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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Gottfried Haberkorfs Irrtum

legten sich ein paar straffe Arme um seinen Hals, eine warme Wange schob sich
an seine bärtige, und er fühlte einen Kuß auf seinen Lippen.

Gottfried Haberkorf stieg das Herz in die Kehle. Dann aber küßte er wieder,
heiß und verlangend, und eine unerhörte Seligkeit durchrieselte ihn.

"Dies wollt' ich dir bringen", flüsterte er und umschlang die Liebste wieder,
die sich weich und warm an ihn schmiegte. Sie antwortete nichts, sondern küßte,
küßte ihn, wie sie ihn nie zuvor geküßt hatte. Herrgott! wie sie küssen konnte!

Ein Schritt klang auf der Straße.

Tune! schrie das Horn drohend durch die Dunkelheit.

Da schob Gottfried Haberkorf seine langen Beine rasch in die Kammer.

Und wieder überfielen ihn ihre Küsse. Er taumelte unter deren süßer Kraft,
taumelte und fiel ins Weiche. Neben ihm lag es warm und duftend. Und er
griff nach ihr und preßte sie an sich, daß sie leise stöhnte. Dann war ein
mächtiges, jubelndes Brausen vor seinen Ohren, und durch diesen klingenden Auf
rühr tat Gottfried Haberkorf einen tiefen, seligen Sturz.

Als ihm die Sinne wieder kamen, hörte er eine bebende Stimme dringend
flüstern: "Geh, bitte, geh rasch!" Und wie er noch ganz verwirrt sich erhob,
fühlte er sich ans Fenster gedrängt, und die Stimme aus dem Dunkel sagte fremd
und tonlos: "Bitte, geh!" Noch einen Kuß fühlte er auf der Stirn, während
seine Beine schon wieder im Weinlaub raschelten.

Dann stand er unten, fuhr sich mit der Hand über die heiße Stirn und
tappte sich durch die Wohlgerüche der Gärten, die überall lauerten, nach Hause.
Da schob er den glühenden Kopf ins Waschbecken und fühlte, klar werdend, eine
starke Freude in sich.

Es sang und klang in ihm -- er sprach trunkene Worte vor sich hin und
merkte plötzlich, daß es Verse waren. Da schloß er die Fenster, setzte sich an sein
Klavier, ließ die Tasten leise klingen und schrieb mit fiebernden Händen Wort
und Ton auf ein Notenblatt. Dann lag er auf dem Sofa und schlief, bis die
Kinder des Morgens an der Schultür rüttelten. (Schluß folgt)




Gottfried Haberkorfs Irrtum

legten sich ein paar straffe Arme um seinen Hals, eine warme Wange schob sich
an seine bärtige, und er fühlte einen Kuß auf seinen Lippen.

Gottfried Haberkorf stieg das Herz in die Kehle. Dann aber küßte er wieder,
heiß und verlangend, und eine unerhörte Seligkeit durchrieselte ihn.

„Dies wollt' ich dir bringen", flüsterte er und umschlang die Liebste wieder,
die sich weich und warm an ihn schmiegte. Sie antwortete nichts, sondern küßte,
küßte ihn, wie sie ihn nie zuvor geküßt hatte. Herrgott! wie sie küssen konnte!

Ein Schritt klang auf der Straße.

Tune! schrie das Horn drohend durch die Dunkelheit.

Da schob Gottfried Haberkorf seine langen Beine rasch in die Kammer.

Und wieder überfielen ihn ihre Küsse. Er taumelte unter deren süßer Kraft,
taumelte und fiel ins Weiche. Neben ihm lag es warm und duftend. Und er
griff nach ihr und preßte sie an sich, daß sie leise stöhnte. Dann war ein
mächtiges, jubelndes Brausen vor seinen Ohren, und durch diesen klingenden Auf
rühr tat Gottfried Haberkorf einen tiefen, seligen Sturz.

Als ihm die Sinne wieder kamen, hörte er eine bebende Stimme dringend
flüstern: „Geh, bitte, geh rasch!" Und wie er noch ganz verwirrt sich erhob,
fühlte er sich ans Fenster gedrängt, und die Stimme aus dem Dunkel sagte fremd
und tonlos: „Bitte, geh!" Noch einen Kuß fühlte er auf der Stirn, während
seine Beine schon wieder im Weinlaub raschelten.

Dann stand er unten, fuhr sich mit der Hand über die heiße Stirn und
tappte sich durch die Wohlgerüche der Gärten, die überall lauerten, nach Hause.
Da schob er den glühenden Kopf ins Waschbecken und fühlte, klar werdend, eine
starke Freude in sich.

Es sang und klang in ihm — er sprach trunkene Worte vor sich hin und
merkte plötzlich, daß es Verse waren. Da schloß er die Fenster, setzte sich an sein
Klavier, ließ die Tasten leise klingen und schrieb mit fiebernden Händen Wort
und Ton auf ein Notenblatt. Dann lag er auf dem Sofa und schlief, bis die
Kinder des Morgens an der Schultür rüttelten. (Schluß folgt)




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[0612] Gottfried Haberkorfs Irrtum legten sich ein paar straffe Arme um seinen Hals, eine warme Wange schob sich an seine bärtige, und er fühlte einen Kuß auf seinen Lippen. Gottfried Haberkorf stieg das Herz in die Kehle. Dann aber küßte er wieder, heiß und verlangend, und eine unerhörte Seligkeit durchrieselte ihn. „Dies wollt' ich dir bringen", flüsterte er und umschlang die Liebste wieder, die sich weich und warm an ihn schmiegte. Sie antwortete nichts, sondern küßte, küßte ihn, wie sie ihn nie zuvor geküßt hatte. Herrgott! wie sie küssen konnte! Ein Schritt klang auf der Straße. Tune! schrie das Horn drohend durch die Dunkelheit. Da schob Gottfried Haberkorf seine langen Beine rasch in die Kammer. Und wieder überfielen ihn ihre Küsse. Er taumelte unter deren süßer Kraft, taumelte und fiel ins Weiche. Neben ihm lag es warm und duftend. Und er griff nach ihr und preßte sie an sich, daß sie leise stöhnte. Dann war ein mächtiges, jubelndes Brausen vor seinen Ohren, und durch diesen klingenden Auf rühr tat Gottfried Haberkorf einen tiefen, seligen Sturz. Als ihm die Sinne wieder kamen, hörte er eine bebende Stimme dringend flüstern: „Geh, bitte, geh rasch!" Und wie er noch ganz verwirrt sich erhob, fühlte er sich ans Fenster gedrängt, und die Stimme aus dem Dunkel sagte fremd und tonlos: „Bitte, geh!" Noch einen Kuß fühlte er auf der Stirn, während seine Beine schon wieder im Weinlaub raschelten. Dann stand er unten, fuhr sich mit der Hand über die heiße Stirn und tappte sich durch die Wohlgerüche der Gärten, die überall lauerten, nach Hause. Da schob er den glühenden Kopf ins Waschbecken und fühlte, klar werdend, eine starke Freude in sich. Es sang und klang in ihm — er sprach trunkene Worte vor sich hin und merkte plötzlich, daß es Verse waren. Da schloß er die Fenster, setzte sich an sein Klavier, ließ die Tasten leise klingen und schrieb mit fiebernden Händen Wort und Ton auf ein Notenblatt. Dann lag er auf dem Sofa und schlief, bis die Kinder des Morgens an der Schultür rüttelten. (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/612>, abgerufen am 03.07.2024.