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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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baute. In seinen Händen bildete der Platz nunmehr eine ständige Bedrohung
Englands, eine, wie er selbst es nannte, "gegen das Herz Englands gerichtete
geladene Pistole". Darum richteten die Engländer ihr Augenmerk auf Ant¬
werpens Eroberung. Ihre 1809 zunächst gegen die Insel Walcheren gerichtete
Unternehmung mißglückte. 1814 griffen sie den Platz an, mit der aus¬
gesprochenen Absicht, den dort befindlichen Teil der französischen Flotte zu zer¬
stören; diese lediglich ein englisches Sonderinteresse verfolgende Verwendung der
Kräfte diente nicht der schnellen Erreichung des gemeinsamen Endzieles der Krieg¬
führung der Verbündeten. Für England geöffnet wird Antwerpen zum Brückenkopf
für eine Invasion auf dem Kontinent und zur Basis für weiteres Vordringen
nach beliebiger Richtung. Jede Trnppenmacht, die durch Belgien marschieren
will, muß mit dem verschanzten Lager rechnen, gleichviel ob sie über See kommt
oder die Landgrenze überschreitet; immer wirkt es als Flankenstellung, voraus¬
gesetzt, daß es ein mobiles Heer beherbergt. Voraussetzung hierfür war wieder
der Bau detachierter Forts in weitem Umfange. Der große Ingenieur Brialmont
fand hier ein weites Feld zur Verwirklichung seiner Gedanken. Um Zersplitterung
der Kräfte zu vermeiden, mutzte eine Einschränkung der Zahl der alten kleinen
Befestigungen mit dem Ausbau des großen Platzes Hand in Hand gehen. Die
Maaslinie wollte man nicht aufgeben; schon in den letzten siebziger Jahren
entschied man sich für die Erhaltung der Zitadellen von Lüttich und Namur.
Außerdem verblieben die Festungen Termonde an der Dendre und Diest an
dem Deiner bestehen. Für den Ausbau von Lüttich und Namur wurden schon
1887 beträchtliche Mittel bewilligt. Sie sollten keine zusammenhängende Um-
wallung erhalten und auch nicht zu verschanzten Lagern ausgestaltet werden,
sondern zu strategischen Brückenköpfen, Sperren der großen Bahnlinien Paris--
Charleroy--Aachen--Cöln und Luxemburg--Brüssel und Antwerpen, sowie zu
"Manöverpivots". 1891 war der Bau soweit vorgeschritten, daß die alten
Zitadellen aufgegeben werden konnten. Sehr bemerkenswert ist eine Äußerung
Moltkes über diese Anlagen in einem Gespräche mit dem belgischen Oberst
Lahure*): "In den Bedingungen, in welchen sich die belgische Armee befindet,
werden sämtliche Kräfte, welche sie zu mobilisieren vermag, von Anfang an
durch die Befestigungen in Anspruch genommen werden. Es wird keine Feld¬
armee geben oder eine äußerst geringe. Und doch sind es die Feldarmeen,
welche das Schicksal und die Ehre der Staaten mehr entscheiden als die be¬
festigten Stellungen. Die Befestigungen an der Maas werden für Belgien
solange eine Last sein, als es nicht 70000 Mann mehr mobilisieren kann. Und
es wird dies nur bei Rekrutierungseinrichtungen zu tun vermögen, die unserer
Epoche entsprechen." Seit.1906 wandte man den Maasfestungen noch erhöhte
Aufmerksamkeit zu. Die artilleristische Armierung für eine mobile Verteidigung
wurde verstärkt, und das Vorschieben von Befestigungen mehr nach der Grenze



") v. Löbell XIII S, 09.
Grenzboten IV 191174

baute. In seinen Händen bildete der Platz nunmehr eine ständige Bedrohung
Englands, eine, wie er selbst es nannte, „gegen das Herz Englands gerichtete
geladene Pistole". Darum richteten die Engländer ihr Augenmerk auf Ant¬
werpens Eroberung. Ihre 1809 zunächst gegen die Insel Walcheren gerichtete
Unternehmung mißglückte. 1814 griffen sie den Platz an, mit der aus¬
gesprochenen Absicht, den dort befindlichen Teil der französischen Flotte zu zer¬
stören; diese lediglich ein englisches Sonderinteresse verfolgende Verwendung der
Kräfte diente nicht der schnellen Erreichung des gemeinsamen Endzieles der Krieg¬
führung der Verbündeten. Für England geöffnet wird Antwerpen zum Brückenkopf
für eine Invasion auf dem Kontinent und zur Basis für weiteres Vordringen
nach beliebiger Richtung. Jede Trnppenmacht, die durch Belgien marschieren
will, muß mit dem verschanzten Lager rechnen, gleichviel ob sie über See kommt
oder die Landgrenze überschreitet; immer wirkt es als Flankenstellung, voraus¬
gesetzt, daß es ein mobiles Heer beherbergt. Voraussetzung hierfür war wieder
der Bau detachierter Forts in weitem Umfange. Der große Ingenieur Brialmont
fand hier ein weites Feld zur Verwirklichung seiner Gedanken. Um Zersplitterung
der Kräfte zu vermeiden, mutzte eine Einschränkung der Zahl der alten kleinen
Befestigungen mit dem Ausbau des großen Platzes Hand in Hand gehen. Die
Maaslinie wollte man nicht aufgeben; schon in den letzten siebziger Jahren
entschied man sich für die Erhaltung der Zitadellen von Lüttich und Namur.
Außerdem verblieben die Festungen Termonde an der Dendre und Diest an
dem Deiner bestehen. Für den Ausbau von Lüttich und Namur wurden schon
1887 beträchtliche Mittel bewilligt. Sie sollten keine zusammenhängende Um-
wallung erhalten und auch nicht zu verschanzten Lagern ausgestaltet werden,
sondern zu strategischen Brückenköpfen, Sperren der großen Bahnlinien Paris—
Charleroy—Aachen—Cöln und Luxemburg—Brüssel und Antwerpen, sowie zu
„Manöverpivots". 1891 war der Bau soweit vorgeschritten, daß die alten
Zitadellen aufgegeben werden konnten. Sehr bemerkenswert ist eine Äußerung
Moltkes über diese Anlagen in einem Gespräche mit dem belgischen Oberst
Lahure*): „In den Bedingungen, in welchen sich die belgische Armee befindet,
werden sämtliche Kräfte, welche sie zu mobilisieren vermag, von Anfang an
durch die Befestigungen in Anspruch genommen werden. Es wird keine Feld¬
armee geben oder eine äußerst geringe. Und doch sind es die Feldarmeen,
welche das Schicksal und die Ehre der Staaten mehr entscheiden als die be¬
festigten Stellungen. Die Befestigungen an der Maas werden für Belgien
solange eine Last sein, als es nicht 70000 Mann mehr mobilisieren kann. Und
es wird dies nur bei Rekrutierungseinrichtungen zu tun vermögen, die unserer
Epoche entsprechen." Seit.1906 wandte man den Maasfestungen noch erhöhte
Aufmerksamkeit zu. Die artilleristische Armierung für eine mobile Verteidigung
wurde verstärkt, und das Vorschieben von Befestigungen mehr nach der Grenze



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/593>, abgerufen am 23.07.2024.