Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Stanislawski und das Moskaner "Künstlerische Theater

Es ist also kein Wunder, wenn da gerade Tschechows Stücke zur größten Voll¬
kommenheit geführt wurden.

Auch Stanislawski selbst steht in den Rollen, die er in Tschechows
Stücken spielt, auf der Höhe seines künstlerischen Schaffens und Könnens.
Sein Werschinin in dem Drama "Drei Schwestern", sein Gajew im "Kirch¬
garten" sind lebenzuckende Gestalten, die man nicht wieder vergißt, wie man
sie nicht vergessen hätte, wenn man ihnen auf der Straße des Lebens
begegnet wäre.

Nächst den Tschechowschen Rollen scheint mir die bedeutendste, die Stanis¬
lawski einstweilen geschaffen hat, die des Dr, Stockmann in Ibsens "Volksfeind".
Die Charaktere des Helden und seines Darstellers sind so nahe miteinander
verwandt, daß man glaubt sagen zu dürfen, sie seien einander auch äußerlich
ähnlich. Und hat nicht auch Stanislawskis Werdegang eine gewisse Ähnlichkeit
mit dem Schicksal des "Volksfeindes"? Steine könnte er genug sammeln. Die
Artikel der "Nowoje Wremja" allein würden eine stattliche Sammlung abgeben.
Das Suworinsche Blatt, das hinter dem Petersburger "Kleinen Theater" steht,
hat gesinnungslos, wie immer, nur deshalb Stanislawski mit geifernden! Munde
bekämpft, weil das "Kleine Theater" von einer bedeutenden Bühne zu einem
Vorstadttheater herabgesunken ist. Und beruhte der Kampf, den die übrige
Presse gegen Stanislawski geführt hat, nicht auf ganz ähnlichen Gründen?
Die deutsche Presse darf es sich zum Ruhme rechnen, fast ausnahmslos die
Bedeutung des Moskaner "Künstlerischen Theaters" bei seinem Siegeszuge durch
Deutschland und Österreich richtig erkannt und dargestellt zu haben. In der
traumhaft schönen Inszenierung, die die Moskaner Theaterkünstler Shakespeares
"Julius Cäsar" mit dem genialen Katschalow in der Titelrolle bereitet haben,
erlebten wir in Brutus-Stanislawski eine poesieverklärte, rassige Gestalt, die
wie lebendig gewordener Marmor wirkte, in Hamsnns "Lebensdrama" verhalf
Stanislawski der Figur des Kareno zu Leben, in Gribojedoffs klassischer Komödie
"Weh dem Klugen" machte er einen vorzüglichen Famussow. Das Moskaner
"Künstlerische Theater" weicht bei der Inszenierung und Einstudierung klassischer
Stücke, wie "Weh dem Klugen", "Der Revisor" von Gogol und des Sitten-
schilderers Ostrowski erheblich von der Tradition ab, in der diese Stücke seit
jeher von den kaiserlichen Bühnen zur Aufführung gebracht werden. Man hat
den Moskauern diese "Pietätlosigkeit" häufig zum Vorwurfe gemacht, dabei
freilich ganz übersehen, daß in diesem Falle die Überlieferung nur aufgegeben
wurde, um den Stücken zu künstlerisch bewegteren Leben zu verhelfen. Noch
zwei von Stanislawskis Bühnengestalten seien erwähnt: der alte General in
Ostrowskis "Auch der Klügste besitzt Einfalt genug", in dem Stanislawski
geradezu ein Symbol des reaktionären Geistes schafft, und der Rakitin aus
Turgenjeffs "Ein Monat auf dem Lande", in dem der Dichter sich selbst por¬
trätiert, seine eigene Lebenstragödie geschildert hat, was Stanislawski durch
Maskierung nach Turgenjeffschen Jugendporträts andeutet. Er führt hierin ein


Stanislawski und das Moskaner „Künstlerische Theater

Es ist also kein Wunder, wenn da gerade Tschechows Stücke zur größten Voll¬
kommenheit geführt wurden.

Auch Stanislawski selbst steht in den Rollen, die er in Tschechows
Stücken spielt, auf der Höhe seines künstlerischen Schaffens und Könnens.
Sein Werschinin in dem Drama „Drei Schwestern", sein Gajew im „Kirch¬
garten" sind lebenzuckende Gestalten, die man nicht wieder vergißt, wie man
sie nicht vergessen hätte, wenn man ihnen auf der Straße des Lebens
begegnet wäre.

Nächst den Tschechowschen Rollen scheint mir die bedeutendste, die Stanis¬
lawski einstweilen geschaffen hat, die des Dr, Stockmann in Ibsens „Volksfeind".
Die Charaktere des Helden und seines Darstellers sind so nahe miteinander
verwandt, daß man glaubt sagen zu dürfen, sie seien einander auch äußerlich
ähnlich. Und hat nicht auch Stanislawskis Werdegang eine gewisse Ähnlichkeit
mit dem Schicksal des „Volksfeindes"? Steine könnte er genug sammeln. Die
Artikel der „Nowoje Wremja" allein würden eine stattliche Sammlung abgeben.
Das Suworinsche Blatt, das hinter dem Petersburger „Kleinen Theater" steht,
hat gesinnungslos, wie immer, nur deshalb Stanislawski mit geifernden! Munde
bekämpft, weil das „Kleine Theater" von einer bedeutenden Bühne zu einem
Vorstadttheater herabgesunken ist. Und beruhte der Kampf, den die übrige
Presse gegen Stanislawski geführt hat, nicht auf ganz ähnlichen Gründen?
Die deutsche Presse darf es sich zum Ruhme rechnen, fast ausnahmslos die
Bedeutung des Moskaner „Künstlerischen Theaters" bei seinem Siegeszuge durch
Deutschland und Österreich richtig erkannt und dargestellt zu haben. In der
traumhaft schönen Inszenierung, die die Moskaner Theaterkünstler Shakespeares
„Julius Cäsar" mit dem genialen Katschalow in der Titelrolle bereitet haben,
erlebten wir in Brutus-Stanislawski eine poesieverklärte, rassige Gestalt, die
wie lebendig gewordener Marmor wirkte, in Hamsnns „Lebensdrama" verhalf
Stanislawski der Figur des Kareno zu Leben, in Gribojedoffs klassischer Komödie
„Weh dem Klugen" machte er einen vorzüglichen Famussow. Das Moskaner
„Künstlerische Theater" weicht bei der Inszenierung und Einstudierung klassischer
Stücke, wie „Weh dem Klugen", „Der Revisor" von Gogol und des Sitten-
schilderers Ostrowski erheblich von der Tradition ab, in der diese Stücke seit
jeher von den kaiserlichen Bühnen zur Aufführung gebracht werden. Man hat
den Moskauern diese „Pietätlosigkeit" häufig zum Vorwurfe gemacht, dabei
freilich ganz übersehen, daß in diesem Falle die Überlieferung nur aufgegeben
wurde, um den Stücken zu künstlerisch bewegteren Leben zu verhelfen. Noch
zwei von Stanislawskis Bühnengestalten seien erwähnt: der alte General in
Ostrowskis „Auch der Klügste besitzt Einfalt genug", in dem Stanislawski
geradezu ein Symbol des reaktionären Geistes schafft, und der Rakitin aus
Turgenjeffs „Ein Monat auf dem Lande", in dem der Dichter sich selbst por¬
trätiert, seine eigene Lebenstragödie geschildert hat, was Stanislawski durch
Maskierung nach Turgenjeffschen Jugendporträts andeutet. Er führt hierin ein


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0639" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320240"/>
          <fw type="header" place="top"> Stanislawski und das Moskaner &#x201E;Künstlerische Theater</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2732" prev="#ID_2731"> Es ist also kein Wunder, wenn da gerade Tschechows Stücke zur größten Voll¬<lb/>
kommenheit geführt wurden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2733"> Auch Stanislawski selbst steht in den Rollen, die er in Tschechows<lb/>
Stücken spielt, auf der Höhe seines künstlerischen Schaffens und Könnens.<lb/>
Sein Werschinin in dem Drama &#x201E;Drei Schwestern", sein Gajew im &#x201E;Kirch¬<lb/>
garten" sind lebenzuckende Gestalten, die man nicht wieder vergißt, wie man<lb/>
sie nicht vergessen hätte, wenn man ihnen auf der Straße des Lebens<lb/>
begegnet wäre.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2734" next="#ID_2735"> Nächst den Tschechowschen Rollen scheint mir die bedeutendste, die Stanis¬<lb/>
lawski einstweilen geschaffen hat, die des Dr, Stockmann in Ibsens &#x201E;Volksfeind".<lb/>
Die Charaktere des Helden und seines Darstellers sind so nahe miteinander<lb/>
verwandt, daß man glaubt sagen zu dürfen, sie seien einander auch äußerlich<lb/>
ähnlich. Und hat nicht auch Stanislawskis Werdegang eine gewisse Ähnlichkeit<lb/>
mit dem Schicksal des &#x201E;Volksfeindes"? Steine könnte er genug sammeln. Die<lb/>
Artikel der &#x201E;Nowoje Wremja" allein würden eine stattliche Sammlung abgeben.<lb/>
Das Suworinsche Blatt, das hinter dem Petersburger &#x201E;Kleinen Theater" steht,<lb/>
hat gesinnungslos, wie immer, nur deshalb Stanislawski mit geifernden! Munde<lb/>
bekämpft, weil das &#x201E;Kleine Theater" von einer bedeutenden Bühne zu einem<lb/>
Vorstadttheater herabgesunken ist.  Und beruhte der Kampf, den die übrige<lb/>
Presse gegen Stanislawski geführt hat, nicht auf ganz ähnlichen Gründen?<lb/>
Die deutsche Presse darf es sich zum Ruhme rechnen, fast ausnahmslos die<lb/>
Bedeutung des Moskaner &#x201E;Künstlerischen Theaters" bei seinem Siegeszuge durch<lb/>
Deutschland und Österreich richtig erkannt und dargestellt zu haben.  In der<lb/>
traumhaft schönen Inszenierung, die die Moskaner Theaterkünstler Shakespeares<lb/>
&#x201E;Julius Cäsar" mit dem genialen Katschalow in der Titelrolle bereitet haben,<lb/>
erlebten wir in Brutus-Stanislawski eine poesieverklärte, rassige Gestalt, die<lb/>
wie lebendig gewordener Marmor wirkte, in Hamsnns &#x201E;Lebensdrama" verhalf<lb/>
Stanislawski der Figur des Kareno zu Leben, in Gribojedoffs klassischer Komödie<lb/>
&#x201E;Weh dem Klugen" machte er einen vorzüglichen Famussow. Das Moskaner<lb/>
&#x201E;Künstlerische Theater" weicht bei der Inszenierung und Einstudierung klassischer<lb/>
Stücke, wie &#x201E;Weh dem Klugen", &#x201E;Der Revisor" von Gogol und des Sitten-<lb/>
schilderers Ostrowski erheblich von der Tradition ab, in der diese Stücke seit<lb/>
jeher von den kaiserlichen Bühnen zur Aufführung gebracht werden. Man hat<lb/>
den Moskauern diese &#x201E;Pietätlosigkeit" häufig zum Vorwurfe gemacht, dabei<lb/>
freilich ganz übersehen, daß in diesem Falle die Überlieferung nur aufgegeben<lb/>
wurde, um den Stücken zu künstlerisch bewegteren Leben zu verhelfen. Noch<lb/>
zwei von Stanislawskis Bühnengestalten seien erwähnt: der alte General in<lb/>
Ostrowskis &#x201E;Auch der Klügste besitzt Einfalt genug", in dem Stanislawski<lb/>
geradezu ein Symbol des reaktionären Geistes schafft, und der Rakitin aus<lb/>
Turgenjeffs &#x201E;Ein Monat auf dem Lande", in dem der Dichter sich selbst por¬<lb/>
trätiert, seine eigene Lebenstragödie geschildert hat, was Stanislawski durch<lb/>
Maskierung nach Turgenjeffschen Jugendporträts andeutet. Er führt hierin ein</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0639] Stanislawski und das Moskaner „Künstlerische Theater Es ist also kein Wunder, wenn da gerade Tschechows Stücke zur größten Voll¬ kommenheit geführt wurden. Auch Stanislawski selbst steht in den Rollen, die er in Tschechows Stücken spielt, auf der Höhe seines künstlerischen Schaffens und Könnens. Sein Werschinin in dem Drama „Drei Schwestern", sein Gajew im „Kirch¬ garten" sind lebenzuckende Gestalten, die man nicht wieder vergißt, wie man sie nicht vergessen hätte, wenn man ihnen auf der Straße des Lebens begegnet wäre. Nächst den Tschechowschen Rollen scheint mir die bedeutendste, die Stanis¬ lawski einstweilen geschaffen hat, die des Dr, Stockmann in Ibsens „Volksfeind". Die Charaktere des Helden und seines Darstellers sind so nahe miteinander verwandt, daß man glaubt sagen zu dürfen, sie seien einander auch äußerlich ähnlich. Und hat nicht auch Stanislawskis Werdegang eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schicksal des „Volksfeindes"? Steine könnte er genug sammeln. Die Artikel der „Nowoje Wremja" allein würden eine stattliche Sammlung abgeben. Das Suworinsche Blatt, das hinter dem Petersburger „Kleinen Theater" steht, hat gesinnungslos, wie immer, nur deshalb Stanislawski mit geifernden! Munde bekämpft, weil das „Kleine Theater" von einer bedeutenden Bühne zu einem Vorstadttheater herabgesunken ist. Und beruhte der Kampf, den die übrige Presse gegen Stanislawski geführt hat, nicht auf ganz ähnlichen Gründen? Die deutsche Presse darf es sich zum Ruhme rechnen, fast ausnahmslos die Bedeutung des Moskaner „Künstlerischen Theaters" bei seinem Siegeszuge durch Deutschland und Österreich richtig erkannt und dargestellt zu haben. In der traumhaft schönen Inszenierung, die die Moskaner Theaterkünstler Shakespeares „Julius Cäsar" mit dem genialen Katschalow in der Titelrolle bereitet haben, erlebten wir in Brutus-Stanislawski eine poesieverklärte, rassige Gestalt, die wie lebendig gewordener Marmor wirkte, in Hamsnns „Lebensdrama" verhalf Stanislawski der Figur des Kareno zu Leben, in Gribojedoffs klassischer Komödie „Weh dem Klugen" machte er einen vorzüglichen Famussow. Das Moskaner „Künstlerische Theater" weicht bei der Inszenierung und Einstudierung klassischer Stücke, wie „Weh dem Klugen", „Der Revisor" von Gogol und des Sitten- schilderers Ostrowski erheblich von der Tradition ab, in der diese Stücke seit jeher von den kaiserlichen Bühnen zur Aufführung gebracht werden. Man hat den Moskauern diese „Pietätlosigkeit" häufig zum Vorwurfe gemacht, dabei freilich ganz übersehen, daß in diesem Falle die Überlieferung nur aufgegeben wurde, um den Stücken zu künstlerisch bewegteren Leben zu verhelfen. Noch zwei von Stanislawskis Bühnengestalten seien erwähnt: der alte General in Ostrowskis „Auch der Klügste besitzt Einfalt genug", in dem Stanislawski geradezu ein Symbol des reaktionären Geistes schafft, und der Rakitin aus Turgenjeffs „Ein Monat auf dem Lande", in dem der Dichter sich selbst por¬ trätiert, seine eigene Lebenstragödie geschildert hat, was Stanislawski durch Maskierung nach Turgenjeffschen Jugendporträts andeutet. Er führt hierin ein

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/639
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/639>, abgerufen am 23.07.2024.