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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Der Sozialismus in England

hatten. Daß Wahlkreise mit besonders starker Pluralstimmenzahl zu der Demon¬
stration ausgesucht worden sind, ist nicht anzunehmen, weil die Zusammenstellung
lediglich zeigen sollte, in wie vielen Wahlkreisen die Mehrheit der Unionisten
lediglich den Pluralstimmen zu verdanken ist. Es zeigt sich hier nebenbei die
praktisch sehr bedeutungsvolle Wirkung des Pluralstimmrechts in England. Dabei
handelt es sich in der Zusammenstellung nur um einen Teil der Wahlkreise, die
auf diese Weise den Unionisten zufielen. Für unseren Zweck fragt sich nun,
wie groß wohl die Gesamtzahl der Pluralstimmen ist. Nur eine sehr vage
Schätzung ist möglich. Ein Durchschnitt von 2063 Pluralstimmen in jedem
Wahlkreis, wie sich auf Grund der obigen Ziffern ergeben würde, wäre ohne
Zweifel zu hoch. Aber ein Drittel von dieser Zahl, also rund 700, darf man
doch annehmen. Das ergäbe für 670 Wahlkreise 469000 Pluralstimmen.
Wenn man nun diese vom Gesamtootum abzieht, so ergibt sich, daß nicht
7 900000, sondern nur 7 431000 Individuen in England das Wahlrecht haben.
Demzufolge wären unter einer Million Engländer nur 161500 Wahlberechtigte,
also 41625 weniger als unter einer Million Deutscher. Die Gesamtzahl der
nicht wahlberechtigten Engländer, die als Deutsche das Wahlrecht hätten, würde
dann 41625-j-670---1914750, also nahezu zwei Millionen betragen. Unter
diesen Umständen ist begreiflich, daß die sozialistischen Organisationen auch das
Pluralwahlrecht und damit die uralte Grundlage des englischen Wahlrechts
überhaupt lebhaft bekämpfen.

Zu diesen Hindernissen, die im Wahlrecht liegen, kommen Schwierigkeiten,
die das Wahlverfahren mit sich bringt. Wie das an den Grundbesitz oder seine
Surrogate geknüpfte Wahlrecht in mittelalterlicher Auffassung weniger einen
öffentlichrechtlichen als einen privatrechtlichen Charakter hat, so sieht der Staat
auch die einzelne Wahl selbst mehr als die Befriedigung von Privatinteressen
an und nimmt die Kosten, die durch seine Mitwirkung entstehen, nicht nur nicht
auf sich, sondern läßt sie sich durch die Parteien, die er also etwa wie Parteien
vor dem Zivilrichter ansieht, vergüten. Da er zudem gesunde geschäftliche
Grundsätze hat, läßt er seine Beamten nicht eher in Funktion treten, als bis
die Streitteile, d. h. also die Parteien, die Kandidaten vorschlagen, eine Kaution
geleistet haben. Diese beträgt sür den einzelnen Kandidaten im Durchschnitt
etwa 2700 Mark und muß am Tage der Benennung der Kandidaten vor dem
Wahlbeamten in bar deponiert werden. Wollten also die englischen Sozialisten
einmal nach dein berühmten deutschen Muster ihre Stimmen zählen, d. h. für
alle 670 Sitze Kandidaten benennen, dann müßten sie zunächst einmal nahezu
2 Millionen Mark bar dem Staat für feine Bemühungen einhändigen. Bei
diesen Kosten hat es nur dann sein Bewenden, wenn kein Gegenkandidat benannt
wird. Ist das der Fall, dann erklärt der Beamte nämlich den Kandidaten
ohne Abstimmung für gewählt. Ist es aber nicht der Fall, dann setzt er einen
Termin für die Abstimmung fest, und damit fängt eigentlich erst der lokale
Wahlkampf an. der natürlich noch viel mehr Geld kostet. Durch die ganze


Grenzvvtm I 1912
Der Sozialismus in England

hatten. Daß Wahlkreise mit besonders starker Pluralstimmenzahl zu der Demon¬
stration ausgesucht worden sind, ist nicht anzunehmen, weil die Zusammenstellung
lediglich zeigen sollte, in wie vielen Wahlkreisen die Mehrheit der Unionisten
lediglich den Pluralstimmen zu verdanken ist. Es zeigt sich hier nebenbei die
praktisch sehr bedeutungsvolle Wirkung des Pluralstimmrechts in England. Dabei
handelt es sich in der Zusammenstellung nur um einen Teil der Wahlkreise, die
auf diese Weise den Unionisten zufielen. Für unseren Zweck fragt sich nun,
wie groß wohl die Gesamtzahl der Pluralstimmen ist. Nur eine sehr vage
Schätzung ist möglich. Ein Durchschnitt von 2063 Pluralstimmen in jedem
Wahlkreis, wie sich auf Grund der obigen Ziffern ergeben würde, wäre ohne
Zweifel zu hoch. Aber ein Drittel von dieser Zahl, also rund 700, darf man
doch annehmen. Das ergäbe für 670 Wahlkreise 469000 Pluralstimmen.
Wenn man nun diese vom Gesamtootum abzieht, so ergibt sich, daß nicht
7 900000, sondern nur 7 431000 Individuen in England das Wahlrecht haben.
Demzufolge wären unter einer Million Engländer nur 161500 Wahlberechtigte,
also 41625 weniger als unter einer Million Deutscher. Die Gesamtzahl der
nicht wahlberechtigten Engländer, die als Deutsche das Wahlrecht hätten, würde
dann 41625-j-670---1914750, also nahezu zwei Millionen betragen. Unter
diesen Umständen ist begreiflich, daß die sozialistischen Organisationen auch das
Pluralwahlrecht und damit die uralte Grundlage des englischen Wahlrechts
überhaupt lebhaft bekämpfen.

Zu diesen Hindernissen, die im Wahlrecht liegen, kommen Schwierigkeiten,
die das Wahlverfahren mit sich bringt. Wie das an den Grundbesitz oder seine
Surrogate geknüpfte Wahlrecht in mittelalterlicher Auffassung weniger einen
öffentlichrechtlichen als einen privatrechtlichen Charakter hat, so sieht der Staat
auch die einzelne Wahl selbst mehr als die Befriedigung von Privatinteressen
an und nimmt die Kosten, die durch seine Mitwirkung entstehen, nicht nur nicht
auf sich, sondern läßt sie sich durch die Parteien, die er also etwa wie Parteien
vor dem Zivilrichter ansieht, vergüten. Da er zudem gesunde geschäftliche
Grundsätze hat, läßt er seine Beamten nicht eher in Funktion treten, als bis
die Streitteile, d. h. also die Parteien, die Kandidaten vorschlagen, eine Kaution
geleistet haben. Diese beträgt sür den einzelnen Kandidaten im Durchschnitt
etwa 2700 Mark und muß am Tage der Benennung der Kandidaten vor dem
Wahlbeamten in bar deponiert werden. Wollten also die englischen Sozialisten
einmal nach dein berühmten deutschen Muster ihre Stimmen zählen, d. h. für
alle 670 Sitze Kandidaten benennen, dann müßten sie zunächst einmal nahezu
2 Millionen Mark bar dem Staat für feine Bemühungen einhändigen. Bei
diesen Kosten hat es nur dann sein Bewenden, wenn kein Gegenkandidat benannt
wird. Ist das der Fall, dann erklärt der Beamte nämlich den Kandidaten
ohne Abstimmung für gewählt. Ist es aber nicht der Fall, dann setzt er einen
Termin für die Abstimmung fest, und damit fängt eigentlich erst der lokale
Wahlkampf an. der natürlich noch viel mehr Geld kostet. Durch die ganze


Grenzvvtm I 1912
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[0281] Der Sozialismus in England hatten. Daß Wahlkreise mit besonders starker Pluralstimmenzahl zu der Demon¬ stration ausgesucht worden sind, ist nicht anzunehmen, weil die Zusammenstellung lediglich zeigen sollte, in wie vielen Wahlkreisen die Mehrheit der Unionisten lediglich den Pluralstimmen zu verdanken ist. Es zeigt sich hier nebenbei die praktisch sehr bedeutungsvolle Wirkung des Pluralstimmrechts in England. Dabei handelt es sich in der Zusammenstellung nur um einen Teil der Wahlkreise, die auf diese Weise den Unionisten zufielen. Für unseren Zweck fragt sich nun, wie groß wohl die Gesamtzahl der Pluralstimmen ist. Nur eine sehr vage Schätzung ist möglich. Ein Durchschnitt von 2063 Pluralstimmen in jedem Wahlkreis, wie sich auf Grund der obigen Ziffern ergeben würde, wäre ohne Zweifel zu hoch. Aber ein Drittel von dieser Zahl, also rund 700, darf man doch annehmen. Das ergäbe für 670 Wahlkreise 469000 Pluralstimmen. Wenn man nun diese vom Gesamtootum abzieht, so ergibt sich, daß nicht 7 900000, sondern nur 7 431000 Individuen in England das Wahlrecht haben. Demzufolge wären unter einer Million Engländer nur 161500 Wahlberechtigte, also 41625 weniger als unter einer Million Deutscher. Die Gesamtzahl der nicht wahlberechtigten Engländer, die als Deutsche das Wahlrecht hätten, würde dann 41625-j-670---1914750, also nahezu zwei Millionen betragen. Unter diesen Umständen ist begreiflich, daß die sozialistischen Organisationen auch das Pluralwahlrecht und damit die uralte Grundlage des englischen Wahlrechts überhaupt lebhaft bekämpfen. Zu diesen Hindernissen, die im Wahlrecht liegen, kommen Schwierigkeiten, die das Wahlverfahren mit sich bringt. Wie das an den Grundbesitz oder seine Surrogate geknüpfte Wahlrecht in mittelalterlicher Auffassung weniger einen öffentlichrechtlichen als einen privatrechtlichen Charakter hat, so sieht der Staat auch die einzelne Wahl selbst mehr als die Befriedigung von Privatinteressen an und nimmt die Kosten, die durch seine Mitwirkung entstehen, nicht nur nicht auf sich, sondern läßt sie sich durch die Parteien, die er also etwa wie Parteien vor dem Zivilrichter ansieht, vergüten. Da er zudem gesunde geschäftliche Grundsätze hat, läßt er seine Beamten nicht eher in Funktion treten, als bis die Streitteile, d. h. also die Parteien, die Kandidaten vorschlagen, eine Kaution geleistet haben. Diese beträgt sür den einzelnen Kandidaten im Durchschnitt etwa 2700 Mark und muß am Tage der Benennung der Kandidaten vor dem Wahlbeamten in bar deponiert werden. Wollten also die englischen Sozialisten einmal nach dein berühmten deutschen Muster ihre Stimmen zählen, d. h. für alle 670 Sitze Kandidaten benennen, dann müßten sie zunächst einmal nahezu 2 Millionen Mark bar dem Staat für feine Bemühungen einhändigen. Bei diesen Kosten hat es nur dann sein Bewenden, wenn kein Gegenkandidat benannt wird. Ist das der Fall, dann erklärt der Beamte nämlich den Kandidaten ohne Abstimmung für gewählt. Ist es aber nicht der Fall, dann setzt er einen Termin für die Abstimmung fest, und damit fängt eigentlich erst der lokale Wahlkampf an. der natürlich noch viel mehr Geld kostet. Durch die ganze Grenzvvtm I 1912

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/281>, abgerufen am 20.10.2024.