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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die Fremdenrechte in der Türkei

politischen Druck eine ganz andere Gestalt angenommen, welche die Angehörigen
der Kapitulationsmächte jetzt als Bevorrechtete erscheinen läßt. So lange die
Türkei unter der Herrschaft des Absolutismus stand, dachte niemand ernstlich
an die Beseitigung dieser altehrwürdigen Fremdenrechte. Höchstens versuchte
die Pforte von Zeit zu Zeit ihre weitere Ausdehnung und auch ihre Festlegung
in klare Regeln zu verhindern. Dagegen hat sich der nach der Verkündigung
der Verfassung mächtig einsetzende osmanische Chauvinismus sofort gegen die
Fremdenvorrechte gewandt, die er in Verkennung ihrer Begründung in den von
den Staatsformen unabhängigen kulturellen Verhältnissen des Orients als durch die
Konstitution überflüssig geworden betrachtete. In den letzten Jahren ist auch die
Frage der Kapitulationen vielfach erörtert worden, von türkischer Seite unter kalter
Ablehnung der Mächte in den meisten Punkten, von der europäischen Öffentlichkeit
in der Regel oberflächlich auf Grund von Kenntnissen, die aus theoretischen
Völkerrechtsabhandlungen geschöpft waren und nur wenig von den religiösen,
politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen und den daraus entspringenden
Bedürfnissen der fremden Kolonien nach starkem Schutze durch ihren Heimats¬
staat wußten. Im allgemeinen werden auch nur die Vorrechte der Fremden
im Gerichtswesen betrachtet, während sie auf anderen Gebieten des Staatslebens
eine ungleich bedeutsamere Rolle spielen.

Der türkischen Gesetzgebung gegenüber stehen die Kapitulationsmächte auf
dem Standpunkte, daß alle türkischen Gesetze, bevor sie auf ihre Angehörigen
Anwendung finden können, von den Misstonen am Goldenen Horn, wenn auch
nur stillschweigend, angenommen sein müssen. Ein Einspruchsrecht kann bei
Verletzung der Kapitulationen ausgeübt werden. Zahlreiche diplomatische Kämpfe
sind so entbrannt. Manches türkische Gesetz, das staatsrechtlich gesetzmäßig
ergangen war, kam nie zur Ausführung und führt seither ein Scheindasein in
den amtlichen Gesetzessammlungen. Oft gelang es aber auch der Pforte, trotz des
Widerspruchs der Missionen, durch die Macht der Tatsachen solche Gesetze auch
gegen Fremde in Anwendung zu bringen. In der letzten Zeit haben meist die
Gesetze den fremden Einspruch hervorgerufen, durch welche bestimmte wirtschaft¬
liche Vorteile nur ottomanischen Staatsangehörigen und Gesellschaften verschafft
werden sollten, da hiermit die in den Kapitulationen unzweifelhaft zum Aus¬
drucke gelangte Gewerbe- und Handelsfreiheit zu ungunsten der Fremden ver¬
lassen worden wäre. Eine nicht unwesentliche Rolle in der türkischen Politik
der letzten Jahre spielten die Fremdenbestenerung und die Erhöhung des Zolles.
Die dauernde Vermehrung der Staatsausgaben seit der Konstitutionseinführung,
an der der Militarismus, der allerdings hier wie nirgends notwendig ist, die
Hauptschuld trägt, läßt die Türkei nach solchen neuen Geldquellen Umschau
halten, die sofort erschlossen werden können und nicht wie der langsam steigende
Wohlstand erst allmählich Mehrgewinn bringen.

So wurde der Kampf gegen die Steuerfreiheit der Fremden eröffnet.
Allerdings zahlen die Fremden vom Grundbesitz, den sie erwerben können


Die Fremdenrechte in der Türkei

politischen Druck eine ganz andere Gestalt angenommen, welche die Angehörigen
der Kapitulationsmächte jetzt als Bevorrechtete erscheinen läßt. So lange die
Türkei unter der Herrschaft des Absolutismus stand, dachte niemand ernstlich
an die Beseitigung dieser altehrwürdigen Fremdenrechte. Höchstens versuchte
die Pforte von Zeit zu Zeit ihre weitere Ausdehnung und auch ihre Festlegung
in klare Regeln zu verhindern. Dagegen hat sich der nach der Verkündigung
der Verfassung mächtig einsetzende osmanische Chauvinismus sofort gegen die
Fremdenvorrechte gewandt, die er in Verkennung ihrer Begründung in den von
den Staatsformen unabhängigen kulturellen Verhältnissen des Orients als durch die
Konstitution überflüssig geworden betrachtete. In den letzten Jahren ist auch die
Frage der Kapitulationen vielfach erörtert worden, von türkischer Seite unter kalter
Ablehnung der Mächte in den meisten Punkten, von der europäischen Öffentlichkeit
in der Regel oberflächlich auf Grund von Kenntnissen, die aus theoretischen
Völkerrechtsabhandlungen geschöpft waren und nur wenig von den religiösen,
politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen und den daraus entspringenden
Bedürfnissen der fremden Kolonien nach starkem Schutze durch ihren Heimats¬
staat wußten. Im allgemeinen werden auch nur die Vorrechte der Fremden
im Gerichtswesen betrachtet, während sie auf anderen Gebieten des Staatslebens
eine ungleich bedeutsamere Rolle spielen.

Der türkischen Gesetzgebung gegenüber stehen die Kapitulationsmächte auf
dem Standpunkte, daß alle türkischen Gesetze, bevor sie auf ihre Angehörigen
Anwendung finden können, von den Misstonen am Goldenen Horn, wenn auch
nur stillschweigend, angenommen sein müssen. Ein Einspruchsrecht kann bei
Verletzung der Kapitulationen ausgeübt werden. Zahlreiche diplomatische Kämpfe
sind so entbrannt. Manches türkische Gesetz, das staatsrechtlich gesetzmäßig
ergangen war, kam nie zur Ausführung und führt seither ein Scheindasein in
den amtlichen Gesetzessammlungen. Oft gelang es aber auch der Pforte, trotz des
Widerspruchs der Missionen, durch die Macht der Tatsachen solche Gesetze auch
gegen Fremde in Anwendung zu bringen. In der letzten Zeit haben meist die
Gesetze den fremden Einspruch hervorgerufen, durch welche bestimmte wirtschaft¬
liche Vorteile nur ottomanischen Staatsangehörigen und Gesellschaften verschafft
werden sollten, da hiermit die in den Kapitulationen unzweifelhaft zum Aus¬
drucke gelangte Gewerbe- und Handelsfreiheit zu ungunsten der Fremden ver¬
lassen worden wäre. Eine nicht unwesentliche Rolle in der türkischen Politik
der letzten Jahre spielten die Fremdenbestenerung und die Erhöhung des Zolles.
Die dauernde Vermehrung der Staatsausgaben seit der Konstitutionseinführung,
an der der Militarismus, der allerdings hier wie nirgends notwendig ist, die
Hauptschuld trägt, läßt die Türkei nach solchen neuen Geldquellen Umschau
halten, die sofort erschlossen werden können und nicht wie der langsam steigende
Wohlstand erst allmählich Mehrgewinn bringen.

So wurde der Kampf gegen die Steuerfreiheit der Fremden eröffnet.
Allerdings zahlen die Fremden vom Grundbesitz, den sie erwerben können


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[0219] Die Fremdenrechte in der Türkei politischen Druck eine ganz andere Gestalt angenommen, welche die Angehörigen der Kapitulationsmächte jetzt als Bevorrechtete erscheinen läßt. So lange die Türkei unter der Herrschaft des Absolutismus stand, dachte niemand ernstlich an die Beseitigung dieser altehrwürdigen Fremdenrechte. Höchstens versuchte die Pforte von Zeit zu Zeit ihre weitere Ausdehnung und auch ihre Festlegung in klare Regeln zu verhindern. Dagegen hat sich der nach der Verkündigung der Verfassung mächtig einsetzende osmanische Chauvinismus sofort gegen die Fremdenvorrechte gewandt, die er in Verkennung ihrer Begründung in den von den Staatsformen unabhängigen kulturellen Verhältnissen des Orients als durch die Konstitution überflüssig geworden betrachtete. In den letzten Jahren ist auch die Frage der Kapitulationen vielfach erörtert worden, von türkischer Seite unter kalter Ablehnung der Mächte in den meisten Punkten, von der europäischen Öffentlichkeit in der Regel oberflächlich auf Grund von Kenntnissen, die aus theoretischen Völkerrechtsabhandlungen geschöpft waren und nur wenig von den religiösen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen und den daraus entspringenden Bedürfnissen der fremden Kolonien nach starkem Schutze durch ihren Heimats¬ staat wußten. Im allgemeinen werden auch nur die Vorrechte der Fremden im Gerichtswesen betrachtet, während sie auf anderen Gebieten des Staatslebens eine ungleich bedeutsamere Rolle spielen. Der türkischen Gesetzgebung gegenüber stehen die Kapitulationsmächte auf dem Standpunkte, daß alle türkischen Gesetze, bevor sie auf ihre Angehörigen Anwendung finden können, von den Misstonen am Goldenen Horn, wenn auch nur stillschweigend, angenommen sein müssen. Ein Einspruchsrecht kann bei Verletzung der Kapitulationen ausgeübt werden. Zahlreiche diplomatische Kämpfe sind so entbrannt. Manches türkische Gesetz, das staatsrechtlich gesetzmäßig ergangen war, kam nie zur Ausführung und führt seither ein Scheindasein in den amtlichen Gesetzessammlungen. Oft gelang es aber auch der Pforte, trotz des Widerspruchs der Missionen, durch die Macht der Tatsachen solche Gesetze auch gegen Fremde in Anwendung zu bringen. In der letzten Zeit haben meist die Gesetze den fremden Einspruch hervorgerufen, durch welche bestimmte wirtschaft¬ liche Vorteile nur ottomanischen Staatsangehörigen und Gesellschaften verschafft werden sollten, da hiermit die in den Kapitulationen unzweifelhaft zum Aus¬ drucke gelangte Gewerbe- und Handelsfreiheit zu ungunsten der Fremden ver¬ lassen worden wäre. Eine nicht unwesentliche Rolle in der türkischen Politik der letzten Jahre spielten die Fremdenbestenerung und die Erhöhung des Zolles. Die dauernde Vermehrung der Staatsausgaben seit der Konstitutionseinführung, an der der Militarismus, der allerdings hier wie nirgends notwendig ist, die Hauptschuld trägt, läßt die Türkei nach solchen neuen Geldquellen Umschau halten, die sofort erschlossen werden können und nicht wie der langsam steigende Wohlstand erst allmählich Mehrgewinn bringen. So wurde der Kampf gegen die Steuerfreiheit der Fremden eröffnet. Allerdings zahlen die Fremden vom Grundbesitz, den sie erwerben können

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/219>, abgerufen am 20.10.2024.