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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Der Sozialismus in England

parlamentarische Geschichte Englands läuft wie ein roter Faden der Versuch,
Wahlumtrieben und Bestechungen zu begegnen. Aber selbst die schärfsten Be¬
stimmungen konnten nicht verhindern, daß der größere Geldsack auch heute noch
bei Wahlen im Vorteil ist. Das beginnt schon bei der Anlegung des Wahl¬
registers, die wiederum kein öffentlicher Akt ist, sondern eben auch auf eine Art
von Zivilprozeß zustande kommt. Die Vertreter der Parteien erscheinen zu
gegebener Zeit vor dem Registerbeamten und versuchen, meist mit sichtlich halt¬
losen Gründen, das Wahlrecht vieler Bürger zu bestreiten, die sie nicht für
sichere Anhänger der eigenen Partei halten. Auch dies Verfahren kostet Geld,
und wer nicht ernsthaft daran denkt, einen Sitz erobern zu können, der beteiligt
sich lieber gar nicht daran. Kommt es wirklich zur Wahl, dann sind die alten
Parteien mit den großen Mitteln auch wieder im Vorteil. Trotz aller Gesetzes¬
bestimmungen finden die Parteiorganisationen, der Laueu3, wie man das in
England nennt, Mittel und Wege, mit Geld zu arbeiten, ganz abgesehen von
den Summen, die für legale Wahlzwecke ausgegeben werden und die auch sehr
hoch sind. Das Unterhausmitglied Arthur Henderson, ein auf dem radikalen
Flügel der Liberalen sitzender Gewerkschaftsmann, stellte im Jahre 1904 im
Unterhaus fest, daß die gesamten Wahlausgaben der 1103 Kandidaten für die
670 Wahlkreise in dem Wahlkampf von 1900 rund 15^ Millionen betrugen,
wovon allein 3 Millionen an die Wahlbeamten zu entrichten waren. Doch
das sind nur die offiziellen Ausgaben, die vom Staat an der Hand der Gesetze
gegen unerlaubte Wahlumtriebe kontrolliert werden können. Darunter sind,
um dies Kuriosum zu erwähnen, die Hotelrechnungen der von auswärts in den
Wahlkreis zugereister Kandidaten, deren Höchstbetrag gesetzlich vorgeschrieben ist.
Wehe also dem Kandidaten, der in der Wahlzeit zu luxuriös lebt! Man nimmt
alsbald an, daß er Bestechungsversuche im Hotel unternommen hat. Unter
diesen Umständen ist begreiflich, daß die finanzielle Frage für die sozialistischen
Organisationen bei Wahlen eine sehr wichtige, den Eifer dampfende Rolle spielt.
Wie drückend es empfunden wird, erhellt aus dem heftigen Kampf der Arbeiter¬
partei gegen das sogenannte Osborne-Urteil. Durch dieses Urteil ist es den
Gewerkschaften verwehrt worden, von ihren Mitgliedern obligatorische Zuschlags¬
beiträge für die politische Agitation und Vertretung zu erheben. Korrekturen
der Rechtsprechung sind auf gesetzgeberischen Wege möglich. Können aber erst
die Gewerkschaften ihre Mitglieder allgemein für politische Zwecke besteuern,
dann kommt das einer besseren Finanzierung der sozialistischen Bewegung gleich
und wird sich in einer vermehrten Kandidatenaufstellung sowie weit größeren
Gesäme-Stimmziffern geltend machen.

Sehr gewichtige Hemmungsmomente liegen sodann in den eigenartigen
Preßverhältnissen des Landes. Die sozialistische Bewegung in England hat
bisher nicht eine einzige kleine, geschweige denn eine große Tageszeitung pro¬
duzieren können. Das hat ohne Zweifel bis zu einem gewissen Grade die
Ausbreitung der Bewegung verlangsamt, vor allem aber mit dazu beigetragen,


Der Sozialismus in England

parlamentarische Geschichte Englands läuft wie ein roter Faden der Versuch,
Wahlumtrieben und Bestechungen zu begegnen. Aber selbst die schärfsten Be¬
stimmungen konnten nicht verhindern, daß der größere Geldsack auch heute noch
bei Wahlen im Vorteil ist. Das beginnt schon bei der Anlegung des Wahl¬
registers, die wiederum kein öffentlicher Akt ist, sondern eben auch auf eine Art
von Zivilprozeß zustande kommt. Die Vertreter der Parteien erscheinen zu
gegebener Zeit vor dem Registerbeamten und versuchen, meist mit sichtlich halt¬
losen Gründen, das Wahlrecht vieler Bürger zu bestreiten, die sie nicht für
sichere Anhänger der eigenen Partei halten. Auch dies Verfahren kostet Geld,
und wer nicht ernsthaft daran denkt, einen Sitz erobern zu können, der beteiligt
sich lieber gar nicht daran. Kommt es wirklich zur Wahl, dann sind die alten
Parteien mit den großen Mitteln auch wieder im Vorteil. Trotz aller Gesetzes¬
bestimmungen finden die Parteiorganisationen, der Laueu3, wie man das in
England nennt, Mittel und Wege, mit Geld zu arbeiten, ganz abgesehen von
den Summen, die für legale Wahlzwecke ausgegeben werden und die auch sehr
hoch sind. Das Unterhausmitglied Arthur Henderson, ein auf dem radikalen
Flügel der Liberalen sitzender Gewerkschaftsmann, stellte im Jahre 1904 im
Unterhaus fest, daß die gesamten Wahlausgaben der 1103 Kandidaten für die
670 Wahlkreise in dem Wahlkampf von 1900 rund 15^ Millionen betrugen,
wovon allein 3 Millionen an die Wahlbeamten zu entrichten waren. Doch
das sind nur die offiziellen Ausgaben, die vom Staat an der Hand der Gesetze
gegen unerlaubte Wahlumtriebe kontrolliert werden können. Darunter sind,
um dies Kuriosum zu erwähnen, die Hotelrechnungen der von auswärts in den
Wahlkreis zugereister Kandidaten, deren Höchstbetrag gesetzlich vorgeschrieben ist.
Wehe also dem Kandidaten, der in der Wahlzeit zu luxuriös lebt! Man nimmt
alsbald an, daß er Bestechungsversuche im Hotel unternommen hat. Unter
diesen Umständen ist begreiflich, daß die finanzielle Frage für die sozialistischen
Organisationen bei Wahlen eine sehr wichtige, den Eifer dampfende Rolle spielt.
Wie drückend es empfunden wird, erhellt aus dem heftigen Kampf der Arbeiter¬
partei gegen das sogenannte Osborne-Urteil. Durch dieses Urteil ist es den
Gewerkschaften verwehrt worden, von ihren Mitgliedern obligatorische Zuschlags¬
beiträge für die politische Agitation und Vertretung zu erheben. Korrekturen
der Rechtsprechung sind auf gesetzgeberischen Wege möglich. Können aber erst
die Gewerkschaften ihre Mitglieder allgemein für politische Zwecke besteuern,
dann kommt das einer besseren Finanzierung der sozialistischen Bewegung gleich
und wird sich in einer vermehrten Kandidatenaufstellung sowie weit größeren
Gesäme-Stimmziffern geltend machen.

Sehr gewichtige Hemmungsmomente liegen sodann in den eigenartigen
Preßverhältnissen des Landes. Die sozialistische Bewegung in England hat
bisher nicht eine einzige kleine, geschweige denn eine große Tageszeitung pro¬
duzieren können. Das hat ohne Zweifel bis zu einem gewissen Grade die
Ausbreitung der Bewegung verlangsamt, vor allem aber mit dazu beigetragen,


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[0282] Der Sozialismus in England parlamentarische Geschichte Englands läuft wie ein roter Faden der Versuch, Wahlumtrieben und Bestechungen zu begegnen. Aber selbst die schärfsten Be¬ stimmungen konnten nicht verhindern, daß der größere Geldsack auch heute noch bei Wahlen im Vorteil ist. Das beginnt schon bei der Anlegung des Wahl¬ registers, die wiederum kein öffentlicher Akt ist, sondern eben auch auf eine Art von Zivilprozeß zustande kommt. Die Vertreter der Parteien erscheinen zu gegebener Zeit vor dem Registerbeamten und versuchen, meist mit sichtlich halt¬ losen Gründen, das Wahlrecht vieler Bürger zu bestreiten, die sie nicht für sichere Anhänger der eigenen Partei halten. Auch dies Verfahren kostet Geld, und wer nicht ernsthaft daran denkt, einen Sitz erobern zu können, der beteiligt sich lieber gar nicht daran. Kommt es wirklich zur Wahl, dann sind die alten Parteien mit den großen Mitteln auch wieder im Vorteil. Trotz aller Gesetzes¬ bestimmungen finden die Parteiorganisationen, der Laueu3, wie man das in England nennt, Mittel und Wege, mit Geld zu arbeiten, ganz abgesehen von den Summen, die für legale Wahlzwecke ausgegeben werden und die auch sehr hoch sind. Das Unterhausmitglied Arthur Henderson, ein auf dem radikalen Flügel der Liberalen sitzender Gewerkschaftsmann, stellte im Jahre 1904 im Unterhaus fest, daß die gesamten Wahlausgaben der 1103 Kandidaten für die 670 Wahlkreise in dem Wahlkampf von 1900 rund 15^ Millionen betrugen, wovon allein 3 Millionen an die Wahlbeamten zu entrichten waren. Doch das sind nur die offiziellen Ausgaben, die vom Staat an der Hand der Gesetze gegen unerlaubte Wahlumtriebe kontrolliert werden können. Darunter sind, um dies Kuriosum zu erwähnen, die Hotelrechnungen der von auswärts in den Wahlkreis zugereister Kandidaten, deren Höchstbetrag gesetzlich vorgeschrieben ist. Wehe also dem Kandidaten, der in der Wahlzeit zu luxuriös lebt! Man nimmt alsbald an, daß er Bestechungsversuche im Hotel unternommen hat. Unter diesen Umständen ist begreiflich, daß die finanzielle Frage für die sozialistischen Organisationen bei Wahlen eine sehr wichtige, den Eifer dampfende Rolle spielt. Wie drückend es empfunden wird, erhellt aus dem heftigen Kampf der Arbeiter¬ partei gegen das sogenannte Osborne-Urteil. Durch dieses Urteil ist es den Gewerkschaften verwehrt worden, von ihren Mitgliedern obligatorische Zuschlags¬ beiträge für die politische Agitation und Vertretung zu erheben. Korrekturen der Rechtsprechung sind auf gesetzgeberischen Wege möglich. Können aber erst die Gewerkschaften ihre Mitglieder allgemein für politische Zwecke besteuern, dann kommt das einer besseren Finanzierung der sozialistischen Bewegung gleich und wird sich in einer vermehrten Kandidatenaufstellung sowie weit größeren Gesäme-Stimmziffern geltend machen. Sehr gewichtige Hemmungsmomente liegen sodann in den eigenartigen Preßverhältnissen des Landes. Die sozialistische Bewegung in England hat bisher nicht eine einzige kleine, geschweige denn eine große Tageszeitung pro¬ duzieren können. Das hat ohne Zweifel bis zu einem gewissen Grade die Ausbreitung der Bewegung verlangsamt, vor allem aber mit dazu beigetragen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/282>, abgerufen am 20.10.2024.