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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Das pathologische in der Kunst

Hellpach ist von Hause aus Psychiater. Aus der Schule Wundes hervor¬
gegangen, hat sich sein Blick schnell geweidet. Von der Fachpsychiatrie viel und
scharf angegriffen behält er doch das Verdienst, durch seine zahlreichen Schriften
feststehende Erkenntnisse der psychiatrischen Wissenschaft ins größere Publikum
getragen und ein Stück psycho-pathologischer Aufklärungsarbeit geleistet zusahen.
Übereifer, etwas als pathologisch zu erklären, das doch nur ungewöhnlich ist, liegt
ihm fern, wie denn überhaupt solcher Übereifer etwas weit selteneres ist, als
Außenstehende oft meinen. In bezug auf die vorliegende Schrift stehen wir sogar
vor dem merkwürdigen Tatbestand, daß der Psychiater Hellpach nicht selten Dinge
in der Kunst als durchaus unpathologisch erklärt, die der Laie unbedenklich
mit dieser Bezeichnung belegt. Hellpach bemerkt nicht ohne Recht, daß die Neigung
Pathologisches in Kunstwerken zu suchen, heute sehr groß geworden ist, so daß
das Publikum im Zweifel zwischen hocherregten Leidenschaften, etwa Verzweiflung,
und Irrsinn sich jetzt gern für den Irrsinn entscheidet. "Wohlgemerkt: in der
Kunst! Derselbe Betrachter wehrt sich vielleicht einen Tag später auf der Geschworenen¬
bank mit bekannter Energie gegen das Sachverständigenurteil, das eine lachende
Kindeszerstücklerin als geistesgestört hinstellt." In der Tat ist es ein seltsamer
Widerspruch, daß dieselben Personen, die in der Galerie überall Pathologisches
wittern, im Gerichtssaal krampfhaft die Augen davor schließen. In Wirklichkeit
aber ist die Sachlage genau die umgekehrte: in der Kunst ist weniger Pathologisches
vorhanden als der Laie oft meint, im Gerichtssaal dagegen unendlich viel mehr.
Vor allem tritt uns, wie Hellpach zu beweisen sucht, heute in der Kunst wie in
der Literatur nicht öfter und viel diskreter Pathologisches entgegen als in vielen
früheren Epochen. Weder auf dem Gebiet des Erotischen, des Verbrechens, geistiger
Gestörtheit oder auch rein körperlicher Mißbildung reichen die Wagnisse einzelner
Künstler der Gegenwart heran an das, was etwa das christliche Mittelalter uns
darin hinterlassen hat, ohne daß diesem -- ihm gegenüber nicht selten nur allzu¬
berechtigte -- Vorwürfe gemacht werden.

Es ist die alte Erfahrung, daß Historisches viel eher ertragen und viel objek¬
tiver gewürdigt wird als Zeitgenössisches. Die Kunst und Dichtung der Ver¬
gangenheit wird als Kunst und Poesie aufgefaßt und in diesem Sinne bewertet,
analoge Werke der Gegenwart entfesseln dagegen Aversionen, Neigungen, die ganz
außerhalb des Ästhetischen liegen und erfahren von ihnen aus dann nicht selten
eine Verwerfung, die doch nur auf der subjektiven Unfähigkeit des Betrachters
beruht, der nicht imstande ist, sich zu ihnen auffassend künstlerisch zu verhalten.
Gewiß ist das Verlangen, das heute so viele an die Kunst richten: eine neue
Erhebung des Lebens zu bringen, berechtigt als Ausdruck idealistischer Tendenzen
überhaupt. Aber dieses Verlangen sollte nicht blind und unempfänglich gegen daS
machen, was an großer Kunst auch uns umgibt!




Das pathologische in der Kunst

Hellpach ist von Hause aus Psychiater. Aus der Schule Wundes hervor¬
gegangen, hat sich sein Blick schnell geweidet. Von der Fachpsychiatrie viel und
scharf angegriffen behält er doch das Verdienst, durch seine zahlreichen Schriften
feststehende Erkenntnisse der psychiatrischen Wissenschaft ins größere Publikum
getragen und ein Stück psycho-pathologischer Aufklärungsarbeit geleistet zusahen.
Übereifer, etwas als pathologisch zu erklären, das doch nur ungewöhnlich ist, liegt
ihm fern, wie denn überhaupt solcher Übereifer etwas weit selteneres ist, als
Außenstehende oft meinen. In bezug auf die vorliegende Schrift stehen wir sogar
vor dem merkwürdigen Tatbestand, daß der Psychiater Hellpach nicht selten Dinge
in der Kunst als durchaus unpathologisch erklärt, die der Laie unbedenklich
mit dieser Bezeichnung belegt. Hellpach bemerkt nicht ohne Recht, daß die Neigung
Pathologisches in Kunstwerken zu suchen, heute sehr groß geworden ist, so daß
das Publikum im Zweifel zwischen hocherregten Leidenschaften, etwa Verzweiflung,
und Irrsinn sich jetzt gern für den Irrsinn entscheidet. „Wohlgemerkt: in der
Kunst! Derselbe Betrachter wehrt sich vielleicht einen Tag später auf der Geschworenen¬
bank mit bekannter Energie gegen das Sachverständigenurteil, das eine lachende
Kindeszerstücklerin als geistesgestört hinstellt." In der Tat ist es ein seltsamer
Widerspruch, daß dieselben Personen, die in der Galerie überall Pathologisches
wittern, im Gerichtssaal krampfhaft die Augen davor schließen. In Wirklichkeit
aber ist die Sachlage genau die umgekehrte: in der Kunst ist weniger Pathologisches
vorhanden als der Laie oft meint, im Gerichtssaal dagegen unendlich viel mehr.
Vor allem tritt uns, wie Hellpach zu beweisen sucht, heute in der Kunst wie in
der Literatur nicht öfter und viel diskreter Pathologisches entgegen als in vielen
früheren Epochen. Weder auf dem Gebiet des Erotischen, des Verbrechens, geistiger
Gestörtheit oder auch rein körperlicher Mißbildung reichen die Wagnisse einzelner
Künstler der Gegenwart heran an das, was etwa das christliche Mittelalter uns
darin hinterlassen hat, ohne daß diesem — ihm gegenüber nicht selten nur allzu¬
berechtigte — Vorwürfe gemacht werden.

Es ist die alte Erfahrung, daß Historisches viel eher ertragen und viel objek¬
tiver gewürdigt wird als Zeitgenössisches. Die Kunst und Dichtung der Ver¬
gangenheit wird als Kunst und Poesie aufgefaßt und in diesem Sinne bewertet,
analoge Werke der Gegenwart entfesseln dagegen Aversionen, Neigungen, die ganz
außerhalb des Ästhetischen liegen und erfahren von ihnen aus dann nicht selten
eine Verwerfung, die doch nur auf der subjektiven Unfähigkeit des Betrachters
beruht, der nicht imstande ist, sich zu ihnen auffassend künstlerisch zu verhalten.
Gewiß ist das Verlangen, das heute so viele an die Kunst richten: eine neue
Erhebung des Lebens zu bringen, berechtigt als Ausdruck idealistischer Tendenzen
überhaupt. Aber dieses Verlangen sollte nicht blind und unempfänglich gegen daS
machen, was an großer Kunst auch uns umgibt!




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/98>, abgerufen am 23.07.2024.