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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Stanislawski und das Moskaner "Uünstlerischc Theater"

seines Vaters in eines von dessen Fabrikkontoren als Kaufmann eintreten. Die
Alexejews hatten unterdessen den in Moskau nicht ungewöhnlichen Weg vom
einfachen Bauern zum Großhändler und Großindustriellen zurückgelegt. Einer
der Brüder von Stanislawski wurde als Stadthaupt, d. i. Bürgermeister, aus
kommunalpolitischen Gründen erschossen. Die aufgenötigte kaufmännische Lauf¬
bahn behagte Stanislawski so wenig, daß er tat, was so viele Moskaner Kauf¬
mannssöhne tun: er begann gehörig zu bummeln, um sich über die grauen
Kontorstnnden hinwegzutäuschen. "Mich rettete damals," so erzählte er selbst
einmal in einer öffentlichen Rede, "das kaiserliche .Kleine Theater' zu Moskau,
seine großen künstlerischen Individualitäten, wie die Jermolowa, Lenski und
andere." Gar bald regte sich in Stanislawski das Verlangen, selbst auf der
Bühne mitzuspielen. Er besaß eine gute Stimme und ließ sich daher von den:
berühmten Sänger und Gesanglehrer Kommissarshewski ausbilden. (Fjodor
Kommissarshewski starb nach einer glänzenden künstlerischen Laufbahn kürzlich in
Italien, das ihm eine zweite Heimat geworden war. Er ist der Vater von
Wera Kommissarshewskaja, einer der rührendsten Gestalten der russischen Bühne,
einem erklärten Liebling des gesamten russischen Theaterpublikums. Auf einer
Gastspielreise im asiatischen Rußland wurde die hochbegabte junge Künstlerin
beim Einkauf orientalischer Teppiche von den schwarzen Pocken befallen. Ihr
Leichenzug gestaltete sich zu einer glänzenden Huldigung des ganzen gebildeten
Rußlands.)

Nach Ausbildung seiner stimmlichen Mittel sammelte Stanislawski einen
Kreis von Liebhabern um sich, der zuerst mir in Privathäusern, dann auch in
Vereinen und Klubs sich bemühte, Opern und Operetten künstlerisch zu inszenieren.
Stanislawski selbst sang bei diesen Aufführungen, bei denen, wie gesagt, bereits
das künstlerische Element in den Vordergrund gerückt wurde, Baritonpartien, so
den Ruslan in Glinkas Oper "Ruslan und Ludmila". Diese dilettantischen
Bemühungen allein vermochten aber den unruhig suchenden Stanislawski nicht
lange zu befriedigen; er rief deshalb mit seinem Lehrer Kommissarshewski und
mit Fedotow, dem Gatten der berühmten Schauspielerin gleichen Namens, eine
"Gesellschaft für Literatur und Kunst" ins Leben, in der die ersten Versuche
zur Umgestaltung des Theaterbetriebes gemacht wurden. Vor allein sollte der
Bühne ein Zug des wirklichen, pulsierenden Lebens aufgeprägt werden. Die
Schauspieler wollte man wieder zu wahrer mimischer Kunst erziehen. Die neu¬
gegründete Gesellschaft bildete sich allmählich eine ständige Truppe heran, die
vorwiegend aus Liebhabern bestand. Man spielte damals in einem Privattheater
des Ochotny Rjad. Stanislawski hatte in dieses Unternehmen den größten Teil
seines Vermögens hineingesteckt, allein alle ernsten Bemühungen blieben lange
Zeit erfolglos. Die Aufführungen fanden einstweilen vor leeren Häusern statt,
ohne beim großen Publikum Beachtung zu finden. Nur einzelne kunstverständige
Persönlichkeiten vermochten den Ernst richtig zu werten, mit dein die Bühnen¬
mitglieder an ihre künstlerischen Aufgaben herantraten. Diese Wenigen veranlaßten


Stanislawski und das Moskaner „Uünstlerischc Theater"

seines Vaters in eines von dessen Fabrikkontoren als Kaufmann eintreten. Die
Alexejews hatten unterdessen den in Moskau nicht ungewöhnlichen Weg vom
einfachen Bauern zum Großhändler und Großindustriellen zurückgelegt. Einer
der Brüder von Stanislawski wurde als Stadthaupt, d. i. Bürgermeister, aus
kommunalpolitischen Gründen erschossen. Die aufgenötigte kaufmännische Lauf¬
bahn behagte Stanislawski so wenig, daß er tat, was so viele Moskaner Kauf¬
mannssöhne tun: er begann gehörig zu bummeln, um sich über die grauen
Kontorstnnden hinwegzutäuschen. „Mich rettete damals," so erzählte er selbst
einmal in einer öffentlichen Rede, „das kaiserliche .Kleine Theater' zu Moskau,
seine großen künstlerischen Individualitäten, wie die Jermolowa, Lenski und
andere." Gar bald regte sich in Stanislawski das Verlangen, selbst auf der
Bühne mitzuspielen. Er besaß eine gute Stimme und ließ sich daher von den:
berühmten Sänger und Gesanglehrer Kommissarshewski ausbilden. (Fjodor
Kommissarshewski starb nach einer glänzenden künstlerischen Laufbahn kürzlich in
Italien, das ihm eine zweite Heimat geworden war. Er ist der Vater von
Wera Kommissarshewskaja, einer der rührendsten Gestalten der russischen Bühne,
einem erklärten Liebling des gesamten russischen Theaterpublikums. Auf einer
Gastspielreise im asiatischen Rußland wurde die hochbegabte junge Künstlerin
beim Einkauf orientalischer Teppiche von den schwarzen Pocken befallen. Ihr
Leichenzug gestaltete sich zu einer glänzenden Huldigung des ganzen gebildeten
Rußlands.)

Nach Ausbildung seiner stimmlichen Mittel sammelte Stanislawski einen
Kreis von Liebhabern um sich, der zuerst mir in Privathäusern, dann auch in
Vereinen und Klubs sich bemühte, Opern und Operetten künstlerisch zu inszenieren.
Stanislawski selbst sang bei diesen Aufführungen, bei denen, wie gesagt, bereits
das künstlerische Element in den Vordergrund gerückt wurde, Baritonpartien, so
den Ruslan in Glinkas Oper „Ruslan und Ludmila". Diese dilettantischen
Bemühungen allein vermochten aber den unruhig suchenden Stanislawski nicht
lange zu befriedigen; er rief deshalb mit seinem Lehrer Kommissarshewski und
mit Fedotow, dem Gatten der berühmten Schauspielerin gleichen Namens, eine
„Gesellschaft für Literatur und Kunst" ins Leben, in der die ersten Versuche
zur Umgestaltung des Theaterbetriebes gemacht wurden. Vor allein sollte der
Bühne ein Zug des wirklichen, pulsierenden Lebens aufgeprägt werden. Die
Schauspieler wollte man wieder zu wahrer mimischer Kunst erziehen. Die neu¬
gegründete Gesellschaft bildete sich allmählich eine ständige Truppe heran, die
vorwiegend aus Liebhabern bestand. Man spielte damals in einem Privattheater
des Ochotny Rjad. Stanislawski hatte in dieses Unternehmen den größten Teil
seines Vermögens hineingesteckt, allein alle ernsten Bemühungen blieben lange
Zeit erfolglos. Die Aufführungen fanden einstweilen vor leeren Häusern statt,
ohne beim großen Publikum Beachtung zu finden. Nur einzelne kunstverständige
Persönlichkeiten vermochten den Ernst richtig zu werten, mit dein die Bühnen¬
mitglieder an ihre künstlerischen Aufgaben herantraten. Diese Wenigen veranlaßten


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[0635] Stanislawski und das Moskaner „Uünstlerischc Theater" seines Vaters in eines von dessen Fabrikkontoren als Kaufmann eintreten. Die Alexejews hatten unterdessen den in Moskau nicht ungewöhnlichen Weg vom einfachen Bauern zum Großhändler und Großindustriellen zurückgelegt. Einer der Brüder von Stanislawski wurde als Stadthaupt, d. i. Bürgermeister, aus kommunalpolitischen Gründen erschossen. Die aufgenötigte kaufmännische Lauf¬ bahn behagte Stanislawski so wenig, daß er tat, was so viele Moskaner Kauf¬ mannssöhne tun: er begann gehörig zu bummeln, um sich über die grauen Kontorstnnden hinwegzutäuschen. „Mich rettete damals," so erzählte er selbst einmal in einer öffentlichen Rede, „das kaiserliche .Kleine Theater' zu Moskau, seine großen künstlerischen Individualitäten, wie die Jermolowa, Lenski und andere." Gar bald regte sich in Stanislawski das Verlangen, selbst auf der Bühne mitzuspielen. Er besaß eine gute Stimme und ließ sich daher von den: berühmten Sänger und Gesanglehrer Kommissarshewski ausbilden. (Fjodor Kommissarshewski starb nach einer glänzenden künstlerischen Laufbahn kürzlich in Italien, das ihm eine zweite Heimat geworden war. Er ist der Vater von Wera Kommissarshewskaja, einer der rührendsten Gestalten der russischen Bühne, einem erklärten Liebling des gesamten russischen Theaterpublikums. Auf einer Gastspielreise im asiatischen Rußland wurde die hochbegabte junge Künstlerin beim Einkauf orientalischer Teppiche von den schwarzen Pocken befallen. Ihr Leichenzug gestaltete sich zu einer glänzenden Huldigung des ganzen gebildeten Rußlands.) Nach Ausbildung seiner stimmlichen Mittel sammelte Stanislawski einen Kreis von Liebhabern um sich, der zuerst mir in Privathäusern, dann auch in Vereinen und Klubs sich bemühte, Opern und Operetten künstlerisch zu inszenieren. Stanislawski selbst sang bei diesen Aufführungen, bei denen, wie gesagt, bereits das künstlerische Element in den Vordergrund gerückt wurde, Baritonpartien, so den Ruslan in Glinkas Oper „Ruslan und Ludmila". Diese dilettantischen Bemühungen allein vermochten aber den unruhig suchenden Stanislawski nicht lange zu befriedigen; er rief deshalb mit seinem Lehrer Kommissarshewski und mit Fedotow, dem Gatten der berühmten Schauspielerin gleichen Namens, eine „Gesellschaft für Literatur und Kunst" ins Leben, in der die ersten Versuche zur Umgestaltung des Theaterbetriebes gemacht wurden. Vor allein sollte der Bühne ein Zug des wirklichen, pulsierenden Lebens aufgeprägt werden. Die Schauspieler wollte man wieder zu wahrer mimischer Kunst erziehen. Die neu¬ gegründete Gesellschaft bildete sich allmählich eine ständige Truppe heran, die vorwiegend aus Liebhabern bestand. Man spielte damals in einem Privattheater des Ochotny Rjad. Stanislawski hatte in dieses Unternehmen den größten Teil seines Vermögens hineingesteckt, allein alle ernsten Bemühungen blieben lange Zeit erfolglos. Die Aufführungen fanden einstweilen vor leeren Häusern statt, ohne beim großen Publikum Beachtung zu finden. Nur einzelne kunstverständige Persönlichkeiten vermochten den Ernst richtig zu werten, mit dein die Bühnen¬ mitglieder an ihre künstlerischen Aufgaben herantraten. Diese Wenigen veranlaßten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/635>, abgerufen am 23.07.2024.