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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Der Sozialismus in England

weite Schichten des städtischen und ländlichen Bürgertums das Wahlrecht. Später
fingierte man, daß auch der gewöhnliche Mieter so etwas wie ein Grundbesitzer
sei. Und so erhielt schließlich ein jeder Staatsbürger, der mindestens 200 Mark
Jahresmiete bezahlt, das Wahlrecht. Damit war man faktisch einem allgemeinen
Wahlrecht ja ziemlich nahe gekommen. Aber doch ist es weder grundsätzlich
noch auch tatsächlich ein allgemeines Wahlrecht. Das ergibt sich aus folgenden
Zahlen: Von 64 Millionen Deutschen haben auf Grund des allgemeinsten und
weitestgehenden Wahlrechtes der Welt rund 13 Millionen das Wahlrecht. Unter
46 Millionen Briten besitzen es auf Grund des neuesten Wahlregisters (das der
letzten Wahl aber noch nicht zugrunde lag), rund 7900000. Unter einer
Million Deutscher befinden sich also 203125 Wähler, unter einer Million Eng¬
länder nur 171739, d.h. auf eine Million seiner Bevölkerung gewährt Eng¬
land 31386 Individuen, die es in Deutschland hätten, kein Wahlrecht. Das
macht ans 46 Millionen 1443 756 Wähler aus. Man darf wohl annehmen,
daß diese rund 1^2 Millionen, die nicht einmal 200 Mark Jahresmiete bezahlen,
zum größten Teil Reserven des Sozialismus sind, wenn sie einmal das Wahl¬
recht bekommen sollten. Die sozialistischen Organisationen verlangen darum auch
das wirklich allgemeine Wahlrecht, das sogenannte aclult 8uffraM.

Diese Reserven sind tatsächlich sogar noch größer, als sich ans der obigen
Berechnung ergibt. Denn das Wahlrecht ist ja auch nicht gleich. Und zwar
ist es nicht gleich aus demselben Grunde, aus dem es nicht allgemein ist. Wer
Grundbesitzer, lease Iiolcter oder Mieter in einem Wahlkreise ist, ist dort wahl¬
berechtigt. Er ist aber auch in jedem anderen Wahlkreise wahlberechtigt, in dem
er eine solche Eigenschaft aufweisen kann. Das englische Wahlrecht ist daher
ein Pluralwahlrecht, zwar nicht in demi Sinne, daß ein Staatsbürger in einen:
Wahlkreise mehrere Stimmen abgeben könnte, aber er kann in mehreren Wahl¬
kreisen je eine Stimme abgeben. Und das ist praktisch gar nicht bedeutungslos,
namentlich in den großen Industriezentren, wo die Geschäftsleute in der Stadt
arbeiten, Mieter sind und dort das Wahlrecht haben, in der Nähe auf dem Lande
in einem anderen Wahlkreis aber wohnen, Eigentümer oder dergleichen sind und
infolgedessen auch dort das Wahlrecht haben. Es läßt sich der Umfang dieses
Plnralwahlrechts nicht genau bestimmen. Die Regierung ist schon mehrfach
aufgefordert worden, Angaben darüber zu machen. Aber sie erklärt es für
unmöglich, die genaue Zahl der Pluralwähler festzustellen, weil dazu nötig
wäre, hinsichtlich eines jeden einzelnen der 7900000 Wähler zu untersuchen,
in wie vielen Wahlkreisregistern er aufgenommen ist. So muß man sich an
Feststellungen halten, die gelegentlich der Wahlen von den Parteien gemacht
werden. Diese müssen natürlich mit einiger Skepsis betrachtet werden, da sie
zu tendenziösen Zwecken aufgemacht sind. Aber sie geben doch einen Anhalts¬
punkt. Nach der letzten Wahl veröffentlichten die Dailv News (liberal)
eine Zusammenstellung von zwanzig Wahlkreisen, in denen die liberalen
Wahlagenten je 865 bis 3595 Pluralstimmen, zusammen 41267 festgestellt


Der Sozialismus in England

weite Schichten des städtischen und ländlichen Bürgertums das Wahlrecht. Später
fingierte man, daß auch der gewöhnliche Mieter so etwas wie ein Grundbesitzer
sei. Und so erhielt schließlich ein jeder Staatsbürger, der mindestens 200 Mark
Jahresmiete bezahlt, das Wahlrecht. Damit war man faktisch einem allgemeinen
Wahlrecht ja ziemlich nahe gekommen. Aber doch ist es weder grundsätzlich
noch auch tatsächlich ein allgemeines Wahlrecht. Das ergibt sich aus folgenden
Zahlen: Von 64 Millionen Deutschen haben auf Grund des allgemeinsten und
weitestgehenden Wahlrechtes der Welt rund 13 Millionen das Wahlrecht. Unter
46 Millionen Briten besitzen es auf Grund des neuesten Wahlregisters (das der
letzten Wahl aber noch nicht zugrunde lag), rund 7900000. Unter einer
Million Deutscher befinden sich also 203125 Wähler, unter einer Million Eng¬
länder nur 171739, d.h. auf eine Million seiner Bevölkerung gewährt Eng¬
land 31386 Individuen, die es in Deutschland hätten, kein Wahlrecht. Das
macht ans 46 Millionen 1443 756 Wähler aus. Man darf wohl annehmen,
daß diese rund 1^2 Millionen, die nicht einmal 200 Mark Jahresmiete bezahlen,
zum größten Teil Reserven des Sozialismus sind, wenn sie einmal das Wahl¬
recht bekommen sollten. Die sozialistischen Organisationen verlangen darum auch
das wirklich allgemeine Wahlrecht, das sogenannte aclult 8uffraM.

Diese Reserven sind tatsächlich sogar noch größer, als sich ans der obigen
Berechnung ergibt. Denn das Wahlrecht ist ja auch nicht gleich. Und zwar
ist es nicht gleich aus demselben Grunde, aus dem es nicht allgemein ist. Wer
Grundbesitzer, lease Iiolcter oder Mieter in einem Wahlkreise ist, ist dort wahl¬
berechtigt. Er ist aber auch in jedem anderen Wahlkreise wahlberechtigt, in dem
er eine solche Eigenschaft aufweisen kann. Das englische Wahlrecht ist daher
ein Pluralwahlrecht, zwar nicht in demi Sinne, daß ein Staatsbürger in einen:
Wahlkreise mehrere Stimmen abgeben könnte, aber er kann in mehreren Wahl¬
kreisen je eine Stimme abgeben. Und das ist praktisch gar nicht bedeutungslos,
namentlich in den großen Industriezentren, wo die Geschäftsleute in der Stadt
arbeiten, Mieter sind und dort das Wahlrecht haben, in der Nähe auf dem Lande
in einem anderen Wahlkreis aber wohnen, Eigentümer oder dergleichen sind und
infolgedessen auch dort das Wahlrecht haben. Es läßt sich der Umfang dieses
Plnralwahlrechts nicht genau bestimmen. Die Regierung ist schon mehrfach
aufgefordert worden, Angaben darüber zu machen. Aber sie erklärt es für
unmöglich, die genaue Zahl der Pluralwähler festzustellen, weil dazu nötig
wäre, hinsichtlich eines jeden einzelnen der 7900000 Wähler zu untersuchen,
in wie vielen Wahlkreisregistern er aufgenommen ist. So muß man sich an
Feststellungen halten, die gelegentlich der Wahlen von den Parteien gemacht
werden. Diese müssen natürlich mit einiger Skepsis betrachtet werden, da sie
zu tendenziösen Zwecken aufgemacht sind. Aber sie geben doch einen Anhalts¬
punkt. Nach der letzten Wahl veröffentlichten die Dailv News (liberal)
eine Zusammenstellung von zwanzig Wahlkreisen, in denen die liberalen
Wahlagenten je 865 bis 3595 Pluralstimmen, zusammen 41267 festgestellt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/280>, abgerufen am 27.12.2024.