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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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maßen einen Anspruch auf Kontrolle der Maßnahmen Belgiens zur Landes¬
verteidigung ein. Auch liegt es auf der Hand, daß die belgische Regierung
darauf angewiesen ist, die Erregung von Mißtrauen seitens der Nachbarn durch
einseitige Anordnungen zu vermeiden.

In der ersten Zeit wurde versucht, die vorhandenen zahlreichen alten Be¬
festigungen zur Verteidigung auszunutzen. Eine besondere Bedeutung beanspruchte
von jeher Antwerpen, das bei der Abtrennung des neuen Königreichs von den
Niederlanden im Jahre 1832 durch die Franzosen im Einverständnis mit den
Engländern für Belgien erobert worden war, ein außerordentlich merkwürdiger
Fall, weil gerade diese beiden Mächte früher so ernst um diesen Platz gestritten
hatten und auch in der Folge das Auge darauf gerichtet behielten. Durch ein
Gesetz vom 8. September 1359 wurde die bereits seit acht Jahren ernstlich
geplante Neubefestigung Antwerpens als große zentrale Stellung beschlossen.
Die Schaffung eines solchen verschanzten Lagers konnte nicht ohne Einfluß auf
die Organisation des kleinen Heeres bleiben; es mußte, abgesehen von den
Besatzungen der unbedeutenden Festungen, in zwei Teile geteilt werden: die
mobile Armee und die Armee von Antwerpen. Erstere trat dann während des
deutsch-französischen Krieges 1870/71 als Observationsarmee an der Grenze auf.
Die Kriegsstärke ist von 80000 Mann immer mehr angewachsen und betrag:
seit 1908 (nach dem /mnuaire 8tali8tiqus as öelAique von 1910) 173 681
Köpfe, wovon 102 509 (einschließlich 2713 Offiziere) auf die Feldarmee kommen.
Das Militärbudget war von dem vor 1853 festgestellten "Maximalbudget" von
25 Millionen Franken für 1910 bereits auf 56 630291 Franken gestiegen --
ausschließlich der Kosten der großen Festungsbauten*).

Antwerpen beherrscht die untere Scheide und verwehrt einer feindlichen
Flotte das Einlaufen in belgisches Gebiet und das Landen von Truppen, selbst
wenn die Niederlande die Fahrt durch die Wester-Scheide nicht hindern sollten.
Beide Ufer beherrschend, ist es außerdem eine Manövrierfestung im größten
Stile, die einer in ihr verschanztes Lager aufgenommenen Armee volle Be¬
wegungsfreiheit nach drei Seiten gewährt. Von der offenen Südgrenze liegt
es nur unerheblich weiter als von dem durch die Maaslinie gegen Süd-Süd-Ost
gebildeten Abschnitt. Zu der hohen militärischen Bedeutung kommt der große
wirtschaftliche Wert des Platzes, bedingt durch einen lebhaften See- und Binnen¬
schiffahrtsverkehr. Im Jahre 1909 kamen zu See 6770 Schiffe mit 10758114
Registertonnen ein (gegenüber 12657000 Registertonnen in Hamburg**). Sehr
frühzeitig wurde die Wichtigkeit Antwerpens erkannt, von niemand aber
mehr gewürdigt als von Napoleon, der den Hafen für eine Kriegsflotte aus-




Näheres, auch für das Folgende, siehe "b. LöbelS Jahresberichte über das Heer-
und Kriegswesen" I bis XXXVII. Berlin 187S bis 1911, und Stavenhagen, "Über Ant¬
werpens militärische und maritime Bedeutung." Militär-Wochenblatt 1910 Ur. 38, 39 u. 44.
"Nauticus, Jahrbuch für Deutschlands Seeinteressen." Berlin 1S11. S. 2SI u. 26S
und Beilage S.
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maßen einen Anspruch auf Kontrolle der Maßnahmen Belgiens zur Landes¬
verteidigung ein. Auch liegt es auf der Hand, daß die belgische Regierung
darauf angewiesen ist, die Erregung von Mißtrauen seitens der Nachbarn durch
einseitige Anordnungen zu vermeiden.

In der ersten Zeit wurde versucht, die vorhandenen zahlreichen alten Be¬
festigungen zur Verteidigung auszunutzen. Eine besondere Bedeutung beanspruchte
von jeher Antwerpen, das bei der Abtrennung des neuen Königreichs von den
Niederlanden im Jahre 1832 durch die Franzosen im Einverständnis mit den
Engländern für Belgien erobert worden war, ein außerordentlich merkwürdiger
Fall, weil gerade diese beiden Mächte früher so ernst um diesen Platz gestritten
hatten und auch in der Folge das Auge darauf gerichtet behielten. Durch ein
Gesetz vom 8. September 1359 wurde die bereits seit acht Jahren ernstlich
geplante Neubefestigung Antwerpens als große zentrale Stellung beschlossen.
Die Schaffung eines solchen verschanzten Lagers konnte nicht ohne Einfluß auf
die Organisation des kleinen Heeres bleiben; es mußte, abgesehen von den
Besatzungen der unbedeutenden Festungen, in zwei Teile geteilt werden: die
mobile Armee und die Armee von Antwerpen. Erstere trat dann während des
deutsch-französischen Krieges 1870/71 als Observationsarmee an der Grenze auf.
Die Kriegsstärke ist von 80000 Mann immer mehr angewachsen und betrag:
seit 1908 (nach dem /mnuaire 8tali8tiqus as öelAique von 1910) 173 681
Köpfe, wovon 102 509 (einschließlich 2713 Offiziere) auf die Feldarmee kommen.
Das Militärbudget war von dem vor 1853 festgestellten „Maximalbudget" von
25 Millionen Franken für 1910 bereits auf 56 630291 Franken gestiegen —
ausschließlich der Kosten der großen Festungsbauten*).

Antwerpen beherrscht die untere Scheide und verwehrt einer feindlichen
Flotte das Einlaufen in belgisches Gebiet und das Landen von Truppen, selbst
wenn die Niederlande die Fahrt durch die Wester-Scheide nicht hindern sollten.
Beide Ufer beherrschend, ist es außerdem eine Manövrierfestung im größten
Stile, die einer in ihr verschanztes Lager aufgenommenen Armee volle Be¬
wegungsfreiheit nach drei Seiten gewährt. Von der offenen Südgrenze liegt
es nur unerheblich weiter als von dem durch die Maaslinie gegen Süd-Süd-Ost
gebildeten Abschnitt. Zu der hohen militärischen Bedeutung kommt der große
wirtschaftliche Wert des Platzes, bedingt durch einen lebhaften See- und Binnen¬
schiffahrtsverkehr. Im Jahre 1909 kamen zu See 6770 Schiffe mit 10758114
Registertonnen ein (gegenüber 12657000 Registertonnen in Hamburg**). Sehr
frühzeitig wurde die Wichtigkeit Antwerpens erkannt, von niemand aber
mehr gewürdigt als von Napoleon, der den Hafen für eine Kriegsflotte aus-




Näheres, auch für das Folgende, siehe „b. LöbelS Jahresberichte über das Heer-
und Kriegswesen" I bis XXXVII. Berlin 187S bis 1911, und Stavenhagen, „Über Ant¬
werpens militärische und maritime Bedeutung." Militär-Wochenblatt 1910 Ur. 38, 39 u. 44.
„Nauticus, Jahrbuch für Deutschlands Seeinteressen." Berlin 1S11. S. 2SI u. 26S
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[0592] Arr belgischen Landcsvcricidigungsfragc maßen einen Anspruch auf Kontrolle der Maßnahmen Belgiens zur Landes¬ verteidigung ein. Auch liegt es auf der Hand, daß die belgische Regierung darauf angewiesen ist, die Erregung von Mißtrauen seitens der Nachbarn durch einseitige Anordnungen zu vermeiden. In der ersten Zeit wurde versucht, die vorhandenen zahlreichen alten Be¬ festigungen zur Verteidigung auszunutzen. Eine besondere Bedeutung beanspruchte von jeher Antwerpen, das bei der Abtrennung des neuen Königreichs von den Niederlanden im Jahre 1832 durch die Franzosen im Einverständnis mit den Engländern für Belgien erobert worden war, ein außerordentlich merkwürdiger Fall, weil gerade diese beiden Mächte früher so ernst um diesen Platz gestritten hatten und auch in der Folge das Auge darauf gerichtet behielten. Durch ein Gesetz vom 8. September 1359 wurde die bereits seit acht Jahren ernstlich geplante Neubefestigung Antwerpens als große zentrale Stellung beschlossen. Die Schaffung eines solchen verschanzten Lagers konnte nicht ohne Einfluß auf die Organisation des kleinen Heeres bleiben; es mußte, abgesehen von den Besatzungen der unbedeutenden Festungen, in zwei Teile geteilt werden: die mobile Armee und die Armee von Antwerpen. Erstere trat dann während des deutsch-französischen Krieges 1870/71 als Observationsarmee an der Grenze auf. Die Kriegsstärke ist von 80000 Mann immer mehr angewachsen und betrag: seit 1908 (nach dem /mnuaire 8tali8tiqus as öelAique von 1910) 173 681 Köpfe, wovon 102 509 (einschließlich 2713 Offiziere) auf die Feldarmee kommen. Das Militärbudget war von dem vor 1853 festgestellten „Maximalbudget" von 25 Millionen Franken für 1910 bereits auf 56 630291 Franken gestiegen — ausschließlich der Kosten der großen Festungsbauten*). Antwerpen beherrscht die untere Scheide und verwehrt einer feindlichen Flotte das Einlaufen in belgisches Gebiet und das Landen von Truppen, selbst wenn die Niederlande die Fahrt durch die Wester-Scheide nicht hindern sollten. Beide Ufer beherrschend, ist es außerdem eine Manövrierfestung im größten Stile, die einer in ihr verschanztes Lager aufgenommenen Armee volle Be¬ wegungsfreiheit nach drei Seiten gewährt. Von der offenen Südgrenze liegt es nur unerheblich weiter als von dem durch die Maaslinie gegen Süd-Süd-Ost gebildeten Abschnitt. Zu der hohen militärischen Bedeutung kommt der große wirtschaftliche Wert des Platzes, bedingt durch einen lebhaften See- und Binnen¬ schiffahrtsverkehr. Im Jahre 1909 kamen zu See 6770 Schiffe mit 10758114 Registertonnen ein (gegenüber 12657000 Registertonnen in Hamburg**). Sehr frühzeitig wurde die Wichtigkeit Antwerpens erkannt, von niemand aber mehr gewürdigt als von Napoleon, der den Hafen für eine Kriegsflotte aus- Näheres, auch für das Folgende, siehe „b. LöbelS Jahresberichte über das Heer- und Kriegswesen" I bis XXXVII. Berlin 187S bis 1911, und Stavenhagen, „Über Ant¬ werpens militärische und maritime Bedeutung." Militär-Wochenblatt 1910 Ur. 38, 39 u. 44. „Nauticus, Jahrbuch für Deutschlands Seeinteressen." Berlin 1S11. S. 2SI u. 26S und Beilage S.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/592>, abgerufen am 23.07.2024.