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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Lingeborenenrecht in den deutschen Kolonien

gleichermaßen für alle Kolonien gestellt sein sollen; denn eine geographische und
ethnographische Individualisierung fehlt gänzlich, obwohl schon innerhalb jeder
nicht ganz kleinen Kolonie eine Vielheit grundverschiedener Eingeborenenrechts¬
ordnungen besteht. Beim Fehlen jeglicher Erläuterung auch in dieser Richtung
ist es sehr wahrscheinlich, daß die gestellten Fragen vielfach die Wirkung von
Suggestivfragen haben werden, d. h. daß sie den Antworter in die Versuchung
führen, Rechtseinrichtungen und Zustände zu erfinden. Auf der anderen Seite
ist zu besorgen, daß vieles Wichtige unter den Tisch fällt, weil es im Frage¬
bogen nicht erwähnt ist (z. B. die beschränkte Geltungsdauer von Hüuptlings-
sprüchen). Diese Gefahren liegen um so näher, als die Vecintworter in der
Regel nicht juristisch vorgebildet sein werden -- die wichtigsten Auskunftspersonen
wenigstens dürsten sich außerhalb des Kreises der übrigens in Eingeborenen¬
angelegenheiten meist unerfahrenen Bezirksrichter befinden--, die mit technischen
Ausdrücken reich durchsetzten Fragen aber großenteils den Eindruck machen, als
seien sie von Juristen an Juristen gerichtet").

Überhaupt werden die Antworten auf die gestellten Fragen nur dann ein
richtiges Bild von den Nechtsgebräucheu der Eingeborenen ergeben, wenn die
Fragebogen wesentlich als innerer Anhalt für eigene Beobachtungen an und
gelegentliche Unterhaltungen mit Eingeborenen dienen. Dagegen wird eine
Befragung der Eingeborenen an der Hand der Fragebogen, womöglich gar
unter Zuziehung eines Dolmetschers, durchweg zu unsicheren und überwiegend zu
unrichtigen Vorstellungen über das zu erforschende Eingeborenenrecht führen.
Die erste Hauptfehlerquelle liegt in der auf das sinnlich Wahrnehmbare abgestellten
Denkweise der Eingeborenen, die Mißverstündnisse bei der Aufnahme abstrakter
Fragen außerordentlich nahe legt, die zweite in den den Eingeborenen bei seiner
Antwort bestimmenden persönlichen Motiven: die Neigung, dem Europäer die
Antwort zu geben, die er nach der Ansicht des Eingeborenen zu bekommen
wünscht; das Rechnen mit persönlichen Vorteilen oder Nachteilen, die dem Be¬
fragten nach seiner Empfindung aus einer so oder so gehaltenen Antwort erwachsen
können; das Bestreben, über Stammesgeheimnisse keine oder eine irreführende
Mitteilung zu machen. Und bei alledem besteht nicht einmal die Sicherheit,
daß der Fragesteller eine an sich richtige Antwort auch richtig versteht oder deutet.

Aus zwei Gründen sollte mit diesen Bedenken nicht zurückgehalten werden.
Einmal ist es schon jetzt sicher, daß die Enquete in wesentlichen Beziehungen
der Ergänzung bedarf, namentlich in der Richtung der Sammlung tatsächlichen
Materials, insbesondere von Rechtsfüllen und Angaben darüber, wie sie erledigt
wurden. Dieser konkrete, man kann auch sagen zufällig erwachsende Stoff, liefert
doch letzten Endes die sicherste Grundlage für die Ableitung abstrakter Rechts¬
sätze. Außerdem aber kann die in der nicht oder ungenügend erfolgten Zu¬
ziehung von praktisch erfahrenen Sachverständigen liegende Unterlassung noch



*) Schon die wenigen eingegangenen AMwm'im zeigen, daß die gestellten Fragen nicht
selten mißverstanden sind.
Lingeborenenrecht in den deutschen Kolonien

gleichermaßen für alle Kolonien gestellt sein sollen; denn eine geographische und
ethnographische Individualisierung fehlt gänzlich, obwohl schon innerhalb jeder
nicht ganz kleinen Kolonie eine Vielheit grundverschiedener Eingeborenenrechts¬
ordnungen besteht. Beim Fehlen jeglicher Erläuterung auch in dieser Richtung
ist es sehr wahrscheinlich, daß die gestellten Fragen vielfach die Wirkung von
Suggestivfragen haben werden, d. h. daß sie den Antworter in die Versuchung
führen, Rechtseinrichtungen und Zustände zu erfinden. Auf der anderen Seite
ist zu besorgen, daß vieles Wichtige unter den Tisch fällt, weil es im Frage¬
bogen nicht erwähnt ist (z. B. die beschränkte Geltungsdauer von Hüuptlings-
sprüchen). Diese Gefahren liegen um so näher, als die Vecintworter in der
Regel nicht juristisch vorgebildet sein werden — die wichtigsten Auskunftspersonen
wenigstens dürsten sich außerhalb des Kreises der übrigens in Eingeborenen¬
angelegenheiten meist unerfahrenen Bezirksrichter befinden—, die mit technischen
Ausdrücken reich durchsetzten Fragen aber großenteils den Eindruck machen, als
seien sie von Juristen an Juristen gerichtet").

Überhaupt werden die Antworten auf die gestellten Fragen nur dann ein
richtiges Bild von den Nechtsgebräucheu der Eingeborenen ergeben, wenn die
Fragebogen wesentlich als innerer Anhalt für eigene Beobachtungen an und
gelegentliche Unterhaltungen mit Eingeborenen dienen. Dagegen wird eine
Befragung der Eingeborenen an der Hand der Fragebogen, womöglich gar
unter Zuziehung eines Dolmetschers, durchweg zu unsicheren und überwiegend zu
unrichtigen Vorstellungen über das zu erforschende Eingeborenenrecht führen.
Die erste Hauptfehlerquelle liegt in der auf das sinnlich Wahrnehmbare abgestellten
Denkweise der Eingeborenen, die Mißverstündnisse bei der Aufnahme abstrakter
Fragen außerordentlich nahe legt, die zweite in den den Eingeborenen bei seiner
Antwort bestimmenden persönlichen Motiven: die Neigung, dem Europäer die
Antwort zu geben, die er nach der Ansicht des Eingeborenen zu bekommen
wünscht; das Rechnen mit persönlichen Vorteilen oder Nachteilen, die dem Be¬
fragten nach seiner Empfindung aus einer so oder so gehaltenen Antwort erwachsen
können; das Bestreben, über Stammesgeheimnisse keine oder eine irreführende
Mitteilung zu machen. Und bei alledem besteht nicht einmal die Sicherheit,
daß der Fragesteller eine an sich richtige Antwort auch richtig versteht oder deutet.

Aus zwei Gründen sollte mit diesen Bedenken nicht zurückgehalten werden.
Einmal ist es schon jetzt sicher, daß die Enquete in wesentlichen Beziehungen
der Ergänzung bedarf, namentlich in der Richtung der Sammlung tatsächlichen
Materials, insbesondere von Rechtsfüllen und Angaben darüber, wie sie erledigt
wurden. Dieser konkrete, man kann auch sagen zufällig erwachsende Stoff, liefert
doch letzten Endes die sicherste Grundlage für die Ableitung abstrakter Rechts¬
sätze. Außerdem aber kann die in der nicht oder ungenügend erfolgten Zu¬
ziehung von praktisch erfahrenen Sachverständigen liegende Unterlassung noch



*) Schon die wenigen eingegangenen AMwm'im zeigen, daß die gestellten Fragen nicht
selten mißverstanden sind.
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[0022] Lingeborenenrecht in den deutschen Kolonien gleichermaßen für alle Kolonien gestellt sein sollen; denn eine geographische und ethnographische Individualisierung fehlt gänzlich, obwohl schon innerhalb jeder nicht ganz kleinen Kolonie eine Vielheit grundverschiedener Eingeborenenrechts¬ ordnungen besteht. Beim Fehlen jeglicher Erläuterung auch in dieser Richtung ist es sehr wahrscheinlich, daß die gestellten Fragen vielfach die Wirkung von Suggestivfragen haben werden, d. h. daß sie den Antworter in die Versuchung führen, Rechtseinrichtungen und Zustände zu erfinden. Auf der anderen Seite ist zu besorgen, daß vieles Wichtige unter den Tisch fällt, weil es im Frage¬ bogen nicht erwähnt ist (z. B. die beschränkte Geltungsdauer von Hüuptlings- sprüchen). Diese Gefahren liegen um so näher, als die Vecintworter in der Regel nicht juristisch vorgebildet sein werden — die wichtigsten Auskunftspersonen wenigstens dürsten sich außerhalb des Kreises der übrigens in Eingeborenen¬ angelegenheiten meist unerfahrenen Bezirksrichter befinden—, die mit technischen Ausdrücken reich durchsetzten Fragen aber großenteils den Eindruck machen, als seien sie von Juristen an Juristen gerichtet"). Überhaupt werden die Antworten auf die gestellten Fragen nur dann ein richtiges Bild von den Nechtsgebräucheu der Eingeborenen ergeben, wenn die Fragebogen wesentlich als innerer Anhalt für eigene Beobachtungen an und gelegentliche Unterhaltungen mit Eingeborenen dienen. Dagegen wird eine Befragung der Eingeborenen an der Hand der Fragebogen, womöglich gar unter Zuziehung eines Dolmetschers, durchweg zu unsicheren und überwiegend zu unrichtigen Vorstellungen über das zu erforschende Eingeborenenrecht führen. Die erste Hauptfehlerquelle liegt in der auf das sinnlich Wahrnehmbare abgestellten Denkweise der Eingeborenen, die Mißverstündnisse bei der Aufnahme abstrakter Fragen außerordentlich nahe legt, die zweite in den den Eingeborenen bei seiner Antwort bestimmenden persönlichen Motiven: die Neigung, dem Europäer die Antwort zu geben, die er nach der Ansicht des Eingeborenen zu bekommen wünscht; das Rechnen mit persönlichen Vorteilen oder Nachteilen, die dem Be¬ fragten nach seiner Empfindung aus einer so oder so gehaltenen Antwort erwachsen können; das Bestreben, über Stammesgeheimnisse keine oder eine irreführende Mitteilung zu machen. Und bei alledem besteht nicht einmal die Sicherheit, daß der Fragesteller eine an sich richtige Antwort auch richtig versteht oder deutet. Aus zwei Gründen sollte mit diesen Bedenken nicht zurückgehalten werden. Einmal ist es schon jetzt sicher, daß die Enquete in wesentlichen Beziehungen der Ergänzung bedarf, namentlich in der Richtung der Sammlung tatsächlichen Materials, insbesondere von Rechtsfüllen und Angaben darüber, wie sie erledigt wurden. Dieser konkrete, man kann auch sagen zufällig erwachsende Stoff, liefert doch letzten Endes die sicherste Grundlage für die Ableitung abstrakter Rechts¬ sätze. Außerdem aber kann die in der nicht oder ungenügend erfolgten Zu¬ ziehung von praktisch erfahrenen Sachverständigen liegende Unterlassung noch *) Schon die wenigen eingegangenen AMwm'im zeigen, daß die gestellten Fragen nicht selten mißverstanden sind.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/22>, abgerufen am 27.09.2024.