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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die geistig Minderwertigen

genommen werden könnten, somit im Interesse der Allgemeinheit alles Nötige
geschehen würde.

Meine vorausgegangenen Ausführungen nehmen zu den grundsätzlichen
Anschauungen Straßmanns schon zum Teil Stellung. In einigen Punkten trifft
er auch nicht im wesentlichen das hier zur Erörterung stehende Problem als
solches, sondern die oben besprochene unglückliche Fassung des Vorentwurfs.
So z. B., wenn er darauf hinweist, wie schwer es sei, zwischen Ausschluß und
hochgradiger Verminderung der freien Willensbestimmung zu unterscheiden. Auf
einiges möchte ich aber noch eingehen. Ich glaube zunächst nicht, daß das
Gesetz hauptsächlich auf "Geisteskranke" angewendet werden wird, die bisher
wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen worden sind. Das mag für einzelne
Fälle zutreffen. Ob es zu beklagen ist, daß einzelne von denen, die vielleicht
nach dem heutigen Strafgesetzbuch auf Grund des Z 51 Se. G. B. straflos
bleiben, in Zukunft zu einer Strafe verurteilt werden, steht dahin. Im übrigen
möchte ich viel eher annehmen, daß die Mehrzahl der Rechtsverletzer, die in
Zukunft der strafrechtlichen Zwischenstufe angehören werden, zu den Menschen
gehört, die heute als voll zurechnungsfähig betrachtet werden müssen.

Wenn Straßmann ferner argumentiert, daß die geistig Minderwertigen,
weil sie nach der Bestimmung des Vorentwurfs unter Umständen später in
"Irrenanstalten" kommen könnten, eigentlich Geisteskranke seien, deren Bestrafung
einen Rückschritt bedeute, so scheint er mir doch zu viel Wert auf einen Begriff
zu legen. Ich wies schon darauf hin, daß die Mehrzahl der geistig minder¬
wertigen Verbrecher in die Heil- und Pflegeanstalten für nicht Kriminelle nicht
hineingehört und der Unterbringung in besonderen Anstalten bedarf. Es ist nun
nicht unbedingt nötig, auch die letzteren als Irrenanstalten zu bezeichnen. Damit
ist das Argument Straßmanns schon zum Teil entkräftet. Im übrigen darf
man nicht übersehen, daß weder der Begriff der geistigen Gesundheit noch der
der Geisteskrankheit fest umschrieben und klar zu bestimmen ist. Die Geistes¬
kranken sind doch keineswegs eine aus dem Rahmen der übrigen Menschheit
herausgehobene Klasse, die von ihr so unterscheidbar wäre, wie etwa ein Neger
von einem Europäer. Zwischen der vollkommensten Ausgeglichenheit des geistigen
Geschehens und seiner tiefsten Störung gibt es eine Reihe von allmählichen
Übergängen. An welcher Stelle in dieser Reihe wir den wichtigen Faktor der
Strafandrohungen ausschalten wollen, hängt von Zweckmäßigkeitserwägungen ab.
Wenn wir es da noch nicht tun, wo nach unserer Überzeugung die Strafe noch
als ein die Willenshandlungen beeinflussender Faktor in Betracht kommen kann,
so wollen wir uns nicht durch dogmatische Festlegung auf einen Begriff
beirren lassen.

Die von Straßmann befürchtete Erbitterung der geistig Minderwertigen,
die nach verbüßter Strafe in Verwahrung genommen werden sollen, müssen
wir in den Kauf nehmen, desgleichen die Empörung ihrer Angehörigen. Die
Erbitterung der Verwahrten über die Freiheitsberaubung würde auch ohne vor-


Die geistig Minderwertigen

genommen werden könnten, somit im Interesse der Allgemeinheit alles Nötige
geschehen würde.

Meine vorausgegangenen Ausführungen nehmen zu den grundsätzlichen
Anschauungen Straßmanns schon zum Teil Stellung. In einigen Punkten trifft
er auch nicht im wesentlichen das hier zur Erörterung stehende Problem als
solches, sondern die oben besprochene unglückliche Fassung des Vorentwurfs.
So z. B., wenn er darauf hinweist, wie schwer es sei, zwischen Ausschluß und
hochgradiger Verminderung der freien Willensbestimmung zu unterscheiden. Auf
einiges möchte ich aber noch eingehen. Ich glaube zunächst nicht, daß das
Gesetz hauptsächlich auf „Geisteskranke" angewendet werden wird, die bisher
wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen worden sind. Das mag für einzelne
Fälle zutreffen. Ob es zu beklagen ist, daß einzelne von denen, die vielleicht
nach dem heutigen Strafgesetzbuch auf Grund des Z 51 Se. G. B. straflos
bleiben, in Zukunft zu einer Strafe verurteilt werden, steht dahin. Im übrigen
möchte ich viel eher annehmen, daß die Mehrzahl der Rechtsverletzer, die in
Zukunft der strafrechtlichen Zwischenstufe angehören werden, zu den Menschen
gehört, die heute als voll zurechnungsfähig betrachtet werden müssen.

Wenn Straßmann ferner argumentiert, daß die geistig Minderwertigen,
weil sie nach der Bestimmung des Vorentwurfs unter Umständen später in
„Irrenanstalten" kommen könnten, eigentlich Geisteskranke seien, deren Bestrafung
einen Rückschritt bedeute, so scheint er mir doch zu viel Wert auf einen Begriff
zu legen. Ich wies schon darauf hin, daß die Mehrzahl der geistig minder¬
wertigen Verbrecher in die Heil- und Pflegeanstalten für nicht Kriminelle nicht
hineingehört und der Unterbringung in besonderen Anstalten bedarf. Es ist nun
nicht unbedingt nötig, auch die letzteren als Irrenanstalten zu bezeichnen. Damit
ist das Argument Straßmanns schon zum Teil entkräftet. Im übrigen darf
man nicht übersehen, daß weder der Begriff der geistigen Gesundheit noch der
der Geisteskrankheit fest umschrieben und klar zu bestimmen ist. Die Geistes¬
kranken sind doch keineswegs eine aus dem Rahmen der übrigen Menschheit
herausgehobene Klasse, die von ihr so unterscheidbar wäre, wie etwa ein Neger
von einem Europäer. Zwischen der vollkommensten Ausgeglichenheit des geistigen
Geschehens und seiner tiefsten Störung gibt es eine Reihe von allmählichen
Übergängen. An welcher Stelle in dieser Reihe wir den wichtigen Faktor der
Strafandrohungen ausschalten wollen, hängt von Zweckmäßigkeitserwägungen ab.
Wenn wir es da noch nicht tun, wo nach unserer Überzeugung die Strafe noch
als ein die Willenshandlungen beeinflussender Faktor in Betracht kommen kann,
so wollen wir uns nicht durch dogmatische Festlegung auf einen Begriff
beirren lassen.

Die von Straßmann befürchtete Erbitterung der geistig Minderwertigen,
die nach verbüßter Strafe in Verwahrung genommen werden sollen, müssen
wir in den Kauf nehmen, desgleichen die Empörung ihrer Angehörigen. Die
Erbitterung der Verwahrten über die Freiheitsberaubung würde auch ohne vor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/86>, abgerufen am 23.07.2024.