
keinen Fetisch, sondern nach Möglichkeit einen täglichen Gebrauchsgegenstand.
Von seinen Gefolgsleuten verlangt er keinen Fahneneid, sondern es genügt ihm
vollkommen, wenn sie ihm tatsächlich folgen. Er tritt nicht auf im roten
Garibaldi-Hemd und droht der bürgerlichen Gesellschaft nicht mit Tod und
Vernichtung, sondern er sucht mehr zu lehren und zu überzeugen. So führt
er keinen Klassenkampf, sondern schiebt diese Theorie wie so manchen anderen
theoretischen Plunder mit einer ruhigen Handbewegung beiseite. Das kann aber
dem Fortgang der Bewegung in England nur nützlich sein.

Wie sich der nun gestalten wird? Beim Suchen nach einer Antwort auf
diese Frage verläßt man den Boden der Tatsachen und der Gegenwart. Es
ist ungemein schwierig, sich darüber ein einigermaßen begründetes Urteil zu
bilden, welchen Gang in der Zukunft eine Bewegung nehmen wird, die, obwohl
sie allmählich bestimmtere Züge zeigt, doch in sich selbst immer noch im Fluß
ist, die natürlich noch auf vielerlei Widerstände stoßen wird und die, wie die
politische Entwicklung eines Volkes überhaupt, der Einwirkung von Umständen
und Ereignissen ausgesetzt ist, die in keiner Weise vorausgesehen werden können,
oft aber unvermutet und unabwendbar eintreten. Der Versuch, die Tendenzen
der sozialistischen Bewegung in England aus ihrer bisherigen Entwicklung und
den gegebenen Umständen aufzuzeigen, muß demnach notwendig einen sehr
hypothetischen Charakter tragen.

Wenn die Dinge ihren Gang wie bisher nehmen, wird also der organisierte
Sozialismus in England zunächst wohl keine nennenswerten Fortschritte machen.
Nachdem er mit den Bergarbeitern die letzte große Gruppe der Gewerkschaften
sich angegliedert hat. ist er für einige Zeit sozusagen saturiert. So wird er
sich wohl darauf verlegen, die Gewerkschaften, zu denen er einstweilen äußerlich


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[0335] Der Sozialismus in England wird es daher wohl zu heftigen Kämpfen, wenn nicht gar zu einer Spaltung kommen. Trotzdem wird der Radikalismus nicht dauernd Einfluß auf den Fort¬ gang der sozialistischen Bewegung bekommen, es sei denn, daß sich der Charakter des englischen Volkes unter dem Einfluß kontinental-sozialistischer Methoden stark verändern sollte. Einstweilen wird man immer noch sagen können, daß auch in der Zukunft jener undogmatische, aber praktische und nüchterne Sozialismus, wie er sich unter den englischen Verhältnissen entwickelt hat und wie ihn die Arbeiterführer auffassen, der Sozialismus der englischen Arbeiter sein wird. Dieser Sozialismus ist, um ihn noch einmal kurz zu charakterisieren, nach einer bezeichnenden Äußerung I. Ramsay Macdonalds zu dem Verfasser: >./in outlook, not a äoZma" ein Ausblick, kein Dogma. Er weist wohl einzelne Züge einer religiösen Bewegung auf, aber er hat sich bisher weder fanatisch noch intolerant gezeigt. Er ist in seiner Art und in seinen Zielen durchaus national. Gelegentliche internationale „Extratouren" in der Theorie ändern daran nichts. Er hat seine Freude nicht an Prinzipien, versucht auch nicht die Verhältnisse in das Prokrustesbett von Prinzipien zu zwängen, sondern ist ganz und gar opportunistisch und realistisch. Er macht aus der sozialistischen Lehre keinen Fetisch, sondern nach Möglichkeit einen täglichen Gebrauchsgegenstand. Von seinen Gefolgsleuten verlangt er keinen Fahneneid, sondern es genügt ihm vollkommen, wenn sie ihm tatsächlich folgen. Er tritt nicht auf im roten Garibaldi-Hemd und droht der bürgerlichen Gesellschaft nicht mit Tod und Vernichtung, sondern er sucht mehr zu lehren und zu überzeugen. So führt er keinen Klassenkampf, sondern schiebt diese Theorie wie so manchen anderen theoretischen Plunder mit einer ruhigen Handbewegung beiseite. Das kann aber dem Fortgang der Bewegung in England nur nützlich sein. Wie sich der nun gestalten wird? Beim Suchen nach einer Antwort auf diese Frage verläßt man den Boden der Tatsachen und der Gegenwart. Es ist ungemein schwierig, sich darüber ein einigermaßen begründetes Urteil zu bilden, welchen Gang in der Zukunft eine Bewegung nehmen wird, die, obwohl sie allmählich bestimmtere Züge zeigt, doch in sich selbst immer noch im Fluß ist, die natürlich noch auf vielerlei Widerstände stoßen wird und die, wie die politische Entwicklung eines Volkes überhaupt, der Einwirkung von Umständen und Ereignissen ausgesetzt ist, die in keiner Weise vorausgesehen werden können, oft aber unvermutet und unabwendbar eintreten. Der Versuch, die Tendenzen der sozialistischen Bewegung in England aus ihrer bisherigen Entwicklung und den gegebenen Umständen aufzuzeigen, muß demnach notwendig einen sehr hypothetischen Charakter tragen. Wenn die Dinge ihren Gang wie bisher nehmen, wird also der organisierte Sozialismus in England zunächst wohl keine nennenswerten Fortschritte machen. Nachdem er mit den Bergarbeitern die letzte große Gruppe der Gewerkschaften sich angegliedert hat. ist er für einige Zeit sozusagen saturiert. So wird er sich wohl darauf verlegen, die Gewerkschaften, zu denen er einstweilen äußerlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/335>, abgerufen am 27.09.2024.