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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Stanislawski und das Moskaner "Künstlerische Theater"

eine ernsten Aufgaben gewachsene Truppe zusammenzubringen, die in geistiger
Beziehung etwas harmonisch Abgeschlossenes darstellte, war nicht leicht. Die
Schauspieler wurden zuerst aus den Liebhabern, die Stanislawski herangebildet,
und den von "praktischer Erfahrung" noch unverdorbenen Schülern, die
Nemirowitsch geschult hatte, gewählt. Da dieser Personalbestand nicht aus¬
reichte, zog man noch einige Schauspieler aus der Provinz heran, die zwar
begabt waren, aber doch erst die tote Routine verlernen mußten, die sie natür¬
lich mitbrachten. Einen Sommer lang bereitete man sich in harter Arbeit für
den Beginn des neuen "Öffentlichen künstlerischen Theaters" vor. Im
Herbst wurde ein Privattheater gemietet, das mit dem historischen Drama
"Zar Fjodor" von Graf Alexej Tolstoi eröffnet wurde. Das historische Milieu,
das keine besondere psychologische Vertiefung erforderte, sollte den Schauspielern,
die sich noch nicht genügend eingearbeitet, noch nicht endgültig "zusammengespielt"
hatten, ihre Aufgabe erleichtern. Der Erfolg der Aufführungen war groß,
allein er erstreckte sich wiederum nur auf einen Teil des Publikums. Das
Theater füllte sich selten. Man mußte verhältnismäßig häufig das Repertoire
wechseln. In der ersten Saison wurden zehn Stücke einstudiert. Zu diesen
gehörten die "Antigone" des Sophokles, Hauptmanns "Versunkene Glocke", in
der Stanislawski den Heinrich gab, "Wenn wir Toten erwachen" von Ibsen
und seine "Hedda Gabler", in der Stanislawski die Rolle des Lövborg über¬
nommen hatte. Der talentvolle Regisseur des Theaters der oben erwähnten
Frau Wera Kommissarshewskaja gehörte zu jener Zeit der Stanislawskischen
Truppe an. Er erzählte mir, welchen Eindruck Stanislawski-Lövborg bei der
Generalprobe in der Szene gemacht habe, wo er in der durchzechten Nacht sein
Manuskript verloren hat und betrunken, halb wahnsinnig, bei Hedda erscheint.
Stanislawski, der sonst stets sein mächtiges Temperament bändigt und verbirgt,
ließ ihm in dieser Szene freien Lauf; gleich bei seinem Erscheinen auf der
Bühne machte er einen so tiefen Eindruck auf die Zuschauer, daß alle sich von
ihren Plätzen erhoben. Und schon bei der Probe wurde ihm eine begeisterte
Ovation bereitet. Sonow, auf dessen Urteil man sich verlassen kann, schloß
seinen Bericht mit den Worten: "Ich habe Salvini in allen seinen Glanzrollen,
ich habe die meisten hervorragenden Mimen der Gegenwart gesehen, aber was
ergreifende, erschütternde Kraft des Temperamentes anbetrifft, so ist jene General¬
probe ein in meinem Leben einzig dastehender Eindruck geblieben". Sonow
sagte, "bei der Generalprobe", denn bei den Aufführungen, deren künstlerischer
Eindruck durch eine herzlich schlechte Hedda, welche Frau Andrejewa, die jetzige
Gattin Maxim Gorkis, gab, beeinträchtigt wurde, dämpfte Stanislawski, wie
gewöhnlich, den Durchbruch seines Temperaments, vermied er fast ängstlich jeg¬
liche Betonung seiner künstlerischen Individualität, um nur ja nicht vor den
übrigen Schauspielern abzustechen und in den Vordergrund zu treten. Das ist
für Stanislawskis Persönlichkeit ebenso charakteristisch, wie für das künstlerische
Glaubensbekenntnis, das er mit seinem Theater ablegt. Auf der Bühne soll


Stanislawski und das Moskaner „Künstlerische Theater"

eine ernsten Aufgaben gewachsene Truppe zusammenzubringen, die in geistiger
Beziehung etwas harmonisch Abgeschlossenes darstellte, war nicht leicht. Die
Schauspieler wurden zuerst aus den Liebhabern, die Stanislawski herangebildet,
und den von „praktischer Erfahrung" noch unverdorbenen Schülern, die
Nemirowitsch geschult hatte, gewählt. Da dieser Personalbestand nicht aus¬
reichte, zog man noch einige Schauspieler aus der Provinz heran, die zwar
begabt waren, aber doch erst die tote Routine verlernen mußten, die sie natür¬
lich mitbrachten. Einen Sommer lang bereitete man sich in harter Arbeit für
den Beginn des neuen „Öffentlichen künstlerischen Theaters" vor. Im
Herbst wurde ein Privattheater gemietet, das mit dem historischen Drama
„Zar Fjodor" von Graf Alexej Tolstoi eröffnet wurde. Das historische Milieu,
das keine besondere psychologische Vertiefung erforderte, sollte den Schauspielern,
die sich noch nicht genügend eingearbeitet, noch nicht endgültig „zusammengespielt"
hatten, ihre Aufgabe erleichtern. Der Erfolg der Aufführungen war groß,
allein er erstreckte sich wiederum nur auf einen Teil des Publikums. Das
Theater füllte sich selten. Man mußte verhältnismäßig häufig das Repertoire
wechseln. In der ersten Saison wurden zehn Stücke einstudiert. Zu diesen
gehörten die „Antigone" des Sophokles, Hauptmanns „Versunkene Glocke", in
der Stanislawski den Heinrich gab, „Wenn wir Toten erwachen" von Ibsen
und seine „Hedda Gabler", in der Stanislawski die Rolle des Lövborg über¬
nommen hatte. Der talentvolle Regisseur des Theaters der oben erwähnten
Frau Wera Kommissarshewskaja gehörte zu jener Zeit der Stanislawskischen
Truppe an. Er erzählte mir, welchen Eindruck Stanislawski-Lövborg bei der
Generalprobe in der Szene gemacht habe, wo er in der durchzechten Nacht sein
Manuskript verloren hat und betrunken, halb wahnsinnig, bei Hedda erscheint.
Stanislawski, der sonst stets sein mächtiges Temperament bändigt und verbirgt,
ließ ihm in dieser Szene freien Lauf; gleich bei seinem Erscheinen auf der
Bühne machte er einen so tiefen Eindruck auf die Zuschauer, daß alle sich von
ihren Plätzen erhoben. Und schon bei der Probe wurde ihm eine begeisterte
Ovation bereitet. Sonow, auf dessen Urteil man sich verlassen kann, schloß
seinen Bericht mit den Worten: „Ich habe Salvini in allen seinen Glanzrollen,
ich habe die meisten hervorragenden Mimen der Gegenwart gesehen, aber was
ergreifende, erschütternde Kraft des Temperamentes anbetrifft, so ist jene General¬
probe ein in meinem Leben einzig dastehender Eindruck geblieben". Sonow
sagte, „bei der Generalprobe", denn bei den Aufführungen, deren künstlerischer
Eindruck durch eine herzlich schlechte Hedda, welche Frau Andrejewa, die jetzige
Gattin Maxim Gorkis, gab, beeinträchtigt wurde, dämpfte Stanislawski, wie
gewöhnlich, den Durchbruch seines Temperaments, vermied er fast ängstlich jeg¬
liche Betonung seiner künstlerischen Individualität, um nur ja nicht vor den
übrigen Schauspielern abzustechen und in den Vordergrund zu treten. Das ist
für Stanislawskis Persönlichkeit ebenso charakteristisch, wie für das künstlerische
Glaubensbekenntnis, das er mit seinem Theater ablegt. Auf der Bühne soll


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[0637] Stanislawski und das Moskaner „Künstlerische Theater" eine ernsten Aufgaben gewachsene Truppe zusammenzubringen, die in geistiger Beziehung etwas harmonisch Abgeschlossenes darstellte, war nicht leicht. Die Schauspieler wurden zuerst aus den Liebhabern, die Stanislawski herangebildet, und den von „praktischer Erfahrung" noch unverdorbenen Schülern, die Nemirowitsch geschult hatte, gewählt. Da dieser Personalbestand nicht aus¬ reichte, zog man noch einige Schauspieler aus der Provinz heran, die zwar begabt waren, aber doch erst die tote Routine verlernen mußten, die sie natür¬ lich mitbrachten. Einen Sommer lang bereitete man sich in harter Arbeit für den Beginn des neuen „Öffentlichen künstlerischen Theaters" vor. Im Herbst wurde ein Privattheater gemietet, das mit dem historischen Drama „Zar Fjodor" von Graf Alexej Tolstoi eröffnet wurde. Das historische Milieu, das keine besondere psychologische Vertiefung erforderte, sollte den Schauspielern, die sich noch nicht genügend eingearbeitet, noch nicht endgültig „zusammengespielt" hatten, ihre Aufgabe erleichtern. Der Erfolg der Aufführungen war groß, allein er erstreckte sich wiederum nur auf einen Teil des Publikums. Das Theater füllte sich selten. Man mußte verhältnismäßig häufig das Repertoire wechseln. In der ersten Saison wurden zehn Stücke einstudiert. Zu diesen gehörten die „Antigone" des Sophokles, Hauptmanns „Versunkene Glocke", in der Stanislawski den Heinrich gab, „Wenn wir Toten erwachen" von Ibsen und seine „Hedda Gabler", in der Stanislawski die Rolle des Lövborg über¬ nommen hatte. Der talentvolle Regisseur des Theaters der oben erwähnten Frau Wera Kommissarshewskaja gehörte zu jener Zeit der Stanislawskischen Truppe an. Er erzählte mir, welchen Eindruck Stanislawski-Lövborg bei der Generalprobe in der Szene gemacht habe, wo er in der durchzechten Nacht sein Manuskript verloren hat und betrunken, halb wahnsinnig, bei Hedda erscheint. Stanislawski, der sonst stets sein mächtiges Temperament bändigt und verbirgt, ließ ihm in dieser Szene freien Lauf; gleich bei seinem Erscheinen auf der Bühne machte er einen so tiefen Eindruck auf die Zuschauer, daß alle sich von ihren Plätzen erhoben. Und schon bei der Probe wurde ihm eine begeisterte Ovation bereitet. Sonow, auf dessen Urteil man sich verlassen kann, schloß seinen Bericht mit den Worten: „Ich habe Salvini in allen seinen Glanzrollen, ich habe die meisten hervorragenden Mimen der Gegenwart gesehen, aber was ergreifende, erschütternde Kraft des Temperamentes anbetrifft, so ist jene General¬ probe ein in meinem Leben einzig dastehender Eindruck geblieben". Sonow sagte, „bei der Generalprobe", denn bei den Aufführungen, deren künstlerischer Eindruck durch eine herzlich schlechte Hedda, welche Frau Andrejewa, die jetzige Gattin Maxim Gorkis, gab, beeinträchtigt wurde, dämpfte Stanislawski, wie gewöhnlich, den Durchbruch seines Temperaments, vermied er fast ängstlich jeg¬ liche Betonung seiner künstlerischen Individualität, um nur ja nicht vor den übrigen Schauspielern abzustechen und in den Vordergrund zu treten. Das ist für Stanislawskis Persönlichkeit ebenso charakteristisch, wie für das künstlerische Glaubensbekenntnis, das er mit seinem Theater ablegt. Auf der Bühne soll

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/637>, abgerufen am 23.07.2024.