Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Stanislawski und das Moskaner "Aünstlcrische Theater"

Was uns fremd und rätselhaft und im letzten Grunde unbeseelt erschienen
war, hatte mit einen: Male Leben und Gestalt gewonnen, griff uns an die
Sinne und zog uns mit geheimnisvoller Macht in seinen Bann. An die
Stelle des kühl-nüchternen Danebenstehens trat jetzt die warme, hitzige Anteil¬
nahme, die uns das Blut in die Wangen jagte und unsere Pulse schneller
klopfen ließ. Das Rußland von heutzutage, mit seinen großen Traurigkeiten
und seinen jauchzenden Festen, seinen schnapstrinkenden Bauern und himmel¬
stürmenden Weltverbesserern, seinen schwermütigen Liedern und farbigen Tänzen,
seiner fiebernden Erotik und seinem unversöhnlichen Haß, seiner verzehrenden
Skepsis und seiner kindlichen Gläubigkeit -- das heilige Rußland in all
seiner schillernden Pracht und Buntheit war uns erstanden, hatte sich zum
plastischen Bilde verdichtet und warb mit fordernden Ernst um unsere
Liebe. Ob Stanislawski und seine Leute den "Zaren Feodor" des Grafen
Tolstoi, den "Onkel Wanja" von Tschechow oder das "Nachtasyl" von Gorki
spielten, es war immer die gleiche suggestive Melodie, die uns in vollen und
reinen Akkorden entgegenrauschte: die Melodie des russischen Volkes, die keusch
und lasziv, aufreizend und beruhigend, melancholisch und jauchzend sich in die
Ohren des überraschten Europas drängte. Natürlich war es nicht aus¬
schließlich der ethnographische Reiz, der Eindrücke von der eben geschilderten
Intensität hervorrief. Es kam hinzu, daß das Ensemble durch seine unerhört
konzentrierte Arbeit auch schauspielerisch verblüffte. Wir sahen eine bis dahin
kaum erlebte völlige Hingabe des Regisseurs und Darstellers an den zufällig
gewählten Gegenstand, eine bis ins Kleinste beseelte Farbigkeit des Milieus und
eine bis an die Wurzeln des Kunstwerks greifende Detailregie, für die es
Nebensächlichkeiten und Ruhepunkte einfach nicht gab. Und wir sahen schließlich
darüber hinaus aus den: musterhaft geschulten Ensemble den klugen und feinen
Kopf des Schauspielers Stanislawski hervorragen, der sich, auch im Sinne
unserer entwickelten Bühnenkunst, als einen von zufälligen Rasseeigentümlichkeiten
gelösten Menschendarsteller der seltensten Art präsentierte. Aber im letzten und
höchsten Sinne spielten diese Dinge gegenüber der wunderbaren ethnographischen
Suggestion doch eine mehr untergeordnete Rolle, und es ist in diesem Zu¬
sammenhange ganz charakteristisch, daß Stanislawski für meinen Geschmack zum
ersten und einzigen Male da scheiterte, wo er an die Interpretation eines
nichtrussischen Dichters ging und dem deutschen Publikum den Doktor Stockmann
aus Ibsens "Volksfeind" zeigte. Ich kann in dem Punkte Edgar Meschings
Auffassung nicht teilen, glaube vielmehr nach wie vor, daß Stanislawski dem
uns wohlbekannten Gesicht des Doktor Stockmann fremde, durchweg interessante,
aber im Sinne einer redlichen Ibsen-Ästhetik nicht zu rechtfertigende Züge gegeben
hat. Hier sprangen eben die Grenzen, die slawisches und germanisches Kunst¬
empfinden notwendig trennen, bis zur Überdeutlichkeit heraus, und wer sich als
Deutscher vor der Leistung dieses Mannes seine Unbefangenheit bewahrt hat,
wird bei allem Respekt mit Entschiedenheit betonen müssen, daß der Russe


Grenzboten IV 1911 79
Stanislawski und das Moskaner „Aünstlcrische Theater"

Was uns fremd und rätselhaft und im letzten Grunde unbeseelt erschienen
war, hatte mit einen: Male Leben und Gestalt gewonnen, griff uns an die
Sinne und zog uns mit geheimnisvoller Macht in seinen Bann. An die
Stelle des kühl-nüchternen Danebenstehens trat jetzt die warme, hitzige Anteil¬
nahme, die uns das Blut in die Wangen jagte und unsere Pulse schneller
klopfen ließ. Das Rußland von heutzutage, mit seinen großen Traurigkeiten
und seinen jauchzenden Festen, seinen schnapstrinkenden Bauern und himmel¬
stürmenden Weltverbesserern, seinen schwermütigen Liedern und farbigen Tänzen,
seiner fiebernden Erotik und seinem unversöhnlichen Haß, seiner verzehrenden
Skepsis und seiner kindlichen Gläubigkeit — das heilige Rußland in all
seiner schillernden Pracht und Buntheit war uns erstanden, hatte sich zum
plastischen Bilde verdichtet und warb mit fordernden Ernst um unsere
Liebe. Ob Stanislawski und seine Leute den „Zaren Feodor" des Grafen
Tolstoi, den „Onkel Wanja" von Tschechow oder das „Nachtasyl" von Gorki
spielten, es war immer die gleiche suggestive Melodie, die uns in vollen und
reinen Akkorden entgegenrauschte: die Melodie des russischen Volkes, die keusch
und lasziv, aufreizend und beruhigend, melancholisch und jauchzend sich in die
Ohren des überraschten Europas drängte. Natürlich war es nicht aus¬
schließlich der ethnographische Reiz, der Eindrücke von der eben geschilderten
Intensität hervorrief. Es kam hinzu, daß das Ensemble durch seine unerhört
konzentrierte Arbeit auch schauspielerisch verblüffte. Wir sahen eine bis dahin
kaum erlebte völlige Hingabe des Regisseurs und Darstellers an den zufällig
gewählten Gegenstand, eine bis ins Kleinste beseelte Farbigkeit des Milieus und
eine bis an die Wurzeln des Kunstwerks greifende Detailregie, für die es
Nebensächlichkeiten und Ruhepunkte einfach nicht gab. Und wir sahen schließlich
darüber hinaus aus den: musterhaft geschulten Ensemble den klugen und feinen
Kopf des Schauspielers Stanislawski hervorragen, der sich, auch im Sinne
unserer entwickelten Bühnenkunst, als einen von zufälligen Rasseeigentümlichkeiten
gelösten Menschendarsteller der seltensten Art präsentierte. Aber im letzten und
höchsten Sinne spielten diese Dinge gegenüber der wunderbaren ethnographischen
Suggestion doch eine mehr untergeordnete Rolle, und es ist in diesem Zu¬
sammenhange ganz charakteristisch, daß Stanislawski für meinen Geschmack zum
ersten und einzigen Male da scheiterte, wo er an die Interpretation eines
nichtrussischen Dichters ging und dem deutschen Publikum den Doktor Stockmann
aus Ibsens „Volksfeind" zeigte. Ich kann in dem Punkte Edgar Meschings
Auffassung nicht teilen, glaube vielmehr nach wie vor, daß Stanislawski dem
uns wohlbekannten Gesicht des Doktor Stockmann fremde, durchweg interessante,
aber im Sinne einer redlichen Ibsen-Ästhetik nicht zu rechtfertigende Züge gegeben
hat. Hier sprangen eben die Grenzen, die slawisches und germanisches Kunst¬
empfinden notwendig trennen, bis zur Überdeutlichkeit heraus, und wer sich als
Deutscher vor der Leistung dieses Mannes seine Unbefangenheit bewahrt hat,
wird bei allem Respekt mit Entschiedenheit betonen müssen, daß der Russe


Grenzboten IV 1911 79
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0633" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320234"/>
          <fw type="header" place="top"> Stanislawski und das Moskaner &#x201E;Aünstlcrische Theater"</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2719" next="#ID_2720"> Was uns fremd und rätselhaft und im letzten Grunde unbeseelt erschienen<lb/>
war, hatte mit einen: Male Leben und Gestalt gewonnen, griff uns an die<lb/>
Sinne und zog uns mit geheimnisvoller Macht in seinen Bann. An die<lb/>
Stelle des kühl-nüchternen Danebenstehens trat jetzt die warme, hitzige Anteil¬<lb/>
nahme, die uns das Blut in die Wangen jagte und unsere Pulse schneller<lb/>
klopfen ließ. Das Rußland von heutzutage, mit seinen großen Traurigkeiten<lb/>
und seinen jauchzenden Festen, seinen schnapstrinkenden Bauern und himmel¬<lb/>
stürmenden Weltverbesserern, seinen schwermütigen Liedern und farbigen Tänzen,<lb/>
seiner fiebernden Erotik und seinem unversöhnlichen Haß, seiner verzehrenden<lb/>
Skepsis und seiner kindlichen Gläubigkeit &#x2014; das heilige Rußland in all<lb/>
seiner schillernden Pracht und Buntheit war uns erstanden, hatte sich zum<lb/>
plastischen Bilde verdichtet und warb mit fordernden Ernst um unsere<lb/>
Liebe. Ob Stanislawski und seine Leute den &#x201E;Zaren Feodor" des Grafen<lb/>
Tolstoi, den &#x201E;Onkel Wanja" von Tschechow oder das &#x201E;Nachtasyl" von Gorki<lb/>
spielten, es war immer die gleiche suggestive Melodie, die uns in vollen und<lb/>
reinen Akkorden entgegenrauschte: die Melodie des russischen Volkes, die keusch<lb/>
und lasziv, aufreizend und beruhigend, melancholisch und jauchzend sich in die<lb/>
Ohren des überraschten Europas drängte. Natürlich war es nicht aus¬<lb/>
schließlich der ethnographische Reiz, der Eindrücke von der eben geschilderten<lb/>
Intensität hervorrief. Es kam hinzu, daß das Ensemble durch seine unerhört<lb/>
konzentrierte Arbeit auch schauspielerisch verblüffte. Wir sahen eine bis dahin<lb/>
kaum erlebte völlige Hingabe des Regisseurs und Darstellers an den zufällig<lb/>
gewählten Gegenstand, eine bis ins Kleinste beseelte Farbigkeit des Milieus und<lb/>
eine bis an die Wurzeln des Kunstwerks greifende Detailregie, für die es<lb/>
Nebensächlichkeiten und Ruhepunkte einfach nicht gab. Und wir sahen schließlich<lb/>
darüber hinaus aus den: musterhaft geschulten Ensemble den klugen und feinen<lb/>
Kopf des Schauspielers Stanislawski hervorragen, der sich, auch im Sinne<lb/>
unserer entwickelten Bühnenkunst, als einen von zufälligen Rasseeigentümlichkeiten<lb/>
gelösten Menschendarsteller der seltensten Art präsentierte. Aber im letzten und<lb/>
höchsten Sinne spielten diese Dinge gegenüber der wunderbaren ethnographischen<lb/>
Suggestion doch eine mehr untergeordnete Rolle, und es ist in diesem Zu¬<lb/>
sammenhange ganz charakteristisch, daß Stanislawski für meinen Geschmack zum<lb/>
ersten und einzigen Male da scheiterte, wo er an die Interpretation eines<lb/>
nichtrussischen Dichters ging und dem deutschen Publikum den Doktor Stockmann<lb/>
aus Ibsens &#x201E;Volksfeind" zeigte. Ich kann in dem Punkte Edgar Meschings<lb/>
Auffassung nicht teilen, glaube vielmehr nach wie vor, daß Stanislawski dem<lb/>
uns wohlbekannten Gesicht des Doktor Stockmann fremde, durchweg interessante,<lb/>
aber im Sinne einer redlichen Ibsen-Ästhetik nicht zu rechtfertigende Züge gegeben<lb/>
hat. Hier sprangen eben die Grenzen, die slawisches und germanisches Kunst¬<lb/>
empfinden notwendig trennen, bis zur Überdeutlichkeit heraus, und wer sich als<lb/>
Deutscher vor der Leistung dieses Mannes seine Unbefangenheit bewahrt hat,<lb/>
wird bei allem Respekt mit Entschiedenheit betonen müssen, daß der Russe</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1911 79</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0633] Stanislawski und das Moskaner „Aünstlcrische Theater" Was uns fremd und rätselhaft und im letzten Grunde unbeseelt erschienen war, hatte mit einen: Male Leben und Gestalt gewonnen, griff uns an die Sinne und zog uns mit geheimnisvoller Macht in seinen Bann. An die Stelle des kühl-nüchternen Danebenstehens trat jetzt die warme, hitzige Anteil¬ nahme, die uns das Blut in die Wangen jagte und unsere Pulse schneller klopfen ließ. Das Rußland von heutzutage, mit seinen großen Traurigkeiten und seinen jauchzenden Festen, seinen schnapstrinkenden Bauern und himmel¬ stürmenden Weltverbesserern, seinen schwermütigen Liedern und farbigen Tänzen, seiner fiebernden Erotik und seinem unversöhnlichen Haß, seiner verzehrenden Skepsis und seiner kindlichen Gläubigkeit — das heilige Rußland in all seiner schillernden Pracht und Buntheit war uns erstanden, hatte sich zum plastischen Bilde verdichtet und warb mit fordernden Ernst um unsere Liebe. Ob Stanislawski und seine Leute den „Zaren Feodor" des Grafen Tolstoi, den „Onkel Wanja" von Tschechow oder das „Nachtasyl" von Gorki spielten, es war immer die gleiche suggestive Melodie, die uns in vollen und reinen Akkorden entgegenrauschte: die Melodie des russischen Volkes, die keusch und lasziv, aufreizend und beruhigend, melancholisch und jauchzend sich in die Ohren des überraschten Europas drängte. Natürlich war es nicht aus¬ schließlich der ethnographische Reiz, der Eindrücke von der eben geschilderten Intensität hervorrief. Es kam hinzu, daß das Ensemble durch seine unerhört konzentrierte Arbeit auch schauspielerisch verblüffte. Wir sahen eine bis dahin kaum erlebte völlige Hingabe des Regisseurs und Darstellers an den zufällig gewählten Gegenstand, eine bis ins Kleinste beseelte Farbigkeit des Milieus und eine bis an die Wurzeln des Kunstwerks greifende Detailregie, für die es Nebensächlichkeiten und Ruhepunkte einfach nicht gab. Und wir sahen schließlich darüber hinaus aus den: musterhaft geschulten Ensemble den klugen und feinen Kopf des Schauspielers Stanislawski hervorragen, der sich, auch im Sinne unserer entwickelten Bühnenkunst, als einen von zufälligen Rasseeigentümlichkeiten gelösten Menschendarsteller der seltensten Art präsentierte. Aber im letzten und höchsten Sinne spielten diese Dinge gegenüber der wunderbaren ethnographischen Suggestion doch eine mehr untergeordnete Rolle, und es ist in diesem Zu¬ sammenhange ganz charakteristisch, daß Stanislawski für meinen Geschmack zum ersten und einzigen Male da scheiterte, wo er an die Interpretation eines nichtrussischen Dichters ging und dem deutschen Publikum den Doktor Stockmann aus Ibsens „Volksfeind" zeigte. Ich kann in dem Punkte Edgar Meschings Auffassung nicht teilen, glaube vielmehr nach wie vor, daß Stanislawski dem uns wohlbekannten Gesicht des Doktor Stockmann fremde, durchweg interessante, aber im Sinne einer redlichen Ibsen-Ästhetik nicht zu rechtfertigende Züge gegeben hat. Hier sprangen eben die Grenzen, die slawisches und germanisches Kunst¬ empfinden notwendig trennen, bis zur Überdeutlichkeit heraus, und wer sich als Deutscher vor der Leistung dieses Mannes seine Unbefangenheit bewahrt hat, wird bei allem Respekt mit Entschiedenheit betonen müssen, daß der Russe Grenzboten IV 1911 79

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/633
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/633>, abgerufen am 23.07.2024.