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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Briefe aus Persien

lösung erschien, fand man ein Tor offen und konnte ungehindert in die Stadt
einziehen. Das komischste an der Sache war, daß die Revolutionsarmee auf
ihrem fluchtartigen Marsch die Gelegenheit verpaßte, den Schah, der sich mit
einer ganz schwachen Bedeckung in einem nahen Sommersitz aufhielt, zu über¬
fallen und so den ganzen Kampf durch Gefangennahme des Hauptes der Gegen¬
partei mit einem Schlage zu beenden. Erfolg und Mißerfolg hängen ja so oft
an einer Kleinigkeit. Als nämlich der Sipedar mit den Seinen glücklich die
schützenden Mauern Teherans erreicht hatte, verbreitete sich in der Stadt wie
ein Lauffeuer das Gerücht, die Revolutionäre hätten einen genialen Streich
geführt: den ahnungslosen Gegner umgangen und hinter seinem Rücken die
Hauptstadt erobert. Als dies Gerücht den angstvoll Flüchtenden zu Ohren
gekommen war, begannen sie aufzuatmen und schließlich selbst an ihren Erfolg
zu glauben, waren aber doch so wenig Herr der Situation, daß sie die Kosaken¬
brigade ebenfalls ruhig nach Teheran heretnmarschieren ließen. Was nun folgte,
ist schwer zu beschreiben. Die Kosaken bezogen ungehindert ihr mitten in der
Stadt gelegenes Kasemement und bombardierten von dort aus ziemlich planlos
und ohne den geringsten Erfolg die Teile der Stadt, wo sie Aufständische ver¬
muteten. In der ganzen Stadt waren Angehörige beider Parteien bunt durch¬
einander gewürfelt, und jedermann schien bloß eine Pflicht zu kennen, nämlich
in möglichst kurzer Zeit so viel Patronen wie nur möglich zu verschießen. Auf
das Ziel kam es weiter nicht an. Man schoß auf friedliche Bürger, alte Weiber,
Hunde, Katzen oder einfach in die Luft, um den etwa herannahenden Gegnern
schon vor ihrem Erscheinen Schrecken einzujagen. So ging es drei Tage lang,
ohne daß eine der beiden Parteien die geringste Anstrengung gemacht hätte,
den Gegner aus der Stadt hinauszuwerfen oder auch nur einen Schritt vorwärts
zu kommen. Schließlich wollte der Casas die Entscheidung herbeiführen und
gab den bei ihm versammelten Nomadenreitern, den Silahoris, den Befehl, die
Nationalisten in der Stadt anzugreifen. Die ganze wilde Horde wälzte sich
mit lautem Kriegsgeheul im Galopp gegen Teheran; einem Teil von ihnen,
etwa siebzig Mann, gelang es auch durch ein offenes Tor in die Stadt herein¬
zukommen. Dort aber empfing sie ein wohlgezieltes Gewehr- und Maschinen-
geivehrfeuer der rundherum hinter hohen Lehmmauern gedeckt aufgestellten Revo¬
lutionäre, dem fast alle Eingedrungenen zum Opfer fielen. Als der Schah die
Nachricht von dem völligen Mißerfolg des Angriffs erhielt, verlor er die Nerven
und floh in die russische Gesandtschaft; dort wurde er, da er unter einer fremden
Flagge Schutz gesucht hatte, von vornherein nicht mehr als Schah, sondern als
"Mirza" (Prinz) begrüßt. Das weitere vollzog sich dann ziemlich schnell und
einfach. Die Kosakenbrigade ging unter dem Jubel der Bevölkerung zu den
Nationalisten über, und die provisorische Negierung wählte den elfjährigen ältesten
Sohn des Schah unter dem Namen Achmed Schah zum Herrscher. Der Schah
erhielt eine Pension von 400000 Mark, ging nach Odessa ins Exil und verpflichtete
sich feierlich, nie wieder einen Versuch zu machen, den Thron zurückzugewinnen.


Briefe aus Persien

lösung erschien, fand man ein Tor offen und konnte ungehindert in die Stadt
einziehen. Das komischste an der Sache war, daß die Revolutionsarmee auf
ihrem fluchtartigen Marsch die Gelegenheit verpaßte, den Schah, der sich mit
einer ganz schwachen Bedeckung in einem nahen Sommersitz aufhielt, zu über¬
fallen und so den ganzen Kampf durch Gefangennahme des Hauptes der Gegen¬
partei mit einem Schlage zu beenden. Erfolg und Mißerfolg hängen ja so oft
an einer Kleinigkeit. Als nämlich der Sipedar mit den Seinen glücklich die
schützenden Mauern Teherans erreicht hatte, verbreitete sich in der Stadt wie
ein Lauffeuer das Gerücht, die Revolutionäre hätten einen genialen Streich
geführt: den ahnungslosen Gegner umgangen und hinter seinem Rücken die
Hauptstadt erobert. Als dies Gerücht den angstvoll Flüchtenden zu Ohren
gekommen war, begannen sie aufzuatmen und schließlich selbst an ihren Erfolg
zu glauben, waren aber doch so wenig Herr der Situation, daß sie die Kosaken¬
brigade ebenfalls ruhig nach Teheran heretnmarschieren ließen. Was nun folgte,
ist schwer zu beschreiben. Die Kosaken bezogen ungehindert ihr mitten in der
Stadt gelegenes Kasemement und bombardierten von dort aus ziemlich planlos
und ohne den geringsten Erfolg die Teile der Stadt, wo sie Aufständische ver¬
muteten. In der ganzen Stadt waren Angehörige beider Parteien bunt durch¬
einander gewürfelt, und jedermann schien bloß eine Pflicht zu kennen, nämlich
in möglichst kurzer Zeit so viel Patronen wie nur möglich zu verschießen. Auf
das Ziel kam es weiter nicht an. Man schoß auf friedliche Bürger, alte Weiber,
Hunde, Katzen oder einfach in die Luft, um den etwa herannahenden Gegnern
schon vor ihrem Erscheinen Schrecken einzujagen. So ging es drei Tage lang,
ohne daß eine der beiden Parteien die geringste Anstrengung gemacht hätte,
den Gegner aus der Stadt hinauszuwerfen oder auch nur einen Schritt vorwärts
zu kommen. Schließlich wollte der Casas die Entscheidung herbeiführen und
gab den bei ihm versammelten Nomadenreitern, den Silahoris, den Befehl, die
Nationalisten in der Stadt anzugreifen. Die ganze wilde Horde wälzte sich
mit lautem Kriegsgeheul im Galopp gegen Teheran; einem Teil von ihnen,
etwa siebzig Mann, gelang es auch durch ein offenes Tor in die Stadt herein¬
zukommen. Dort aber empfing sie ein wohlgezieltes Gewehr- und Maschinen-
geivehrfeuer der rundherum hinter hohen Lehmmauern gedeckt aufgestellten Revo¬
lutionäre, dem fast alle Eingedrungenen zum Opfer fielen. Als der Schah die
Nachricht von dem völligen Mißerfolg des Angriffs erhielt, verlor er die Nerven
und floh in die russische Gesandtschaft; dort wurde er, da er unter einer fremden
Flagge Schutz gesucht hatte, von vornherein nicht mehr als Schah, sondern als
„Mirza" (Prinz) begrüßt. Das weitere vollzog sich dann ziemlich schnell und
einfach. Die Kosakenbrigade ging unter dem Jubel der Bevölkerung zu den
Nationalisten über, und die provisorische Negierung wählte den elfjährigen ältesten
Sohn des Schah unter dem Namen Achmed Schah zum Herrscher. Der Schah
erhielt eine Pension von 400000 Mark, ging nach Odessa ins Exil und verpflichtete
sich feierlich, nie wieder einen Versuch zu machen, den Thron zurückzugewinnen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/184>, abgerufen am 27.09.2024.