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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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abhängen. So liegt denn die Hauptgefahr nicht im Brandherde selber, sondern
an seinen Rändern.

Wenn es sich um türkische oder italienische Verwicklungen handelt, schweifen
die Gedanken nmvillkürlich nach Österreich-Ungarn. Allein schon das Karten¬
bild, in dem die Habsburgische Doppelmonarchie wie ein verbindender Anker
auf den beiden südlicheren Reichen liegt, lenkt die Blicke nach Wien und läßt
zunächst übersehen, daß dazwischen noch einige kleinere Gebilde liegen. Grenzten
die großen Reiche direkt aneinander, dann lägen aber die Dinge zwischen ihnen
einfacher. Zwei Mächtige respektieren einander gewöhnlich, aber steht zwischen
ihnen ein Schwacher, so ist es häufig genug dessen Haut, um deren willen die
Großen sich schlagen. Und in der Tat hängt Österreichs Haltung in der ferneren
Entwicklung des türkisch-italienischen Streites im wesentlichen davon ab, wie
Bulgarien, Serbien und Montenegro sich gegen die Türkei verhalten. Die aber
stehen alle drei in mehr oder weniger starker Abhängigkeit von den in Petersburg
herrschenden Anschauungen; Montenegro wird obendrein noch durch Familien¬
bande der beiderseitigen Herrscherfamilien mit Italien verbunden.

Wir haben alle Ursache, den Herrn der schwarzen Berge Nikolaus
mit dein größten Mißtrauen zu betrachten. Ehrgeizig, wie er ist, genügt ihm
der Talkessel nicht, der sein Reich bildet, wenn er sich auch zum Range eines
Königs erheben ließ. Sein Blick ist auf Albanien gerichtet. Ob und wie weit dort
eine Erhebung vorbereitet ist, läßt sich noch nicht mit Sicherheit behaupten.
Jedenfalls steht fest, daß Nikolaus während der letzten Unruhen in Verbindung
mit den Führern der Albanesen getreten ist und daß er diese Verbindungen
eifrig pflegt. Es liegt auf der Hand, daß Italien den Bundesgenossen jenseits
des Adriatischen Meeres nicht stören wird, sobald dieser seine Zeit gekommen
wähnt, und Nachrichten, die auf einen starken Verkehr zwischen Rom und Cetinje
hindeuten, dürfen nicht unbeachtet bleiben. -- Anders liegt es mit dem zweiten
Protektor Montenegros, mit Rußland. Zwar hat Zar Nikolaus der Zweite
oft genug Gelegenheit gefunden, dem kleinen Bergvolk seine Sympathie praktisch
zum Ausdruck zu bringen, -- Waffen, zuletzt eine Abteilung Artillerie, sind oft
genug aus den russischen Arsenälen nach Antivari verschifft worden. Aber diese
Sympathiebezeugungen hatten ihren Grund wohl vorwiegend in dem gespannten
Verhältnis zu Österreich und weniger in einer Feindseligkeit gegen die Pforte.
Montenegro ist gewissermaßen als der Brückenkopf gedacht, durch den eine Ru߬
land verbündete Westmacht, etwa Frankreich oder Italien, in die Herzegowina
oder in Bosnien einbrechen könnte. Im gegenwärtigen Augenblick aber steht
die Partie etwas anders. Zunächst hat Rußland überhaupt kein Interesse an
Tripolis, alsdann ist es durch Italiens schroffes Vorgehen ebenso peinlich über¬
rascht wie alle anderen Staaten, und schließlich ist es für die Auflösung der
europäischen Türkei im gegenwärtigen Augenblick ebensowenig vorbereitet, wie
sür einen europäischen Krieg überhaupt. Sollte aber der Krieg zur Teilung
sühren, dann wäre Rußland gezwungen, zuzusehen, was ihm England und


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abhängen. So liegt denn die Hauptgefahr nicht im Brandherde selber, sondern
an seinen Rändern.

Wenn es sich um türkische oder italienische Verwicklungen handelt, schweifen
die Gedanken nmvillkürlich nach Österreich-Ungarn. Allein schon das Karten¬
bild, in dem die Habsburgische Doppelmonarchie wie ein verbindender Anker
auf den beiden südlicheren Reichen liegt, lenkt die Blicke nach Wien und läßt
zunächst übersehen, daß dazwischen noch einige kleinere Gebilde liegen. Grenzten
die großen Reiche direkt aneinander, dann lägen aber die Dinge zwischen ihnen
einfacher. Zwei Mächtige respektieren einander gewöhnlich, aber steht zwischen
ihnen ein Schwacher, so ist es häufig genug dessen Haut, um deren willen die
Großen sich schlagen. Und in der Tat hängt Österreichs Haltung in der ferneren
Entwicklung des türkisch-italienischen Streites im wesentlichen davon ab, wie
Bulgarien, Serbien und Montenegro sich gegen die Türkei verhalten. Die aber
stehen alle drei in mehr oder weniger starker Abhängigkeit von den in Petersburg
herrschenden Anschauungen; Montenegro wird obendrein noch durch Familien¬
bande der beiderseitigen Herrscherfamilien mit Italien verbunden.

Wir haben alle Ursache, den Herrn der schwarzen Berge Nikolaus
mit dein größten Mißtrauen zu betrachten. Ehrgeizig, wie er ist, genügt ihm
der Talkessel nicht, der sein Reich bildet, wenn er sich auch zum Range eines
Königs erheben ließ. Sein Blick ist auf Albanien gerichtet. Ob und wie weit dort
eine Erhebung vorbereitet ist, läßt sich noch nicht mit Sicherheit behaupten.
Jedenfalls steht fest, daß Nikolaus während der letzten Unruhen in Verbindung
mit den Führern der Albanesen getreten ist und daß er diese Verbindungen
eifrig pflegt. Es liegt auf der Hand, daß Italien den Bundesgenossen jenseits
des Adriatischen Meeres nicht stören wird, sobald dieser seine Zeit gekommen
wähnt, und Nachrichten, die auf einen starken Verkehr zwischen Rom und Cetinje
hindeuten, dürfen nicht unbeachtet bleiben. — Anders liegt es mit dem zweiten
Protektor Montenegros, mit Rußland. Zwar hat Zar Nikolaus der Zweite
oft genug Gelegenheit gefunden, dem kleinen Bergvolk seine Sympathie praktisch
zum Ausdruck zu bringen, — Waffen, zuletzt eine Abteilung Artillerie, sind oft
genug aus den russischen Arsenälen nach Antivari verschifft worden. Aber diese
Sympathiebezeugungen hatten ihren Grund wohl vorwiegend in dem gespannten
Verhältnis zu Österreich und weniger in einer Feindseligkeit gegen die Pforte.
Montenegro ist gewissermaßen als der Brückenkopf gedacht, durch den eine Ru߬
land verbündete Westmacht, etwa Frankreich oder Italien, in die Herzegowina
oder in Bosnien einbrechen könnte. Im gegenwärtigen Augenblick aber steht
die Partie etwas anders. Zunächst hat Rußland überhaupt kein Interesse an
Tripolis, alsdann ist es durch Italiens schroffes Vorgehen ebenso peinlich über¬
rascht wie alle anderen Staaten, und schließlich ist es für die Auflösung der
europäischen Türkei im gegenwärtigen Augenblick ebensowenig vorbereitet, wie
sür einen europäischen Krieg überhaupt. Sollte aber der Krieg zur Teilung
sühren, dann wäre Rußland gezwungen, zuzusehen, was ihm England und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/55>, abgerufen am 23.07.2024.