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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Landesverteidigung und Aottennovelle

er den im Dezember v, Is. in der Leipziger Illustrierten Zeitung
erschienenen Artikel: "Bestand im vorigen Sommer und Herbst
die Gefahr eines Seekrieges?" gelesen hat, wird sich der Über-
zeugung nicht verschließen können, daß das Deutsche Reich --
unbeabsichtigt und daher vielleicht dem Ernst der Lage gegenüber nicht
genügend bereit -- vor einer großen Gefahr gestanden hat: vor der Gefahr,
in einen Krieg mit England und Frankreich verwickelt zu werden, der, nach der
Aufstellung der englischen Seestreitkräfte zu schließen, wahrscheinlich mit einem
plötzlichen Überfall auf unsere Flotte und auf unsere Küste eingeleitet worden
wäre. Ziel solchen Überfalls mußte Niederwerfung der deutschen Seemacht und
Besitz der Seeherrschaft in der Nordsee für die englische Flotte sein. Hatte
England die Seeherrschaft unbestritten in Händen, so wollte es das bereit gehaltene
Expeditionskorps in Stärke von hundcrtsechzigtausend Mann auf den Kontinent
werfen, um gemeinsam mit der französischen Armee zu operieren.

Die Tatsache, daß England damals gerüstet war, ist von amtlicher englischer
Seite nicht bestritten worden. Durch die unvorsichtigen Äußerungen des Kapitän
Faber und anderer Engländer, durch Kontroversen in der englischen Presse sind
diese Pläne stückweise bekannt geworden, wenn wir auch in bezug auf Einzelheiten
noch auf Mutmaßungen angewiesen sind. Bemerkenswert bleibt, daß die englische
Presse den in Deutschland sehr beachteten Artikel der Leipziger Illustrierten
Zeitung fast völlig totgeschwiegen hat.-

Wer nach dem Überfall aus das russische Port Arthur-Geschwader, wer
nach dem unvermittelter Beginn des Krieges um Tripolis heute noch nicht wahr
haben will, daß eine große Kulturnation zu solchem dem Völkerrecht Hohn
sprechenden Kriegsbeginn durch Überfall fähig sei, der blättere einmal nach in
Englands Geschichte, der vergegenwärtige sich einmal, wie noch in jüngster Zeit'


Grenzboten I 19t 2 33


Landesverteidigung und Aottennovelle

er den im Dezember v, Is. in der Leipziger Illustrierten Zeitung
erschienenen Artikel: „Bestand im vorigen Sommer und Herbst
die Gefahr eines Seekrieges?" gelesen hat, wird sich der Über-
zeugung nicht verschließen können, daß das Deutsche Reich —
unbeabsichtigt und daher vielleicht dem Ernst der Lage gegenüber nicht
genügend bereit — vor einer großen Gefahr gestanden hat: vor der Gefahr,
in einen Krieg mit England und Frankreich verwickelt zu werden, der, nach der
Aufstellung der englischen Seestreitkräfte zu schließen, wahrscheinlich mit einem
plötzlichen Überfall auf unsere Flotte und auf unsere Küste eingeleitet worden
wäre. Ziel solchen Überfalls mußte Niederwerfung der deutschen Seemacht und
Besitz der Seeherrschaft in der Nordsee für die englische Flotte sein. Hatte
England die Seeherrschaft unbestritten in Händen, so wollte es das bereit gehaltene
Expeditionskorps in Stärke von hundcrtsechzigtausend Mann auf den Kontinent
werfen, um gemeinsam mit der französischen Armee zu operieren.

Die Tatsache, daß England damals gerüstet war, ist von amtlicher englischer
Seite nicht bestritten worden. Durch die unvorsichtigen Äußerungen des Kapitän
Faber und anderer Engländer, durch Kontroversen in der englischen Presse sind
diese Pläne stückweise bekannt geworden, wenn wir auch in bezug auf Einzelheiten
noch auf Mutmaßungen angewiesen sind. Bemerkenswert bleibt, daß die englische
Presse den in Deutschland sehr beachteten Artikel der Leipziger Illustrierten
Zeitung fast völlig totgeschwiegen hat.-

Wer nach dem Überfall aus das russische Port Arthur-Geschwader, wer
nach dem unvermittelter Beginn des Krieges um Tripolis heute noch nicht wahr
haben will, daß eine große Kulturnation zu solchem dem Völkerrecht Hohn
sprechenden Kriegsbeginn durch Überfall fähig sei, der blättere einmal nach in
Englands Geschichte, der vergegenwärtige sich einmal, wie noch in jüngster Zeit'


Grenzboten I 19t 2 33
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[0265] [Abbildung] Landesverteidigung und Aottennovelle er den im Dezember v, Is. in der Leipziger Illustrierten Zeitung erschienenen Artikel: „Bestand im vorigen Sommer und Herbst die Gefahr eines Seekrieges?" gelesen hat, wird sich der Über- zeugung nicht verschließen können, daß das Deutsche Reich — unbeabsichtigt und daher vielleicht dem Ernst der Lage gegenüber nicht genügend bereit — vor einer großen Gefahr gestanden hat: vor der Gefahr, in einen Krieg mit England und Frankreich verwickelt zu werden, der, nach der Aufstellung der englischen Seestreitkräfte zu schließen, wahrscheinlich mit einem plötzlichen Überfall auf unsere Flotte und auf unsere Küste eingeleitet worden wäre. Ziel solchen Überfalls mußte Niederwerfung der deutschen Seemacht und Besitz der Seeherrschaft in der Nordsee für die englische Flotte sein. Hatte England die Seeherrschaft unbestritten in Händen, so wollte es das bereit gehaltene Expeditionskorps in Stärke von hundcrtsechzigtausend Mann auf den Kontinent werfen, um gemeinsam mit der französischen Armee zu operieren. Die Tatsache, daß England damals gerüstet war, ist von amtlicher englischer Seite nicht bestritten worden. Durch die unvorsichtigen Äußerungen des Kapitän Faber und anderer Engländer, durch Kontroversen in der englischen Presse sind diese Pläne stückweise bekannt geworden, wenn wir auch in bezug auf Einzelheiten noch auf Mutmaßungen angewiesen sind. Bemerkenswert bleibt, daß die englische Presse den in Deutschland sehr beachteten Artikel der Leipziger Illustrierten Zeitung fast völlig totgeschwiegen hat.- Wer nach dem Überfall aus das russische Port Arthur-Geschwader, wer nach dem unvermittelter Beginn des Krieges um Tripolis heute noch nicht wahr haben will, daß eine große Kulturnation zu solchem dem Völkerrecht Hohn sprechenden Kriegsbeginn durch Überfall fähig sei, der blättere einmal nach in Englands Geschichte, der vergegenwärtige sich einmal, wie noch in jüngster Zeit' Grenzboten I 19t 2 33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/265>, abgerufen am 29.12.2024.