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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die geistig Minderwertigen

dürfen also nicht, wenn die Rechtssicherheit infolge ihres Gutachtens in Gefahr
gerät, darum von ihrer wissenschaftlichen Überzeugung abweichen. Wir können
dann vielleicht wieder erleben, daß von juristischer Seite vor den "Übergriffen"
der Psychiater gewarnt wird (wie es vor mehreren Jahren der Oberstaatsanwalt
Peterson tat), wenn sich die aus der Bestimmung des Vorentwurfs erwachsenden
Schäden herausstellen. Heute wird ja der Psychiater dem Strafrichter manchen
Verbrecher ganz überlassen, der geistig minderwertig ist, da er nur zwischen zwei
Möglichkeiten die Wahl hat. Wenn er aber nach der Bestimmung des Vor¬
entwurfs in Zukunft eine größere Zahl gefährlicher Verbrecher wenn auch nicht
ganz exkulpieren, so doch als "gemindert zurechnungsfähig" der obligatorischen
Strafmilderung zuführen wird, so wird der daraus hervorgehende Schaden von
manchen nicht der verfehlten Gesetzbestimmung, sondern den bösen Psychiatern
in die Schuhe geschoben werden, und zur Abwehr des Schadens werden Richter
und Geschworene nicht selten einfach das psychiatrische Gutachten ignorieren;
ebenso wie sie es heute manchmal tun, um einen geisteskranken Verbrecher sicher
hinter Schloß und Riegel zu setzen, der nach den ungenügenden administrativen
Bestimmungen nicht in wünschenswerter Weise verwahrt werden kann.

Mag der Leser auch nicht in allen Punkten mit mir einverstanden sein, so
wird er doch zugeben müssen, daß wir genügenden Grund haben, § 63, Abs. 2
des Vorentwurfs noch gründlich zu prüfen, bevor er seine endgültige Fassung
erhält. Die von mir vorgeschlagene Formulierung mit dem einschränkenden
Zusatz dürfte jedenfalls der Erwägung wert sein. Sie ermöglicht dem Richter,
da Milde anzuwenden, wo sie am Platz ist, und gegen solche geistig minder¬
wertige Verbrecher streng vorzugehen, bei denen nur besonders starke Motive
noch wirksam sein können.

Mit der einzigen einschränkenden Bestimmung des Vorentwurfs, nämlich
der, daß Zustände selbstverschuldeter Trunkenheit von der Strafmilderung aus¬
genommen seien, wird man einverstanden sein können. Durchaus mit Recht
betont Kahl, daß diese Zustände, wenn sie auch klinisch völlig das Bild geistiger
Minderwertigkeit böten, mit Rücksicht auf die Rechtssicherheit nicht zur Milde
Veranlassung geben dürfen. Ich wäre demnach für Beibehaltung jener Bestimmung,
falls man nicht besondere Gesetzparagraphen schaffen will, welche die Beziehungen
des Alkoholismus zum Verbrechen regeln. Eine derartige gesonderte strafrecht¬
liche Behandlung aller unter der Einwirkung des Alkohols begangenen Rechts¬
verletzungen wäre aus manchen Gründen wünschenswert. Ihre Besprechung
möge einem späteren Aufsatz in dieser Zeitschrift vorbehalten sein.

Die Bestimmungen über den Strafvollzug an geistig Minderwertigen enthält
Absatz 3 des Z 63 des Vorentwurfs: "Freiheitsstrafen sind an den nach Slbs. 2
Verurteilten unter Berücksichtigung ihres Geisteszustandes und, soweit dieser es
erfordert, in besonderen, für sie ausschließlich bestimmten Anstalten oder Ab¬
teilungen zu vollstrecken." -- Die Fassung hat ziemlich einmütige Zustimmung
gefunden. Sie regelt die Unterbringung der geistig minderwertigen Sträflinge


Die geistig Minderwertigen

dürfen also nicht, wenn die Rechtssicherheit infolge ihres Gutachtens in Gefahr
gerät, darum von ihrer wissenschaftlichen Überzeugung abweichen. Wir können
dann vielleicht wieder erleben, daß von juristischer Seite vor den „Übergriffen"
der Psychiater gewarnt wird (wie es vor mehreren Jahren der Oberstaatsanwalt
Peterson tat), wenn sich die aus der Bestimmung des Vorentwurfs erwachsenden
Schäden herausstellen. Heute wird ja der Psychiater dem Strafrichter manchen
Verbrecher ganz überlassen, der geistig minderwertig ist, da er nur zwischen zwei
Möglichkeiten die Wahl hat. Wenn er aber nach der Bestimmung des Vor¬
entwurfs in Zukunft eine größere Zahl gefährlicher Verbrecher wenn auch nicht
ganz exkulpieren, so doch als „gemindert zurechnungsfähig" der obligatorischen
Strafmilderung zuführen wird, so wird der daraus hervorgehende Schaden von
manchen nicht der verfehlten Gesetzbestimmung, sondern den bösen Psychiatern
in die Schuhe geschoben werden, und zur Abwehr des Schadens werden Richter
und Geschworene nicht selten einfach das psychiatrische Gutachten ignorieren;
ebenso wie sie es heute manchmal tun, um einen geisteskranken Verbrecher sicher
hinter Schloß und Riegel zu setzen, der nach den ungenügenden administrativen
Bestimmungen nicht in wünschenswerter Weise verwahrt werden kann.

Mag der Leser auch nicht in allen Punkten mit mir einverstanden sein, so
wird er doch zugeben müssen, daß wir genügenden Grund haben, § 63, Abs. 2
des Vorentwurfs noch gründlich zu prüfen, bevor er seine endgültige Fassung
erhält. Die von mir vorgeschlagene Formulierung mit dem einschränkenden
Zusatz dürfte jedenfalls der Erwägung wert sein. Sie ermöglicht dem Richter,
da Milde anzuwenden, wo sie am Platz ist, und gegen solche geistig minder¬
wertige Verbrecher streng vorzugehen, bei denen nur besonders starke Motive
noch wirksam sein können.

Mit der einzigen einschränkenden Bestimmung des Vorentwurfs, nämlich
der, daß Zustände selbstverschuldeter Trunkenheit von der Strafmilderung aus¬
genommen seien, wird man einverstanden sein können. Durchaus mit Recht
betont Kahl, daß diese Zustände, wenn sie auch klinisch völlig das Bild geistiger
Minderwertigkeit böten, mit Rücksicht auf die Rechtssicherheit nicht zur Milde
Veranlassung geben dürfen. Ich wäre demnach für Beibehaltung jener Bestimmung,
falls man nicht besondere Gesetzparagraphen schaffen will, welche die Beziehungen
des Alkoholismus zum Verbrechen regeln. Eine derartige gesonderte strafrecht¬
liche Behandlung aller unter der Einwirkung des Alkohols begangenen Rechts¬
verletzungen wäre aus manchen Gründen wünschenswert. Ihre Besprechung
möge einem späteren Aufsatz in dieser Zeitschrift vorbehalten sein.

Die Bestimmungen über den Strafvollzug an geistig Minderwertigen enthält
Absatz 3 des Z 63 des Vorentwurfs: „Freiheitsstrafen sind an den nach Slbs. 2
Verurteilten unter Berücksichtigung ihres Geisteszustandes und, soweit dieser es
erfordert, in besonderen, für sie ausschließlich bestimmten Anstalten oder Ab¬
teilungen zu vollstrecken." — Die Fassung hat ziemlich einmütige Zustimmung
gefunden. Sie regelt die Unterbringung der geistig minderwertigen Sträflinge


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[0081] Die geistig Minderwertigen dürfen also nicht, wenn die Rechtssicherheit infolge ihres Gutachtens in Gefahr gerät, darum von ihrer wissenschaftlichen Überzeugung abweichen. Wir können dann vielleicht wieder erleben, daß von juristischer Seite vor den „Übergriffen" der Psychiater gewarnt wird (wie es vor mehreren Jahren der Oberstaatsanwalt Peterson tat), wenn sich die aus der Bestimmung des Vorentwurfs erwachsenden Schäden herausstellen. Heute wird ja der Psychiater dem Strafrichter manchen Verbrecher ganz überlassen, der geistig minderwertig ist, da er nur zwischen zwei Möglichkeiten die Wahl hat. Wenn er aber nach der Bestimmung des Vor¬ entwurfs in Zukunft eine größere Zahl gefährlicher Verbrecher wenn auch nicht ganz exkulpieren, so doch als „gemindert zurechnungsfähig" der obligatorischen Strafmilderung zuführen wird, so wird der daraus hervorgehende Schaden von manchen nicht der verfehlten Gesetzbestimmung, sondern den bösen Psychiatern in die Schuhe geschoben werden, und zur Abwehr des Schadens werden Richter und Geschworene nicht selten einfach das psychiatrische Gutachten ignorieren; ebenso wie sie es heute manchmal tun, um einen geisteskranken Verbrecher sicher hinter Schloß und Riegel zu setzen, der nach den ungenügenden administrativen Bestimmungen nicht in wünschenswerter Weise verwahrt werden kann. Mag der Leser auch nicht in allen Punkten mit mir einverstanden sein, so wird er doch zugeben müssen, daß wir genügenden Grund haben, § 63, Abs. 2 des Vorentwurfs noch gründlich zu prüfen, bevor er seine endgültige Fassung erhält. Die von mir vorgeschlagene Formulierung mit dem einschränkenden Zusatz dürfte jedenfalls der Erwägung wert sein. Sie ermöglicht dem Richter, da Milde anzuwenden, wo sie am Platz ist, und gegen solche geistig minder¬ wertige Verbrecher streng vorzugehen, bei denen nur besonders starke Motive noch wirksam sein können. Mit der einzigen einschränkenden Bestimmung des Vorentwurfs, nämlich der, daß Zustände selbstverschuldeter Trunkenheit von der Strafmilderung aus¬ genommen seien, wird man einverstanden sein können. Durchaus mit Recht betont Kahl, daß diese Zustände, wenn sie auch klinisch völlig das Bild geistiger Minderwertigkeit böten, mit Rücksicht auf die Rechtssicherheit nicht zur Milde Veranlassung geben dürfen. Ich wäre demnach für Beibehaltung jener Bestimmung, falls man nicht besondere Gesetzparagraphen schaffen will, welche die Beziehungen des Alkoholismus zum Verbrechen regeln. Eine derartige gesonderte strafrecht¬ liche Behandlung aller unter der Einwirkung des Alkohols begangenen Rechts¬ verletzungen wäre aus manchen Gründen wünschenswert. Ihre Besprechung möge einem späteren Aufsatz in dieser Zeitschrift vorbehalten sein. Die Bestimmungen über den Strafvollzug an geistig Minderwertigen enthält Absatz 3 des Z 63 des Vorentwurfs: „Freiheitsstrafen sind an den nach Slbs. 2 Verurteilten unter Berücksichtigung ihres Geisteszustandes und, soweit dieser es erfordert, in besonderen, für sie ausschließlich bestimmten Anstalten oder Ab¬ teilungen zu vollstrecken." — Die Fassung hat ziemlich einmütige Zustimmung gefunden. Sie regelt die Unterbringung der geistig minderwertigen Sträflinge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/81>, abgerufen am 23.07.2024.