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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe aus "Lhina

An seine Schwester.

Peking, den 16. Februar 1898.

. . . Gestern und heute waren wieder einmal recht interessante Tage --
besonders der gestrige, der heutige weniger. Gestern fand nämlich endlich die
langerwartete Audienz im Palaste statt. Man war zu 10 Uhr befohlen worden,
und aus allen Gesandtschaften bewegten sich feierliche Sänftenkarawanen, sämtlich
von chinesischem Militär eskortiert, nach der Richtung des kaiserlichen Palastes.
Auf den Straßen bildete eine große Menschenmenge Spalier. Nachdem das
Palasttor passiert war, verließ man die Vehikel und ging zu Fuß durch einige
große Höfe, bis man ein kleines Haus erreicht hatte, wo wir fast eine Stunde
lang in zwei engen, sehr dürftig ausgestatteten Zimmern, deren Wände und
Decken mit einfachem weißen: Papier tapeziert waren, zu antichambrieren hatten.
Es wurde Tee gereicht und geraucht, wobei verschiedene chinesische Minister,
die uns bereits am Tore empfangen und begrüßt hatten, die Honneurs machten.

Endlich wurde das Signal zum Aufbruch gegeben und der Zug setzte sich
in Bewegung. Nachdem wir das Tor Wen-doa-men passiert hatten, sahen wir
eine Halle mit drei großen geöffneten Türen vor uns: das war die Audienz¬
halle, Wen-doa-lieu. Entblößten Hauptes stieg man die wenigen Stufen hinan
und machte, oben angelangt, eine Verbeugung, nach weiteren drei Schritten eine
zweite und nach noch drei Schritten eine dritte Verbeugung.

Die Halle war ziemlich geräumig, ohne gerade sehr groß zu sein, der
Fußboden war mit einem gelben chinesischen Teppich belegt. Im übrigen ent¬
behrte sie jeglichen Schmuckes: sie war ganz kahl, und von "orientalischer Pracht"
war nichts zu merken. An der Rückwand der Halle erhob sich eine breite
Estrade, auf der ein großer, mit gelbem Brokatstoff bedeckter Tisch stand, und
auf dem Tische lagen verschiedene Schreibutensilien und das kaiserliche Siegel --
lauter herrliche Sachen, meist Cloisonns. Hinter diesen: Tische saß auf einem
gelbgepolsterten Thronsessel der Himmelssohn; rechts und links von ihm waren
zwei Leibwächter postiert, und an der Rückwand, zu beiden Seiten des Thron¬
sessels, standen zwei Pfauenwedel. Der Kaiser, der jetzt siebenundzwanzig Jahre
zählt, sieht aus wie ein Jüngling von höchstens achtzehn Jahren; er ist sehr
schmächtig und kränklich, hat wunderschöne große dunkle Augen und leider statt
eines offenen Kopfes nur einen stets offenen Mund. Sein Gesicht ist auffallend
oval und gar nicht dem gewöhnlichen chinesischen Typus entsprechend, dabei,
ohne hübsch zu sein, doch sehr sympathisch. Der Gesamteindruck seiner Persön¬
lichkeit ist mitleiderweckend. Mit einem Ausdruck kindlichen Erstaunens musterte
er die seltsame Gesellschaft und schien seine Freude daran zu haben, so zahl¬
reiche und meist wohlerhaltene Exemplare der westlichen Barbaren vor sich zu sehen.

Der Doyen des diplomatischen Korps, Mr. D., hielt eine kurze An¬
sprache, die P. als ältester unter den Dolmetschern ins Chinesische über¬
setzte. Darauf begab sich der alte Prinz Kuug. ein Onkel des Kaisers, auf die
Estrade und kniete neben dem Thron nieder'. Der Kaiser neigte sich zu ihm


Grenzboten IV 7ö
Briefe aus «Lhina

An seine Schwester.

Peking, den 16. Februar 1898.

. . . Gestern und heute waren wieder einmal recht interessante Tage —
besonders der gestrige, der heutige weniger. Gestern fand nämlich endlich die
langerwartete Audienz im Palaste statt. Man war zu 10 Uhr befohlen worden,
und aus allen Gesandtschaften bewegten sich feierliche Sänftenkarawanen, sämtlich
von chinesischem Militär eskortiert, nach der Richtung des kaiserlichen Palastes.
Auf den Straßen bildete eine große Menschenmenge Spalier. Nachdem das
Palasttor passiert war, verließ man die Vehikel und ging zu Fuß durch einige
große Höfe, bis man ein kleines Haus erreicht hatte, wo wir fast eine Stunde
lang in zwei engen, sehr dürftig ausgestatteten Zimmern, deren Wände und
Decken mit einfachem weißen: Papier tapeziert waren, zu antichambrieren hatten.
Es wurde Tee gereicht und geraucht, wobei verschiedene chinesische Minister,
die uns bereits am Tore empfangen und begrüßt hatten, die Honneurs machten.

Endlich wurde das Signal zum Aufbruch gegeben und der Zug setzte sich
in Bewegung. Nachdem wir das Tor Wen-doa-men passiert hatten, sahen wir
eine Halle mit drei großen geöffneten Türen vor uns: das war die Audienz¬
halle, Wen-doa-lieu. Entblößten Hauptes stieg man die wenigen Stufen hinan
und machte, oben angelangt, eine Verbeugung, nach weiteren drei Schritten eine
zweite und nach noch drei Schritten eine dritte Verbeugung.

Die Halle war ziemlich geräumig, ohne gerade sehr groß zu sein, der
Fußboden war mit einem gelben chinesischen Teppich belegt. Im übrigen ent¬
behrte sie jeglichen Schmuckes: sie war ganz kahl, und von „orientalischer Pracht"
war nichts zu merken. An der Rückwand der Halle erhob sich eine breite
Estrade, auf der ein großer, mit gelbem Brokatstoff bedeckter Tisch stand, und
auf dem Tische lagen verschiedene Schreibutensilien und das kaiserliche Siegel —
lauter herrliche Sachen, meist Cloisonns. Hinter diesen: Tische saß auf einem
gelbgepolsterten Thronsessel der Himmelssohn; rechts und links von ihm waren
zwei Leibwächter postiert, und an der Rückwand, zu beiden Seiten des Thron¬
sessels, standen zwei Pfauenwedel. Der Kaiser, der jetzt siebenundzwanzig Jahre
zählt, sieht aus wie ein Jüngling von höchstens achtzehn Jahren; er ist sehr
schmächtig und kränklich, hat wunderschöne große dunkle Augen und leider statt
eines offenen Kopfes nur einen stets offenen Mund. Sein Gesicht ist auffallend
oval und gar nicht dem gewöhnlichen chinesischen Typus entsprechend, dabei,
ohne hübsch zu sein, doch sehr sympathisch. Der Gesamteindruck seiner Persön¬
lichkeit ist mitleiderweckend. Mit einem Ausdruck kindlichen Erstaunens musterte
er die seltsame Gesellschaft und schien seine Freude daran zu haben, so zahl¬
reiche und meist wohlerhaltene Exemplare der westlichen Barbaren vor sich zu sehen.

Der Doyen des diplomatischen Korps, Mr. D., hielt eine kurze An¬
sprache, die P. als ältester unter den Dolmetschern ins Chinesische über¬
setzte. Darauf begab sich der alte Prinz Kuug. ein Onkel des Kaisers, auf die
Estrade und kniete neben dem Thron nieder'. Der Kaiser neigte sich zu ihm


Grenzboten IV 7ö
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[0601] Briefe aus «Lhina An seine Schwester. Peking, den 16. Februar 1898. . . . Gestern und heute waren wieder einmal recht interessante Tage — besonders der gestrige, der heutige weniger. Gestern fand nämlich endlich die langerwartete Audienz im Palaste statt. Man war zu 10 Uhr befohlen worden, und aus allen Gesandtschaften bewegten sich feierliche Sänftenkarawanen, sämtlich von chinesischem Militär eskortiert, nach der Richtung des kaiserlichen Palastes. Auf den Straßen bildete eine große Menschenmenge Spalier. Nachdem das Palasttor passiert war, verließ man die Vehikel und ging zu Fuß durch einige große Höfe, bis man ein kleines Haus erreicht hatte, wo wir fast eine Stunde lang in zwei engen, sehr dürftig ausgestatteten Zimmern, deren Wände und Decken mit einfachem weißen: Papier tapeziert waren, zu antichambrieren hatten. Es wurde Tee gereicht und geraucht, wobei verschiedene chinesische Minister, die uns bereits am Tore empfangen und begrüßt hatten, die Honneurs machten. Endlich wurde das Signal zum Aufbruch gegeben und der Zug setzte sich in Bewegung. Nachdem wir das Tor Wen-doa-men passiert hatten, sahen wir eine Halle mit drei großen geöffneten Türen vor uns: das war die Audienz¬ halle, Wen-doa-lieu. Entblößten Hauptes stieg man die wenigen Stufen hinan und machte, oben angelangt, eine Verbeugung, nach weiteren drei Schritten eine zweite und nach noch drei Schritten eine dritte Verbeugung. Die Halle war ziemlich geräumig, ohne gerade sehr groß zu sein, der Fußboden war mit einem gelben chinesischen Teppich belegt. Im übrigen ent¬ behrte sie jeglichen Schmuckes: sie war ganz kahl, und von „orientalischer Pracht" war nichts zu merken. An der Rückwand der Halle erhob sich eine breite Estrade, auf der ein großer, mit gelbem Brokatstoff bedeckter Tisch stand, und auf dem Tische lagen verschiedene Schreibutensilien und das kaiserliche Siegel — lauter herrliche Sachen, meist Cloisonns. Hinter diesen: Tische saß auf einem gelbgepolsterten Thronsessel der Himmelssohn; rechts und links von ihm waren zwei Leibwächter postiert, und an der Rückwand, zu beiden Seiten des Thron¬ sessels, standen zwei Pfauenwedel. Der Kaiser, der jetzt siebenundzwanzig Jahre zählt, sieht aus wie ein Jüngling von höchstens achtzehn Jahren; er ist sehr schmächtig und kränklich, hat wunderschöne große dunkle Augen und leider statt eines offenen Kopfes nur einen stets offenen Mund. Sein Gesicht ist auffallend oval und gar nicht dem gewöhnlichen chinesischen Typus entsprechend, dabei, ohne hübsch zu sein, doch sehr sympathisch. Der Gesamteindruck seiner Persön¬ lichkeit ist mitleiderweckend. Mit einem Ausdruck kindlichen Erstaunens musterte er die seltsame Gesellschaft und schien seine Freude daran zu haben, so zahl¬ reiche und meist wohlerhaltene Exemplare der westlichen Barbaren vor sich zu sehen. Der Doyen des diplomatischen Korps, Mr. D., hielt eine kurze An¬ sprache, die P. als ältester unter den Dolmetschern ins Chinesische über¬ setzte. Darauf begab sich der alte Prinz Kuug. ein Onkel des Kaisers, auf die Estrade und kniete neben dem Thron nieder'. Der Kaiser neigte sich zu ihm Grenzboten IV 7ö

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/601>, abgerufen am 23.07.2024.