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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe aus Lhinci

An seine Schwester.

Peking, 8. Mai 1898.


Meine liebe Weinande!

Gestern sind wir glücklich und sehr befriedigt von unserer Reise nach Jehol
henngekehrt. . . .

Wir haben unseren Ausflug sehr genossen und die schönsten Erinnerungen
heimgebracht. Doch ich will nicht vorgreifen, wie Paula Erbswurst sagt, und
alles in chronologischer Reihenfolge berichten. Unsere Karawane bestand aus
drei Karren mit je zwei Maultieren, lang gespannt, und drei Eseln. Lilly
machte die ganze Reise auf dem Karren -- ein Kunststück, das ihr wohl nicht
leicht jemand nachmachen wird. Im Karren zu sitzen, vermag nur ein Chinese,
andere Menschen geben nach wenigen Stunden des Herumgeschleudertwerdens
ihren Geist auf, wenn sie welchen haben. So saß denn Lilly die ganze Zeit
draußen und ließ die Beine stillvergnügt herunterbaumeln. Ihr gutes natür¬
liches Polster und ein Kissen, das ihr Frau v. P. geliehen hatte, unterem
einigermaßen die Stöße. Immerhin war die Fahrt, die teils durch tiefen Sand,
teils, und oft stundenlang, über große Steinblöcke ging, eine anerkennenswerte
Leistung. Wir hatten jeden Tag fünfzig bis sechzig Kilometer zurückzulegen und
waren somit täglich zehn bis elf Stunden (die Frühstückspause nicht mitgerechnet)
unterwegs. Unser Gefolge bestand aus Mr. Gradaus Boy, der, nebenbei
bemerkt, ein Mandarin der fünften Rangklasse ist und die Leitung des Ganzen
versah, unserem Boy und einem Koch. Dazu kamen noch die drei Kutscher
und zwei Eseltreiber. Proviant, soweit man solchen nicht unterwegs bekommen
konnte, hatten wir mitgenommen. Alles übrige bestand aus milden Gaben,
die wir uns erbettelt hatten. Frau Kierulff hatte uns Betten, Herr Kierulff
mir seinen Sommerhut und Frau v. P. Geschirr und verschiedenes andere
geliehen. So brachen wir denn heute vor vierzehn Tagen bei herrlichem Wetter
um Uhr morgens von hier auf. Der Weg selbst war wenig genußreich,
da er meist durch ausgetrocknete Flußbetten inmitten völlig kahler und baum¬
loser Hügel und Berge führte. Nur hin und wieder wurde die Einförmigkeit
dieser furchtbaren Öde durch ein schönes Landschaftsbild unterbrochen, so z. B.
bei Ku-pei-k'on, wo wir die große Mauer passierten. Der Ort liegt sehr malerisch,
von schön geformten Bergen umgeben; doch fand ich, daß die Mauer selbst bei
Ch'a-tao, wo wir im Herbste waren, einen viel großartigeren Eindruck machte,
weil man das gigantische Bauwerk besser überblicken und weiter verfolgen konnte.
Am fünften Tage langten wir auf der Paßhöhe Knäng-jeu-klug an, von wo
wir das malerische Tal von Jehol zu unseren Füßen liegen sahen. Den steilen
und steinigen Weg bergab mußten wir zu Fuß zurücklegen. Bald hatten wir
die Stadt Ch'eng te-fu erreicht, neben der Jehol liegt. Da sich selten Europäer
hierher verirren, war unser Gasthof sofort von einer unabsehbaren Menschen¬
menge umringt. Am nächsten Morgen schickten wir Mr. Gradaus Boy, der
zu diesem Zweck Staatstracht und eine Mütze mit dem Knopfe seiner Rangklasse


Briefe aus Lhinci

An seine Schwester.

Peking, 8. Mai 1898.


Meine liebe Weinande!

Gestern sind wir glücklich und sehr befriedigt von unserer Reise nach Jehol
henngekehrt. . . .

Wir haben unseren Ausflug sehr genossen und die schönsten Erinnerungen
heimgebracht. Doch ich will nicht vorgreifen, wie Paula Erbswurst sagt, und
alles in chronologischer Reihenfolge berichten. Unsere Karawane bestand aus
drei Karren mit je zwei Maultieren, lang gespannt, und drei Eseln. Lilly
machte die ganze Reise auf dem Karren — ein Kunststück, das ihr wohl nicht
leicht jemand nachmachen wird. Im Karren zu sitzen, vermag nur ein Chinese,
andere Menschen geben nach wenigen Stunden des Herumgeschleudertwerdens
ihren Geist auf, wenn sie welchen haben. So saß denn Lilly die ganze Zeit
draußen und ließ die Beine stillvergnügt herunterbaumeln. Ihr gutes natür¬
liches Polster und ein Kissen, das ihr Frau v. P. geliehen hatte, unterem
einigermaßen die Stöße. Immerhin war die Fahrt, die teils durch tiefen Sand,
teils, und oft stundenlang, über große Steinblöcke ging, eine anerkennenswerte
Leistung. Wir hatten jeden Tag fünfzig bis sechzig Kilometer zurückzulegen und
waren somit täglich zehn bis elf Stunden (die Frühstückspause nicht mitgerechnet)
unterwegs. Unser Gefolge bestand aus Mr. Gradaus Boy, der, nebenbei
bemerkt, ein Mandarin der fünften Rangklasse ist und die Leitung des Ganzen
versah, unserem Boy und einem Koch. Dazu kamen noch die drei Kutscher
und zwei Eseltreiber. Proviant, soweit man solchen nicht unterwegs bekommen
konnte, hatten wir mitgenommen. Alles übrige bestand aus milden Gaben,
die wir uns erbettelt hatten. Frau Kierulff hatte uns Betten, Herr Kierulff
mir seinen Sommerhut und Frau v. P. Geschirr und verschiedenes andere
geliehen. So brachen wir denn heute vor vierzehn Tagen bei herrlichem Wetter
um Uhr morgens von hier auf. Der Weg selbst war wenig genußreich,
da er meist durch ausgetrocknete Flußbetten inmitten völlig kahler und baum¬
loser Hügel und Berge führte. Nur hin und wieder wurde die Einförmigkeit
dieser furchtbaren Öde durch ein schönes Landschaftsbild unterbrochen, so z. B.
bei Ku-pei-k'on, wo wir die große Mauer passierten. Der Ort liegt sehr malerisch,
von schön geformten Bergen umgeben; doch fand ich, daß die Mauer selbst bei
Ch'a-tao, wo wir im Herbste waren, einen viel großartigeren Eindruck machte,
weil man das gigantische Bauwerk besser überblicken und weiter verfolgen konnte.
Am fünften Tage langten wir auf der Paßhöhe Knäng-jeu-klug an, von wo
wir das malerische Tal von Jehol zu unseren Füßen liegen sahen. Den steilen
und steinigen Weg bergab mußten wir zu Fuß zurücklegen. Bald hatten wir
die Stadt Ch'eng te-fu erreicht, neben der Jehol liegt. Da sich selten Europäer
hierher verirren, war unser Gasthof sofort von einer unabsehbaren Menschen¬
menge umringt. Am nächsten Morgen schickten wir Mr. Gradaus Boy, der
zu diesem Zweck Staatstracht und eine Mütze mit dem Knopfe seiner Rangklasse


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[0648] Briefe aus Lhinci An seine Schwester. Peking, 8. Mai 1898. Meine liebe Weinande! Gestern sind wir glücklich und sehr befriedigt von unserer Reise nach Jehol henngekehrt. . . . Wir haben unseren Ausflug sehr genossen und die schönsten Erinnerungen heimgebracht. Doch ich will nicht vorgreifen, wie Paula Erbswurst sagt, und alles in chronologischer Reihenfolge berichten. Unsere Karawane bestand aus drei Karren mit je zwei Maultieren, lang gespannt, und drei Eseln. Lilly machte die ganze Reise auf dem Karren — ein Kunststück, das ihr wohl nicht leicht jemand nachmachen wird. Im Karren zu sitzen, vermag nur ein Chinese, andere Menschen geben nach wenigen Stunden des Herumgeschleudertwerdens ihren Geist auf, wenn sie welchen haben. So saß denn Lilly die ganze Zeit draußen und ließ die Beine stillvergnügt herunterbaumeln. Ihr gutes natür¬ liches Polster und ein Kissen, das ihr Frau v. P. geliehen hatte, unterem einigermaßen die Stöße. Immerhin war die Fahrt, die teils durch tiefen Sand, teils, und oft stundenlang, über große Steinblöcke ging, eine anerkennenswerte Leistung. Wir hatten jeden Tag fünfzig bis sechzig Kilometer zurückzulegen und waren somit täglich zehn bis elf Stunden (die Frühstückspause nicht mitgerechnet) unterwegs. Unser Gefolge bestand aus Mr. Gradaus Boy, der, nebenbei bemerkt, ein Mandarin der fünften Rangklasse ist und die Leitung des Ganzen versah, unserem Boy und einem Koch. Dazu kamen noch die drei Kutscher und zwei Eseltreiber. Proviant, soweit man solchen nicht unterwegs bekommen konnte, hatten wir mitgenommen. Alles übrige bestand aus milden Gaben, die wir uns erbettelt hatten. Frau Kierulff hatte uns Betten, Herr Kierulff mir seinen Sommerhut und Frau v. P. Geschirr und verschiedenes andere geliehen. So brachen wir denn heute vor vierzehn Tagen bei herrlichem Wetter um Uhr morgens von hier auf. Der Weg selbst war wenig genußreich, da er meist durch ausgetrocknete Flußbetten inmitten völlig kahler und baum¬ loser Hügel und Berge führte. Nur hin und wieder wurde die Einförmigkeit dieser furchtbaren Öde durch ein schönes Landschaftsbild unterbrochen, so z. B. bei Ku-pei-k'on, wo wir die große Mauer passierten. Der Ort liegt sehr malerisch, von schön geformten Bergen umgeben; doch fand ich, daß die Mauer selbst bei Ch'a-tao, wo wir im Herbste waren, einen viel großartigeren Eindruck machte, weil man das gigantische Bauwerk besser überblicken und weiter verfolgen konnte. Am fünften Tage langten wir auf der Paßhöhe Knäng-jeu-klug an, von wo wir das malerische Tal von Jehol zu unseren Füßen liegen sahen. Den steilen und steinigen Weg bergab mußten wir zu Fuß zurücklegen. Bald hatten wir die Stadt Ch'eng te-fu erreicht, neben der Jehol liegt. Da sich selten Europäer hierher verirren, war unser Gasthof sofort von einer unabsehbaren Menschen¬ menge umringt. Am nächsten Morgen schickten wir Mr. Gradaus Boy, der zu diesem Zweck Staatstracht und eine Mütze mit dem Knopfe seiner Rangklasse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/648>, abgerufen am 23.07.2024.