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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Stanislawski und das Moskaner "Aünstlerische Theater"

sich auch die stärkste künstlerische Individualität nicht auf Kosten der Gesamt¬
wirkung, des Zusammenspiels zur Geltung bringen, ja, sie soll womöglich vor
diesem zurücktreten, um dem Ganzen zu um so größerer Wirkung zu verhelfen.

Jene Periode seiner Wirksamkeit gab dem "Künstlerischen Theater" erst
seine eigentliche Physiognomie. Tschechow hatte damals sein Schauspiel "Die
Möwe" dem kaiserlichen Alexandratheater in Se. Petersburg gegeben. Die
kaiserlichen Theater in Nußland sind ein Kapua sür mimische Kräfte, die in
ihnen leider allzubald Sinekuren erblicken und so für die wahre Kunst abstumpfen.
Was sollten diese Komödianten mit einer Kunst machen, die zart, in halben
Tönen gehalten, einen Ausschnitt des russischen Lebens gibt, der damals die
Gegenwart war! Sie haben Tschechows Stück zerrissen, zerhackt, statt con
sorctino des Dichters Welt wiederzugeben. Ihre eigene, nicht des Dichters
Auffassung haben sie hinausposaunt. Die "Möwe" fiel glänzend durch. Tschechow,
ganz aus der Fassung gebracht, verschwor sich, nie wieder ans Theater zu denken.
Nun stieß Stanislawski auf seiner bisher erfolglos gebliebenen Suche nach
einem gehaltvollen russischen Drama auf die "Möwe", und trotz ihres schein¬
baren Mißerfolges an der Petersburger Bühne betrieb er mit Feuereifer ihre
Einstudierung in seinem Theater. Er selbst spielte den Trigorin. Auf die
Inszenierung war die größte Mühe verwandt worden. Man mochte empfinden,
daß man mit Tschechow an einer entscheidenden Wendung stand, und man
versprach sich unbedingten Erfolg. Aber als der Vorhang nach dem erstell
Akt niederging, herrschte im Publikum Grabesstille. Hinter dem Vorhang hielt
man alles für verloren. Da brach plötzlich ein wilder Sturm der Begeisterung
los, der kein Ende nehmen wollte. Das Schicksal des Dramatikers Tschechow
war entschieden. Aber auch sür das "Künstlerische Theater" bedeutete dieser
Erfolg einen Wendepunkt: es wurde von da ab im besten Sinne das Theater
Tschechows, und dankbar hat es die fliegende Möwe zu seinem signee gemacht.
Durch diesen Erfolg ermuntert, kehrte Tschechow wieder zum Drama zurück.
Es entstanden die Schauspiele "Onkel Wanja", "Drei Schwestern", "Kirsch¬
garten", die der Dichter schon für das "Künstlerische Theater" schrieb, und die
dieses mit einer künstlerischen Vollendung inszenierte und darstellte, wie kein
anderes Theater sie jemals seine Zuschauer erleben lassen wird. Tschechow
bedeutet den Höhepunkt der Leistungsfähigkeit der Moskaner Künstler. Damit
soll nun keineswegs gesagt sein, daß ihre übrigen Leistungen niedrig einzuschätzen
wären. Tschechow gab Rußland, gab jenes Milieu von Rußland, dem die
Künstler selbst angehörten, wen sollten sie wohl besser verstehen und erfassen
können, als ihn, wessen Gestalten trefflicher verkörpern als die seinen, die
Blut von ihrem Blut und Fleisch von ihren: Fleisch waren! Außerdem war
der Dichter durch seine Vermählung mit Olga Kniper, die zu den begabtesten
und temperamentvollsten Mitgliedern des "Künstlerischen Theaters" gehört, dem
Theater auch menschlich immer näher getreten. Dichter und Darsteller hatten
sich so ineinander eingelebt, wie es nur in seltenen Ausnahmefällen vorkommt.


Stanislawski und das Moskaner „Aünstlerische Theater"

sich auch die stärkste künstlerische Individualität nicht auf Kosten der Gesamt¬
wirkung, des Zusammenspiels zur Geltung bringen, ja, sie soll womöglich vor
diesem zurücktreten, um dem Ganzen zu um so größerer Wirkung zu verhelfen.

Jene Periode seiner Wirksamkeit gab dem „Künstlerischen Theater" erst
seine eigentliche Physiognomie. Tschechow hatte damals sein Schauspiel „Die
Möwe" dem kaiserlichen Alexandratheater in Se. Petersburg gegeben. Die
kaiserlichen Theater in Nußland sind ein Kapua sür mimische Kräfte, die in
ihnen leider allzubald Sinekuren erblicken und so für die wahre Kunst abstumpfen.
Was sollten diese Komödianten mit einer Kunst machen, die zart, in halben
Tönen gehalten, einen Ausschnitt des russischen Lebens gibt, der damals die
Gegenwart war! Sie haben Tschechows Stück zerrissen, zerhackt, statt con
sorctino des Dichters Welt wiederzugeben. Ihre eigene, nicht des Dichters
Auffassung haben sie hinausposaunt. Die „Möwe" fiel glänzend durch. Tschechow,
ganz aus der Fassung gebracht, verschwor sich, nie wieder ans Theater zu denken.
Nun stieß Stanislawski auf seiner bisher erfolglos gebliebenen Suche nach
einem gehaltvollen russischen Drama auf die „Möwe", und trotz ihres schein¬
baren Mißerfolges an der Petersburger Bühne betrieb er mit Feuereifer ihre
Einstudierung in seinem Theater. Er selbst spielte den Trigorin. Auf die
Inszenierung war die größte Mühe verwandt worden. Man mochte empfinden,
daß man mit Tschechow an einer entscheidenden Wendung stand, und man
versprach sich unbedingten Erfolg. Aber als der Vorhang nach dem erstell
Akt niederging, herrschte im Publikum Grabesstille. Hinter dem Vorhang hielt
man alles für verloren. Da brach plötzlich ein wilder Sturm der Begeisterung
los, der kein Ende nehmen wollte. Das Schicksal des Dramatikers Tschechow
war entschieden. Aber auch sür das „Künstlerische Theater" bedeutete dieser
Erfolg einen Wendepunkt: es wurde von da ab im besten Sinne das Theater
Tschechows, und dankbar hat es die fliegende Möwe zu seinem signee gemacht.
Durch diesen Erfolg ermuntert, kehrte Tschechow wieder zum Drama zurück.
Es entstanden die Schauspiele „Onkel Wanja", „Drei Schwestern", „Kirsch¬
garten", die der Dichter schon für das „Künstlerische Theater" schrieb, und die
dieses mit einer künstlerischen Vollendung inszenierte und darstellte, wie kein
anderes Theater sie jemals seine Zuschauer erleben lassen wird. Tschechow
bedeutet den Höhepunkt der Leistungsfähigkeit der Moskaner Künstler. Damit
soll nun keineswegs gesagt sein, daß ihre übrigen Leistungen niedrig einzuschätzen
wären. Tschechow gab Rußland, gab jenes Milieu von Rußland, dem die
Künstler selbst angehörten, wen sollten sie wohl besser verstehen und erfassen
können, als ihn, wessen Gestalten trefflicher verkörpern als die seinen, die
Blut von ihrem Blut und Fleisch von ihren: Fleisch waren! Außerdem war
der Dichter durch seine Vermählung mit Olga Kniper, die zu den begabtesten
und temperamentvollsten Mitgliedern des „Künstlerischen Theaters" gehört, dem
Theater auch menschlich immer näher getreten. Dichter und Darsteller hatten
sich so ineinander eingelebt, wie es nur in seltenen Ausnahmefällen vorkommt.


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[0638] Stanislawski und das Moskaner „Aünstlerische Theater" sich auch die stärkste künstlerische Individualität nicht auf Kosten der Gesamt¬ wirkung, des Zusammenspiels zur Geltung bringen, ja, sie soll womöglich vor diesem zurücktreten, um dem Ganzen zu um so größerer Wirkung zu verhelfen. Jene Periode seiner Wirksamkeit gab dem „Künstlerischen Theater" erst seine eigentliche Physiognomie. Tschechow hatte damals sein Schauspiel „Die Möwe" dem kaiserlichen Alexandratheater in Se. Petersburg gegeben. Die kaiserlichen Theater in Nußland sind ein Kapua sür mimische Kräfte, die in ihnen leider allzubald Sinekuren erblicken und so für die wahre Kunst abstumpfen. Was sollten diese Komödianten mit einer Kunst machen, die zart, in halben Tönen gehalten, einen Ausschnitt des russischen Lebens gibt, der damals die Gegenwart war! Sie haben Tschechows Stück zerrissen, zerhackt, statt con sorctino des Dichters Welt wiederzugeben. Ihre eigene, nicht des Dichters Auffassung haben sie hinausposaunt. Die „Möwe" fiel glänzend durch. Tschechow, ganz aus der Fassung gebracht, verschwor sich, nie wieder ans Theater zu denken. Nun stieß Stanislawski auf seiner bisher erfolglos gebliebenen Suche nach einem gehaltvollen russischen Drama auf die „Möwe", und trotz ihres schein¬ baren Mißerfolges an der Petersburger Bühne betrieb er mit Feuereifer ihre Einstudierung in seinem Theater. Er selbst spielte den Trigorin. Auf die Inszenierung war die größte Mühe verwandt worden. Man mochte empfinden, daß man mit Tschechow an einer entscheidenden Wendung stand, und man versprach sich unbedingten Erfolg. Aber als der Vorhang nach dem erstell Akt niederging, herrschte im Publikum Grabesstille. Hinter dem Vorhang hielt man alles für verloren. Da brach plötzlich ein wilder Sturm der Begeisterung los, der kein Ende nehmen wollte. Das Schicksal des Dramatikers Tschechow war entschieden. Aber auch sür das „Künstlerische Theater" bedeutete dieser Erfolg einen Wendepunkt: es wurde von da ab im besten Sinne das Theater Tschechows, und dankbar hat es die fliegende Möwe zu seinem signee gemacht. Durch diesen Erfolg ermuntert, kehrte Tschechow wieder zum Drama zurück. Es entstanden die Schauspiele „Onkel Wanja", „Drei Schwestern", „Kirsch¬ garten", die der Dichter schon für das „Künstlerische Theater" schrieb, und die dieses mit einer künstlerischen Vollendung inszenierte und darstellte, wie kein anderes Theater sie jemals seine Zuschauer erleben lassen wird. Tschechow bedeutet den Höhepunkt der Leistungsfähigkeit der Moskaner Künstler. Damit soll nun keineswegs gesagt sein, daß ihre übrigen Leistungen niedrig einzuschätzen wären. Tschechow gab Rußland, gab jenes Milieu von Rußland, dem die Künstler selbst angehörten, wen sollten sie wohl besser verstehen und erfassen können, als ihn, wessen Gestalten trefflicher verkörpern als die seinen, die Blut von ihrem Blut und Fleisch von ihren: Fleisch waren! Außerdem war der Dichter durch seine Vermählung mit Olga Kniper, die zu den begabtesten und temperamentvollsten Mitgliedern des „Künstlerischen Theaters" gehört, dem Theater auch menschlich immer näher getreten. Dichter und Darsteller hatten sich so ineinander eingelebt, wie es nur in seltenen Ausnahmefällen vorkommt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/638>, abgerufen am 23.07.2024.