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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

sich mit ihrer abwartenden Haltung, nachdem diese zweieinhalb Jahre hindurch
geübt wurde, auch den Wahlkämpfen gegenüber einverstanden erklären. Fehlen
aber solche Pläne, dann sähe der Wahlkampf einem Plebiszit verteufelt ähnlich,
dessen Ergebnis -- gleichgültig wie es aussähe -- für das Reich die schwersten
Folgen nach sich ziehen müßte.

Die Aufgaben der Parteien stehen unter Berücksichtigung obiger Begleit¬
umstände für den Wahlkampf fest und sind wenig kompliziert. Jede Partei¬
richtung muß danach trachten, zunächst die Zahl ihrer Abgeordneten so stark
als möglich zu vermehren, ohne Rücksicht darauf, ob der einzelne Mandattrüger
wirklich genau auf dem Boden der einzelnen Partei steht oder nicht. Diesem
Prinzip ist nun nach langen Mühen der beteiligten Parteien Rechnung getragen
durch die Parteigruppierung in bürgerliche Rechte und Linke sowie Demokratie,
wobei jede Gruppe gestützt ist auf die entsprechenden Wirtschaftsverbände: Bund
der Landwirte, Zentralverband, Christliche Gewerkschaften als Stütze der ver¬
bündeten Konservativen und Ultramontanen; Hansabund, Bauernbund, Beamten¬
vereine und Bund der Industriellen als Stütze der verbündeten Nationalliberalen
und Freisinnigen; die freien Gewerkschaften als Stütze der Demokraten. Je
nachdem, ob der Landbuud, der Hansabund oder die freien Gewerkschaften --
das sind die drei Angelpunkte, um die sich alles bei den Wahlen dreht -- sich
als die Mächtigeren erweisen, wird die Parteikonstellation im nächsten Reichstage
ausfallen und werden die liberalen Mittelparteien stärker oder schwächer sein.
Darauf aber kommt es an für die Entscheidung der Frage, ob wir einen im
nationalen Sinne arbeitsfähigen Reichstag erhalten oder nicht. Wer somit das
Zutrauen zu den liberalen Parteien hat, daß sie bei genügender Stärke das
Reich aus dem krisenähnlichen Zustande, in dem es sich befindet, hinausführen
können, der wird auch dann einen liberalen Stimmzettel in die Urne werfen,
wenn er seiner Weltanschauung nach ein Konservativer ist. Wer dies Zutrauen
nicht hat, wird entweder konservativ oder gar nicht wühlen und im letzteren
Falle andeuten, daß er sich Heilung nur von einem radikalen Schritte, nämlich
durch einen Sieg der Sozialdemokratie über alle anderen Parteien verspricht.

Hinge das politische Leben eines Volkes lediglich von mechanischen Wir¬
kungen und Gegenwirkungen der Parteistärken ab, so könnte man wohl einer
Radikalkur das Wort reden. Aber neben dem Verhältnis der Zahl spielen
wichtigere, weil weiter wirkende Momente eine Rolle. Gewiß, ein Sieg der
Sozialdemokraten auf der ganzen Linie würde dem dauernd uneinigen
Bürgertum einen heilsamen Schreck in die Glieder jagen, würde vielleicht zur
Bildung einer neuen großen konservativen Partei nationaler Schutzzöllner führen,
die imstande wäre, der Fahrt des Reichsschiffes einen festen Kurs in der inneren
und äußere" Politik zu geben. Mit diesen vagen Möglichkeiten aber wären
die Vorteile erschöpft, und es bliebe als sicher nur der eine Nachteil zurück: die
Untergrabung aller Autorität und die Verwirrung der politischen Anschauungen
auf viele Jahre hinaus. Dieser Preis scheint aber doch zu hoch, um damit


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sich mit ihrer abwartenden Haltung, nachdem diese zweieinhalb Jahre hindurch
geübt wurde, auch den Wahlkämpfen gegenüber einverstanden erklären. Fehlen
aber solche Pläne, dann sähe der Wahlkampf einem Plebiszit verteufelt ähnlich,
dessen Ergebnis — gleichgültig wie es aussähe — für das Reich die schwersten
Folgen nach sich ziehen müßte.

Die Aufgaben der Parteien stehen unter Berücksichtigung obiger Begleit¬
umstände für den Wahlkampf fest und sind wenig kompliziert. Jede Partei¬
richtung muß danach trachten, zunächst die Zahl ihrer Abgeordneten so stark
als möglich zu vermehren, ohne Rücksicht darauf, ob der einzelne Mandattrüger
wirklich genau auf dem Boden der einzelnen Partei steht oder nicht. Diesem
Prinzip ist nun nach langen Mühen der beteiligten Parteien Rechnung getragen
durch die Parteigruppierung in bürgerliche Rechte und Linke sowie Demokratie,
wobei jede Gruppe gestützt ist auf die entsprechenden Wirtschaftsverbände: Bund
der Landwirte, Zentralverband, Christliche Gewerkschaften als Stütze der ver¬
bündeten Konservativen und Ultramontanen; Hansabund, Bauernbund, Beamten¬
vereine und Bund der Industriellen als Stütze der verbündeten Nationalliberalen
und Freisinnigen; die freien Gewerkschaften als Stütze der Demokraten. Je
nachdem, ob der Landbuud, der Hansabund oder die freien Gewerkschaften —
das sind die drei Angelpunkte, um die sich alles bei den Wahlen dreht — sich
als die Mächtigeren erweisen, wird die Parteikonstellation im nächsten Reichstage
ausfallen und werden die liberalen Mittelparteien stärker oder schwächer sein.
Darauf aber kommt es an für die Entscheidung der Frage, ob wir einen im
nationalen Sinne arbeitsfähigen Reichstag erhalten oder nicht. Wer somit das
Zutrauen zu den liberalen Parteien hat, daß sie bei genügender Stärke das
Reich aus dem krisenähnlichen Zustande, in dem es sich befindet, hinausführen
können, der wird auch dann einen liberalen Stimmzettel in die Urne werfen,
wenn er seiner Weltanschauung nach ein Konservativer ist. Wer dies Zutrauen
nicht hat, wird entweder konservativ oder gar nicht wühlen und im letzteren
Falle andeuten, daß er sich Heilung nur von einem radikalen Schritte, nämlich
durch einen Sieg der Sozialdemokratie über alle anderen Parteien verspricht.

Hinge das politische Leben eines Volkes lediglich von mechanischen Wir¬
kungen und Gegenwirkungen der Parteistärken ab, so könnte man wohl einer
Radikalkur das Wort reden. Aber neben dem Verhältnis der Zahl spielen
wichtigere, weil weiter wirkende Momente eine Rolle. Gewiß, ein Sieg der
Sozialdemokraten auf der ganzen Linie würde dem dauernd uneinigen
Bürgertum einen heilsamen Schreck in die Glieder jagen, würde vielleicht zur
Bildung einer neuen großen konservativen Partei nationaler Schutzzöllner führen,
die imstande wäre, der Fahrt des Reichsschiffes einen festen Kurs in der inneren
und äußere» Politik zu geben. Mit diesen vagen Möglichkeiten aber wären
die Vorteile erschöpft, und es bliebe als sicher nur der eine Nachteil zurück: die
Untergrabung aller Autorität und die Verwirrung der politischen Anschauungen
auf viele Jahre hinaus. Dieser Preis scheint aber doch zu hoch, um damit


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[0620] Reichsspiegel sich mit ihrer abwartenden Haltung, nachdem diese zweieinhalb Jahre hindurch geübt wurde, auch den Wahlkämpfen gegenüber einverstanden erklären. Fehlen aber solche Pläne, dann sähe der Wahlkampf einem Plebiszit verteufelt ähnlich, dessen Ergebnis — gleichgültig wie es aussähe — für das Reich die schwersten Folgen nach sich ziehen müßte. Die Aufgaben der Parteien stehen unter Berücksichtigung obiger Begleit¬ umstände für den Wahlkampf fest und sind wenig kompliziert. Jede Partei¬ richtung muß danach trachten, zunächst die Zahl ihrer Abgeordneten so stark als möglich zu vermehren, ohne Rücksicht darauf, ob der einzelne Mandattrüger wirklich genau auf dem Boden der einzelnen Partei steht oder nicht. Diesem Prinzip ist nun nach langen Mühen der beteiligten Parteien Rechnung getragen durch die Parteigruppierung in bürgerliche Rechte und Linke sowie Demokratie, wobei jede Gruppe gestützt ist auf die entsprechenden Wirtschaftsverbände: Bund der Landwirte, Zentralverband, Christliche Gewerkschaften als Stütze der ver¬ bündeten Konservativen und Ultramontanen; Hansabund, Bauernbund, Beamten¬ vereine und Bund der Industriellen als Stütze der verbündeten Nationalliberalen und Freisinnigen; die freien Gewerkschaften als Stütze der Demokraten. Je nachdem, ob der Landbuud, der Hansabund oder die freien Gewerkschaften — das sind die drei Angelpunkte, um die sich alles bei den Wahlen dreht — sich als die Mächtigeren erweisen, wird die Parteikonstellation im nächsten Reichstage ausfallen und werden die liberalen Mittelparteien stärker oder schwächer sein. Darauf aber kommt es an für die Entscheidung der Frage, ob wir einen im nationalen Sinne arbeitsfähigen Reichstag erhalten oder nicht. Wer somit das Zutrauen zu den liberalen Parteien hat, daß sie bei genügender Stärke das Reich aus dem krisenähnlichen Zustande, in dem es sich befindet, hinausführen können, der wird auch dann einen liberalen Stimmzettel in die Urne werfen, wenn er seiner Weltanschauung nach ein Konservativer ist. Wer dies Zutrauen nicht hat, wird entweder konservativ oder gar nicht wühlen und im letzteren Falle andeuten, daß er sich Heilung nur von einem radikalen Schritte, nämlich durch einen Sieg der Sozialdemokratie über alle anderen Parteien verspricht. Hinge das politische Leben eines Volkes lediglich von mechanischen Wir¬ kungen und Gegenwirkungen der Parteistärken ab, so könnte man wohl einer Radikalkur das Wort reden. Aber neben dem Verhältnis der Zahl spielen wichtigere, weil weiter wirkende Momente eine Rolle. Gewiß, ein Sieg der Sozialdemokraten auf der ganzen Linie würde dem dauernd uneinigen Bürgertum einen heilsamen Schreck in die Glieder jagen, würde vielleicht zur Bildung einer neuen großen konservativen Partei nationaler Schutzzöllner führen, die imstande wäre, der Fahrt des Reichsschiffes einen festen Kurs in der inneren und äußere» Politik zu geben. Mit diesen vagen Möglichkeiten aber wären die Vorteile erschöpft, und es bliebe als sicher nur der eine Nachteil zurück: die Untergrabung aller Autorität und die Verwirrung der politischen Anschauungen auf viele Jahre hinaus. Dieser Preis scheint aber doch zu hoch, um damit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/620>, abgerufen am 26.08.2024.