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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Der Sozialismus in Lngland

luxuriöses Leben. Es fällt dem Fremden in England auf, daß der Reichtum
sich mehr zur Schau stellt als anderswo. Das ist aber im allgemeinen kein
Protzen. Das Volk will Reichtum sehen, namentlich die Frauen. Und der
Anblick des Reichtums ist ihm weniger ein Stachel als ein Ansporn. Dieser
und ähnlicher Art sind die Hemmungen für die Ausbreitung eines Sozialismus
deutsch-radikalen Stils, die auf dem englischen Volkscharakter ganz allgemein
beruhen.

Es müssen noch einige andere psychologische Momente kurz erwähnt werden,
die viele Arbeiter heute noch nicht "laboui" wählen lassen. Einmal wählt der
Engländer, und zwar vor allem auch der Arbeiter, mehr als wohl irgendein
kontinentaler Wähler, noch den Mann und nicht die Partei oder das Programm.
Das hängt mit seiner schon erwähnten Abneigung gegen Theorien und Abstraktionen
zusammen. Den Mann, den er sieht, den er kennt und der ihm gefällt, den
wählt er. Und wieder ist es ein echt englischer Zug, daß ihm, ceteris pauhn8,
der Mann am besten gefällt, der am vornehmsten aussieht. Heute noch lassen
sich weite Kreise der niederen Volksschichten in England lieber durch einen vor¬
nehmen Herrn als durch ihresgleichen im Parlament vertreten. Dazu kommt
dann noch der Sportsgeist, der in England auch in weiten Arbeiterkreisen lebt.
Für diese nimmt eine Wahl bis zu einem gewissen Grad immer einen Sports¬
oder Wettcharakter an. Sie sind z. B. eigentlich und innerlich für den Gegner
des konservativen Kandidaten. Aber die ociä8 stehen zu dessen Gunsten. Sie
möchten auf der "xvininA 8lac" sein und nicht ,,va8te tkeir vote8". So
wählen sie den Konservativen und freuen sich am Abend des Wahltags ungeheuer,
wenn er wirklich "als Erster einkommt".

Außer diesen volkspsychologischen Hemmungen gibt es noch eine Reihe von
anderen, die aus gewissen Einrichtungen und Verhältnissen erwachsen.

Vor allem ist es das Wahlrecht und das Wahlverfahren, das bis zu einem
gewissen Grad eine Bremswirkung ausübt. Das englische Wahlrecht nämlich
ist nicht allgemein. Es ist auch nicht gleich. Trotz aller "Demokratie" und
trotz aller Freiheit haben die Engländer das Wahlrecht noch nicht aus der
Tatsache allein herzuleiten für nötig befunden, daß ein Mensch geboren ist und
ein gewisses Alter erreicht hat. Das Wahlrecht ist in England grundsätzlich
auch heute noch wie vor vielen hundert Jahren an den Besitz geknüpft, und
zwar, da es aus einer Zeit stammt, in der der mobile Besitz noch nicht diese
Bedeutung hatte wie heutzutage, an den Besitz von Grund und Boden. Als
dann im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts in drei verschiedenen Etappen
den Wahlrechtsforderungen des Bürgertums und später der Handarbeiter Genüge
getan werden mußte, wurde nicht etwa ein ganz neues Wahlrecht geschaffen,
sondern man ließ die alte Grundlage unverändert und half sich mit den beliebten
Fiktionen weiter. Zunächst wurde fingiert, daß auch der Isa8s Koläer (eine
Eigentümlichkeit des englischen Grundrechts etwa vergleichbar mit dem Erbbau¬
pächter des B. G. B.) eine Art Grundbesitzer sei. Auf diese Weise erhielten


Der Sozialismus in Lngland

luxuriöses Leben. Es fällt dem Fremden in England auf, daß der Reichtum
sich mehr zur Schau stellt als anderswo. Das ist aber im allgemeinen kein
Protzen. Das Volk will Reichtum sehen, namentlich die Frauen. Und der
Anblick des Reichtums ist ihm weniger ein Stachel als ein Ansporn. Dieser
und ähnlicher Art sind die Hemmungen für die Ausbreitung eines Sozialismus
deutsch-radikalen Stils, die auf dem englischen Volkscharakter ganz allgemein
beruhen.

Es müssen noch einige andere psychologische Momente kurz erwähnt werden,
die viele Arbeiter heute noch nicht „laboui" wählen lassen. Einmal wählt der
Engländer, und zwar vor allem auch der Arbeiter, mehr als wohl irgendein
kontinentaler Wähler, noch den Mann und nicht die Partei oder das Programm.
Das hängt mit seiner schon erwähnten Abneigung gegen Theorien und Abstraktionen
zusammen. Den Mann, den er sieht, den er kennt und der ihm gefällt, den
wählt er. Und wieder ist es ein echt englischer Zug, daß ihm, ceteris pauhn8,
der Mann am besten gefällt, der am vornehmsten aussieht. Heute noch lassen
sich weite Kreise der niederen Volksschichten in England lieber durch einen vor¬
nehmen Herrn als durch ihresgleichen im Parlament vertreten. Dazu kommt
dann noch der Sportsgeist, der in England auch in weiten Arbeiterkreisen lebt.
Für diese nimmt eine Wahl bis zu einem gewissen Grad immer einen Sports¬
oder Wettcharakter an. Sie sind z. B. eigentlich und innerlich für den Gegner
des konservativen Kandidaten. Aber die ociä8 stehen zu dessen Gunsten. Sie
möchten auf der „xvininA 8lac" sein und nicht ,,va8te tkeir vote8". So
wählen sie den Konservativen und freuen sich am Abend des Wahltags ungeheuer,
wenn er wirklich „als Erster einkommt".

Außer diesen volkspsychologischen Hemmungen gibt es noch eine Reihe von
anderen, die aus gewissen Einrichtungen und Verhältnissen erwachsen.

Vor allem ist es das Wahlrecht und das Wahlverfahren, das bis zu einem
gewissen Grad eine Bremswirkung ausübt. Das englische Wahlrecht nämlich
ist nicht allgemein. Es ist auch nicht gleich. Trotz aller „Demokratie" und
trotz aller Freiheit haben die Engländer das Wahlrecht noch nicht aus der
Tatsache allein herzuleiten für nötig befunden, daß ein Mensch geboren ist und
ein gewisses Alter erreicht hat. Das Wahlrecht ist in England grundsätzlich
auch heute noch wie vor vielen hundert Jahren an den Besitz geknüpft, und
zwar, da es aus einer Zeit stammt, in der der mobile Besitz noch nicht diese
Bedeutung hatte wie heutzutage, an den Besitz von Grund und Boden. Als
dann im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts in drei verschiedenen Etappen
den Wahlrechtsforderungen des Bürgertums und später der Handarbeiter Genüge
getan werden mußte, wurde nicht etwa ein ganz neues Wahlrecht geschaffen,
sondern man ließ die alte Grundlage unverändert und half sich mit den beliebten
Fiktionen weiter. Zunächst wurde fingiert, daß auch der Isa8s Koläer (eine
Eigentümlichkeit des englischen Grundrechts etwa vergleichbar mit dem Erbbau¬
pächter des B. G. B.) eine Art Grundbesitzer sei. Auf diese Weise erhielten


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[0279] Der Sozialismus in Lngland luxuriöses Leben. Es fällt dem Fremden in England auf, daß der Reichtum sich mehr zur Schau stellt als anderswo. Das ist aber im allgemeinen kein Protzen. Das Volk will Reichtum sehen, namentlich die Frauen. Und der Anblick des Reichtums ist ihm weniger ein Stachel als ein Ansporn. Dieser und ähnlicher Art sind die Hemmungen für die Ausbreitung eines Sozialismus deutsch-radikalen Stils, die auf dem englischen Volkscharakter ganz allgemein beruhen. Es müssen noch einige andere psychologische Momente kurz erwähnt werden, die viele Arbeiter heute noch nicht „laboui" wählen lassen. Einmal wählt der Engländer, und zwar vor allem auch der Arbeiter, mehr als wohl irgendein kontinentaler Wähler, noch den Mann und nicht die Partei oder das Programm. Das hängt mit seiner schon erwähnten Abneigung gegen Theorien und Abstraktionen zusammen. Den Mann, den er sieht, den er kennt und der ihm gefällt, den wählt er. Und wieder ist es ein echt englischer Zug, daß ihm, ceteris pauhn8, der Mann am besten gefällt, der am vornehmsten aussieht. Heute noch lassen sich weite Kreise der niederen Volksschichten in England lieber durch einen vor¬ nehmen Herrn als durch ihresgleichen im Parlament vertreten. Dazu kommt dann noch der Sportsgeist, der in England auch in weiten Arbeiterkreisen lebt. Für diese nimmt eine Wahl bis zu einem gewissen Grad immer einen Sports¬ oder Wettcharakter an. Sie sind z. B. eigentlich und innerlich für den Gegner des konservativen Kandidaten. Aber die ociä8 stehen zu dessen Gunsten. Sie möchten auf der „xvininA 8lac" sein und nicht ,,va8te tkeir vote8". So wählen sie den Konservativen und freuen sich am Abend des Wahltags ungeheuer, wenn er wirklich „als Erster einkommt". Außer diesen volkspsychologischen Hemmungen gibt es noch eine Reihe von anderen, die aus gewissen Einrichtungen und Verhältnissen erwachsen. Vor allem ist es das Wahlrecht und das Wahlverfahren, das bis zu einem gewissen Grad eine Bremswirkung ausübt. Das englische Wahlrecht nämlich ist nicht allgemein. Es ist auch nicht gleich. Trotz aller „Demokratie" und trotz aller Freiheit haben die Engländer das Wahlrecht noch nicht aus der Tatsache allein herzuleiten für nötig befunden, daß ein Mensch geboren ist und ein gewisses Alter erreicht hat. Das Wahlrecht ist in England grundsätzlich auch heute noch wie vor vielen hundert Jahren an den Besitz geknüpft, und zwar, da es aus einer Zeit stammt, in der der mobile Besitz noch nicht diese Bedeutung hatte wie heutzutage, an den Besitz von Grund und Boden. Als dann im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts in drei verschiedenen Etappen den Wahlrechtsforderungen des Bürgertums und später der Handarbeiter Genüge getan werden mußte, wurde nicht etwa ein ganz neues Wahlrecht geschaffen, sondern man ließ die alte Grundlage unverändert und half sich mit den beliebten Fiktionen weiter. Zunächst wurde fingiert, daß auch der Isa8s Koläer (eine Eigentümlichkeit des englischen Grundrechts etwa vergleichbar mit dem Erbbau¬ pächter des B. G. B.) eine Art Grundbesitzer sei. Auf diese Weise erhielten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/279>, abgerufen am 29.12.2024.