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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Gottfried Haberkorfs Irrtum

Aber Gottfried streichelte begütigend ihre Hand.

"Heute war der Vetter Brennecke da," meinte die Mutter.

Gottfried besann sich, wer es sei.

"Der mich einmal haben wollte," sagte Anna.

"So? Und weshalb wolltest du ihn nicht?" forschte Gottfried.

"Er patzte mir nicht. Aber ein netter Mensch ist er doch."

"Und hat einen schönen Hof," fügte die Mutter hinzu.

"Er s--p--p--richt ein b--b--löcher l--angsam," meinte Liselotte.

"Ach das ist nicht so schlimm," wehrte Anna ab. "Du findest bei jedem etwas."

"Du hast doch sicher auch bei ihm was gefunden, sonst hättest du ihn ja
nehmen können. Oder warst du damals schon auf Gottfried gespannt?"

"Ich? Gottfried ist zu mir gekommen und nicht ich zu ihm."

"Hahal" lachte die Mutter, sich an Gottfried wendend, "als du zuerst zu
uns kamst, wußte ich nicht, ob du die Älteste oder die Jüngste meintest."

Gottfried schwieg.

"Gute Rachel" sagte Liselotte und sprang auf, "ich bin müde."

Die anderen hörten, wie ihr Schritt auf dem Mergel des Weges knirschte,
und sahen sie weiß aus dem Garten auf den Hof gehen, wo bald ein Licht aus¬
schien und eine Stalltür klappte.

"Die Küken! Die Kükenl" sagte die Mutter, "wenn sie nach denen nicht erst
jeden Abend sieht, kann sie nicht schlafen."

Gottfried rückte näher an Anna, spürte die Wärme ihres Körpers und den
Duft ihrer Haare. Er wünschte, daß die Mutter, wie sie es öfter tat, noch ein
Weilchen in die Stube gehen und die beiden allein lassen möchte. Sie stand auch
auf. Aber gleichzeitig erhob sich Anna, reckte sich und gähnte.

"Auch müde?" fragte er zärtlich und drängte sich an sie.

"Ja. Gehst du morgen nach der Stadt?"

"Vielleicht. Wolltest du mit?"

"Ach nein. Aber du könntest mir einige Rollen Garn und auch ein paar
Docken Seide mitbringen."

Er schwieg.

"Tust du es nicht gern?"

"NeinI" sagte er verstimmt. "Das kann ja schließlich die Botenfrau auch
besorgen."

"Na, dann gute Nacht!" gab sie zurück und ging strammen Schrittes ins Haus.

"Willst du nicht noch ein Glas Bier trinken?" fragte die Mutter, "ich hatte
es vorhin ganz vergessen. Aber daran sollte Anna eigentlich denken."

Aber Gottfried dankte, nahm seinen Geigenkasten und ging fort. Er blieb
aus der breiten Straße, weil es zwischen den Hecken dunkel und naß war. An
einer Biegung blieb er stehen, um in Annas Kammer Licht zu sehen, auch viel¬
leicht ihren Schatten zu erspähen. Aber alles war dunkel. Nur aus den Fenstern
der Gaststube quoll es gelb und rauchig in die Nacht, und man hörte fernes
Stimmengewirr.

Entweder ist sie noch nicht oben, oder sie steht im Dunkeln und sieht mir
nach! dachte Gottfried. Aber daran glaubte er doch nicht recht. Mißmutig schritt


Grenzboten IV 1911 76
Gottfried Haberkorfs Irrtum

Aber Gottfried streichelte begütigend ihre Hand.

„Heute war der Vetter Brennecke da," meinte die Mutter.

Gottfried besann sich, wer es sei.

„Der mich einmal haben wollte," sagte Anna.

„So? Und weshalb wolltest du ihn nicht?" forschte Gottfried.

„Er patzte mir nicht. Aber ein netter Mensch ist er doch."

„Und hat einen schönen Hof," fügte die Mutter hinzu.

„Er s—p—p—richt ein b—b—löcher l—angsam," meinte Liselotte.

„Ach das ist nicht so schlimm," wehrte Anna ab. „Du findest bei jedem etwas."

„Du hast doch sicher auch bei ihm was gefunden, sonst hättest du ihn ja
nehmen können. Oder warst du damals schon auf Gottfried gespannt?"

„Ich? Gottfried ist zu mir gekommen und nicht ich zu ihm."

„Hahal" lachte die Mutter, sich an Gottfried wendend, „als du zuerst zu
uns kamst, wußte ich nicht, ob du die Älteste oder die Jüngste meintest."

Gottfried schwieg.

„Gute Rachel" sagte Liselotte und sprang auf, „ich bin müde."

Die anderen hörten, wie ihr Schritt auf dem Mergel des Weges knirschte,
und sahen sie weiß aus dem Garten auf den Hof gehen, wo bald ein Licht aus¬
schien und eine Stalltür klappte.

„Die Küken! Die Kükenl" sagte die Mutter, „wenn sie nach denen nicht erst
jeden Abend sieht, kann sie nicht schlafen."

Gottfried rückte näher an Anna, spürte die Wärme ihres Körpers und den
Duft ihrer Haare. Er wünschte, daß die Mutter, wie sie es öfter tat, noch ein
Weilchen in die Stube gehen und die beiden allein lassen möchte. Sie stand auch
auf. Aber gleichzeitig erhob sich Anna, reckte sich und gähnte.

„Auch müde?" fragte er zärtlich und drängte sich an sie.

„Ja. Gehst du morgen nach der Stadt?"

„Vielleicht. Wolltest du mit?"

„Ach nein. Aber du könntest mir einige Rollen Garn und auch ein paar
Docken Seide mitbringen."

Er schwieg.

„Tust du es nicht gern?"

„NeinI" sagte er verstimmt. „Das kann ja schließlich die Botenfrau auch
besorgen."

„Na, dann gute Nacht!" gab sie zurück und ging strammen Schrittes ins Haus.

„Willst du nicht noch ein Glas Bier trinken?" fragte die Mutter, „ich hatte
es vorhin ganz vergessen. Aber daran sollte Anna eigentlich denken."

Aber Gottfried dankte, nahm seinen Geigenkasten und ging fort. Er blieb
aus der breiten Straße, weil es zwischen den Hecken dunkel und naß war. An
einer Biegung blieb er stehen, um in Annas Kammer Licht zu sehen, auch viel¬
leicht ihren Schatten zu erspähen. Aber alles war dunkel. Nur aus den Fenstern
der Gaststube quoll es gelb und rauchig in die Nacht, und man hörte fernes
Stimmengewirr.

Entweder ist sie noch nicht oben, oder sie steht im Dunkeln und sieht mir
nach! dachte Gottfried. Aber daran glaubte er doch nicht recht. Mißmutig schritt


Grenzboten IV 1911 76
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[0609] Gottfried Haberkorfs Irrtum Aber Gottfried streichelte begütigend ihre Hand. „Heute war der Vetter Brennecke da," meinte die Mutter. Gottfried besann sich, wer es sei. „Der mich einmal haben wollte," sagte Anna. „So? Und weshalb wolltest du ihn nicht?" forschte Gottfried. „Er patzte mir nicht. Aber ein netter Mensch ist er doch." „Und hat einen schönen Hof," fügte die Mutter hinzu. „Er s—p—p—richt ein b—b—löcher l—angsam," meinte Liselotte. „Ach das ist nicht so schlimm," wehrte Anna ab. „Du findest bei jedem etwas." „Du hast doch sicher auch bei ihm was gefunden, sonst hättest du ihn ja nehmen können. Oder warst du damals schon auf Gottfried gespannt?" „Ich? Gottfried ist zu mir gekommen und nicht ich zu ihm." „Hahal" lachte die Mutter, sich an Gottfried wendend, „als du zuerst zu uns kamst, wußte ich nicht, ob du die Älteste oder die Jüngste meintest." Gottfried schwieg. „Gute Rachel" sagte Liselotte und sprang auf, „ich bin müde." Die anderen hörten, wie ihr Schritt auf dem Mergel des Weges knirschte, und sahen sie weiß aus dem Garten auf den Hof gehen, wo bald ein Licht aus¬ schien und eine Stalltür klappte. „Die Küken! Die Kükenl" sagte die Mutter, „wenn sie nach denen nicht erst jeden Abend sieht, kann sie nicht schlafen." Gottfried rückte näher an Anna, spürte die Wärme ihres Körpers und den Duft ihrer Haare. Er wünschte, daß die Mutter, wie sie es öfter tat, noch ein Weilchen in die Stube gehen und die beiden allein lassen möchte. Sie stand auch auf. Aber gleichzeitig erhob sich Anna, reckte sich und gähnte. „Auch müde?" fragte er zärtlich und drängte sich an sie. „Ja. Gehst du morgen nach der Stadt?" „Vielleicht. Wolltest du mit?" „Ach nein. Aber du könntest mir einige Rollen Garn und auch ein paar Docken Seide mitbringen." Er schwieg. „Tust du es nicht gern?" „NeinI" sagte er verstimmt. „Das kann ja schließlich die Botenfrau auch besorgen." „Na, dann gute Nacht!" gab sie zurück und ging strammen Schrittes ins Haus. „Willst du nicht noch ein Glas Bier trinken?" fragte die Mutter, „ich hatte es vorhin ganz vergessen. Aber daran sollte Anna eigentlich denken." Aber Gottfried dankte, nahm seinen Geigenkasten und ging fort. Er blieb aus der breiten Straße, weil es zwischen den Hecken dunkel und naß war. An einer Biegung blieb er stehen, um in Annas Kammer Licht zu sehen, auch viel¬ leicht ihren Schatten zu erspähen. Aber alles war dunkel. Nur aus den Fenstern der Gaststube quoll es gelb und rauchig in die Nacht, und man hörte fernes Stimmengewirr. Entweder ist sie noch nicht oben, oder sie steht im Dunkeln und sieht mir nach! dachte Gottfried. Aber daran glaubte er doch nicht recht. Mißmutig schritt Grenzboten IV 1911 76

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/609>, abgerufen am 23.07.2024.