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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Alte Klagen, neue Fragen

das humanistische Gymnasium mit etwas verstärkten Realien und die lateinlose
Oberrealschule. Die Entwicklung der Dinge hat diesem Gedanken, so zweckmäßig
er im Prinzip war, nicht Recht gegeben, denn die Realgymnasien haben unzweifel¬
haft einen großen Aufschwung genommen, und die Mehrzahl der neugegründeten
Anstalten sind Realgymnasien. Der Grund dafür kann uur darin liegen, daß
man einerseits zwar die Realien und neueren Sprachen stark betont wissen,
anderseits aber doch das Latein nicht missen wollte. Hätte man mit diesem
Lateinbedürfnis bei der Konferenz von 1891 gerechnet, so wäre man vielleicht
auf eine" anderen Modus zu der Beseitigung der Realgymnasien als besonderer
Schulart gekommen, nämlich nicht auf ihre Aufhebung, sondern auf ihre Ver¬
schmelzung mit den Gymnasien und Oberrealschulen. Man hätte den natur¬
wissenschaftlichen Unterricht in den Gymnasien bedeutend verstärken und von
Tertia an Parallelklassen mit Englisch und verstärktem Französisch statt des
Griechischen einrichten und in die Oberrealschulen das Lateinische zwar nicht als
eigentliches Bildungsmittel, aber doch als Hilfswissenschaft und wirkliches Nebenfach
aufnehmen sollen. Gerade diese letztere Forderung hat jetzt der Allgemeine
deutsche Realschulverein aufgestellt. Einige Erläuterungen hierzu sind notwendig.

Das heutige Realgymnasium verlangt im ganzen bis U II dieselbe Sicherheit
in der lateinischen Gramatik wie das Gymnasium, und doch stehen von Quarta
an eine, von UIII an sogar drei Stunden weniger zur Verfügung. Die dadurch
herbeigeführte Unsicherheit in der Gramatik ist so auffallend, gedeihlicher Unter¬
richt dabei so erschwert, daß die Behörde anheimgibt, die Lektüre zugunsten der
Grammatik einzuschränken. Wie ist das mit der glücklich errungenen Erkenntnis,
daß die Einführung in den Geist des klassischen Altertums durch ausgiebige
Lektüre die Hauptsache sei, zu vereinen? Die Lehrpläne sagen mit Recht: "In
der I der Realgymnasien gehört fast die ganze Zeit der Lektüre; für ein
sicheres Verständnis ist hier ganz besonders Sorge zu tragen. Tastendem
Raten wird am wirksamsten durch Gründlichkeit der Ausbildung bei langsamem
Fortschreiten des Unterrichts vorgebeugt." Das langsame Fortschreiten ist bei
der geringen Stundenzahl freilich selbstverständlich, aber die Gründlichkeit der
Ausbildung, wozu doch in erster Linie grammatische Sicherheit gehört, ist aus
gleichen, Grunde unmöglich, und der Lateinunterricht des Realgymnasiums wird
dadurch zur unerfreulichsten aller Unterrichtsdisziplinen. Will man dieser Schulart,
ihrem Namen entsprechend, den gymnasialen Charakter erhalten, so muß man
ihr auch das Rückgrat aller gymnasialen Vorbildung, das Lateinische, im vollen
Umfange geben, nicht aber die Schüler, wie es jetzt ist, nur mit dem Lateinischen
bekannt machen und das "tastende Raten", den Todfeind aller wirklichen Bildung,
geradezu großziehen. Soll das Lateinische wirklich Bildungsmittel sein, so braucht
es die acht oder sieben Stunden des Gymnasiums, wobei nicht undenkbar wäre, daß
davon eine Stunde zurLektüre griechischer Werke in gutenUbersetzungenbenutzt würde.

Mit der Einführung des gleichen Lehrplanes im Lateinischen wäre der
wichtigste Schritt zur Verschmelzung mit dem Gymnasium geschehen. Ein zweiter


Alte Klagen, neue Fragen

das humanistische Gymnasium mit etwas verstärkten Realien und die lateinlose
Oberrealschule. Die Entwicklung der Dinge hat diesem Gedanken, so zweckmäßig
er im Prinzip war, nicht Recht gegeben, denn die Realgymnasien haben unzweifel¬
haft einen großen Aufschwung genommen, und die Mehrzahl der neugegründeten
Anstalten sind Realgymnasien. Der Grund dafür kann uur darin liegen, daß
man einerseits zwar die Realien und neueren Sprachen stark betont wissen,
anderseits aber doch das Latein nicht missen wollte. Hätte man mit diesem
Lateinbedürfnis bei der Konferenz von 1891 gerechnet, so wäre man vielleicht
auf eine» anderen Modus zu der Beseitigung der Realgymnasien als besonderer
Schulart gekommen, nämlich nicht auf ihre Aufhebung, sondern auf ihre Ver¬
schmelzung mit den Gymnasien und Oberrealschulen. Man hätte den natur¬
wissenschaftlichen Unterricht in den Gymnasien bedeutend verstärken und von
Tertia an Parallelklassen mit Englisch und verstärktem Französisch statt des
Griechischen einrichten und in die Oberrealschulen das Lateinische zwar nicht als
eigentliches Bildungsmittel, aber doch als Hilfswissenschaft und wirkliches Nebenfach
aufnehmen sollen. Gerade diese letztere Forderung hat jetzt der Allgemeine
deutsche Realschulverein aufgestellt. Einige Erläuterungen hierzu sind notwendig.

Das heutige Realgymnasium verlangt im ganzen bis U II dieselbe Sicherheit
in der lateinischen Gramatik wie das Gymnasium, und doch stehen von Quarta
an eine, von UIII an sogar drei Stunden weniger zur Verfügung. Die dadurch
herbeigeführte Unsicherheit in der Gramatik ist so auffallend, gedeihlicher Unter¬
richt dabei so erschwert, daß die Behörde anheimgibt, die Lektüre zugunsten der
Grammatik einzuschränken. Wie ist das mit der glücklich errungenen Erkenntnis,
daß die Einführung in den Geist des klassischen Altertums durch ausgiebige
Lektüre die Hauptsache sei, zu vereinen? Die Lehrpläne sagen mit Recht: „In
der I der Realgymnasien gehört fast die ganze Zeit der Lektüre; für ein
sicheres Verständnis ist hier ganz besonders Sorge zu tragen. Tastendem
Raten wird am wirksamsten durch Gründlichkeit der Ausbildung bei langsamem
Fortschreiten des Unterrichts vorgebeugt." Das langsame Fortschreiten ist bei
der geringen Stundenzahl freilich selbstverständlich, aber die Gründlichkeit der
Ausbildung, wozu doch in erster Linie grammatische Sicherheit gehört, ist aus
gleichen, Grunde unmöglich, und der Lateinunterricht des Realgymnasiums wird
dadurch zur unerfreulichsten aller Unterrichtsdisziplinen. Will man dieser Schulart,
ihrem Namen entsprechend, den gymnasialen Charakter erhalten, so muß man
ihr auch das Rückgrat aller gymnasialen Vorbildung, das Lateinische, im vollen
Umfange geben, nicht aber die Schüler, wie es jetzt ist, nur mit dem Lateinischen
bekannt machen und das „tastende Raten", den Todfeind aller wirklichen Bildung,
geradezu großziehen. Soll das Lateinische wirklich Bildungsmittel sein, so braucht
es die acht oder sieben Stunden des Gymnasiums, wobei nicht undenkbar wäre, daß
davon eine Stunde zurLektüre griechischer Werke in gutenUbersetzungenbenutzt würde.

Mit der Einführung des gleichen Lehrplanes im Lateinischen wäre der
wichtigste Schritt zur Verschmelzung mit dem Gymnasium geschehen. Ein zweiter


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[0645] Alte Klagen, neue Fragen das humanistische Gymnasium mit etwas verstärkten Realien und die lateinlose Oberrealschule. Die Entwicklung der Dinge hat diesem Gedanken, so zweckmäßig er im Prinzip war, nicht Recht gegeben, denn die Realgymnasien haben unzweifel¬ haft einen großen Aufschwung genommen, und die Mehrzahl der neugegründeten Anstalten sind Realgymnasien. Der Grund dafür kann uur darin liegen, daß man einerseits zwar die Realien und neueren Sprachen stark betont wissen, anderseits aber doch das Latein nicht missen wollte. Hätte man mit diesem Lateinbedürfnis bei der Konferenz von 1891 gerechnet, so wäre man vielleicht auf eine» anderen Modus zu der Beseitigung der Realgymnasien als besonderer Schulart gekommen, nämlich nicht auf ihre Aufhebung, sondern auf ihre Ver¬ schmelzung mit den Gymnasien und Oberrealschulen. Man hätte den natur¬ wissenschaftlichen Unterricht in den Gymnasien bedeutend verstärken und von Tertia an Parallelklassen mit Englisch und verstärktem Französisch statt des Griechischen einrichten und in die Oberrealschulen das Lateinische zwar nicht als eigentliches Bildungsmittel, aber doch als Hilfswissenschaft und wirkliches Nebenfach aufnehmen sollen. Gerade diese letztere Forderung hat jetzt der Allgemeine deutsche Realschulverein aufgestellt. Einige Erläuterungen hierzu sind notwendig. Das heutige Realgymnasium verlangt im ganzen bis U II dieselbe Sicherheit in der lateinischen Gramatik wie das Gymnasium, und doch stehen von Quarta an eine, von UIII an sogar drei Stunden weniger zur Verfügung. Die dadurch herbeigeführte Unsicherheit in der Gramatik ist so auffallend, gedeihlicher Unter¬ richt dabei so erschwert, daß die Behörde anheimgibt, die Lektüre zugunsten der Grammatik einzuschränken. Wie ist das mit der glücklich errungenen Erkenntnis, daß die Einführung in den Geist des klassischen Altertums durch ausgiebige Lektüre die Hauptsache sei, zu vereinen? Die Lehrpläne sagen mit Recht: „In der I der Realgymnasien gehört fast die ganze Zeit der Lektüre; für ein sicheres Verständnis ist hier ganz besonders Sorge zu tragen. Tastendem Raten wird am wirksamsten durch Gründlichkeit der Ausbildung bei langsamem Fortschreiten des Unterrichts vorgebeugt." Das langsame Fortschreiten ist bei der geringen Stundenzahl freilich selbstverständlich, aber die Gründlichkeit der Ausbildung, wozu doch in erster Linie grammatische Sicherheit gehört, ist aus gleichen, Grunde unmöglich, und der Lateinunterricht des Realgymnasiums wird dadurch zur unerfreulichsten aller Unterrichtsdisziplinen. Will man dieser Schulart, ihrem Namen entsprechend, den gymnasialen Charakter erhalten, so muß man ihr auch das Rückgrat aller gymnasialen Vorbildung, das Lateinische, im vollen Umfange geben, nicht aber die Schüler, wie es jetzt ist, nur mit dem Lateinischen bekannt machen und das „tastende Raten", den Todfeind aller wirklichen Bildung, geradezu großziehen. Soll das Lateinische wirklich Bildungsmittel sein, so braucht es die acht oder sieben Stunden des Gymnasiums, wobei nicht undenkbar wäre, daß davon eine Stunde zurLektüre griechischer Werke in gutenUbersetzungenbenutzt würde. Mit der Einführung des gleichen Lehrplanes im Lateinischen wäre der wichtigste Schritt zur Verschmelzung mit dem Gymnasium geschehen. Ein zweiter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/645>, abgerufen am 23.07.2024.