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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Lriefe aus China

durch anderthalb Dutzend Sekten vertreten ist, von denen jede den Alleinbesitz
der lauteren Wahrheit für sich beansprucht und allen übrigen Sekten gegenüber,
die doch auch unter dem Namen "Christentum" auftreten, christliche Liebe --
christliche Liebe sein läßt. "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg'
auch keinem andern zu", hat bereits Konfnzius gelehrt. Und daß die Chinesen
die Fremden nicht gerade inbrünstig lieben, nimmt mich nicht wunder, seit ich
gesehen habe, wie sie die Chinesen behandeln und sich als Herren im Lande
gebärden. Dagegen sind die reisenden Engländer, die unseren Kontinent durch
ihre Gegenwart verunzieren, noch die reinen Waisenknaben. Als ich z. B. neulich
mit F. spazieren ging, wich ihm ein Chinese nicht, wie er es erwartet hatte,
nach links, sondern nach rechts aus (in bester Absicht natürlich), da packte er ihn
ohne Umstände beim Kragen und schleuderte ihn mitten auf die Straße. Was
würde man denn sagen, wenn sich in Berlin ein Chinese derartiges gegen einen
Berliner erlauben würde? Man soll doch um Gotteswillen europäisch und
zivilisiert nicht für gleichbedeutend halten. Noch heute konnte ich die beschämende
Beobachtung im Tsungli-Aamen (Auswärtiges Amt) machen, wieviel vornehmer,
anstandsvoller und zivilisierter sich die Chinesen zu benehmen wußten, als all
die schön uniformierten Herren Diplomaten und sonstigen Vertreter der "west¬
lichen Zivilisation".

Neulich machte ich mit Lilln und Frau v. P. einen Spaziergang durch
die Chinesenstadt, wo kein einziger Europäer außer einigen Missionaren wohnt.
In dem Straßenlabyrinth verirrten wir uns und gerieten schließlich in eine
ziemlich menschenleere Sackgasse. Dort begegnete uns ein Chinese; es war ein
einfacher Mann aus dem Volke. Ich fragte ihn nach dem Wege, und er gab
uns nicht nur in freundlichster Weise die gewünschte Auskunft, sondern führte
uns bis an eine Ecke, wo wir nicht mehr fehl gehen konnten. Ähnliches haben
wir in Hang-chow und Su-chow dutzendfach erlebt -- überall die gleiche Höf¬
lichkeit. Nirgends wurden wir, wenn wir auch ohne jegliche Begleitung unter
lauter Chinesen waren, auch nur in der geringsten Art belästigt.

Und wird denn etwa das Christentum im christlichen Europa nicht alle
Tage und vor aller Augen von Juden und Sozialdemokraten beschimpft und
lächerlich gemacht? Da sollten die Herren Korrespondenten des Berliner Tage¬
blattes doch lieber erst vor ihrer eigenen Türe fegen, ehe sie China mit ihrer
Säuberungsarbeit beglücken. Es gibt auch zu Hause Unrat genug, -- und
jeder Mistkäfer bleibe auf seinem Misthaufen.... (Weuore Briefe folge")




Lriefe aus China

durch anderthalb Dutzend Sekten vertreten ist, von denen jede den Alleinbesitz
der lauteren Wahrheit für sich beansprucht und allen übrigen Sekten gegenüber,
die doch auch unter dem Namen „Christentum" auftreten, christliche Liebe —
christliche Liebe sein läßt. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg'
auch keinem andern zu", hat bereits Konfnzius gelehrt. Und daß die Chinesen
die Fremden nicht gerade inbrünstig lieben, nimmt mich nicht wunder, seit ich
gesehen habe, wie sie die Chinesen behandeln und sich als Herren im Lande
gebärden. Dagegen sind die reisenden Engländer, die unseren Kontinent durch
ihre Gegenwart verunzieren, noch die reinen Waisenknaben. Als ich z. B. neulich
mit F. spazieren ging, wich ihm ein Chinese nicht, wie er es erwartet hatte,
nach links, sondern nach rechts aus (in bester Absicht natürlich), da packte er ihn
ohne Umstände beim Kragen und schleuderte ihn mitten auf die Straße. Was
würde man denn sagen, wenn sich in Berlin ein Chinese derartiges gegen einen
Berliner erlauben würde? Man soll doch um Gotteswillen europäisch und
zivilisiert nicht für gleichbedeutend halten. Noch heute konnte ich die beschämende
Beobachtung im Tsungli-Aamen (Auswärtiges Amt) machen, wieviel vornehmer,
anstandsvoller und zivilisierter sich die Chinesen zu benehmen wußten, als all
die schön uniformierten Herren Diplomaten und sonstigen Vertreter der „west¬
lichen Zivilisation".

Neulich machte ich mit Lilln und Frau v. P. einen Spaziergang durch
die Chinesenstadt, wo kein einziger Europäer außer einigen Missionaren wohnt.
In dem Straßenlabyrinth verirrten wir uns und gerieten schließlich in eine
ziemlich menschenleere Sackgasse. Dort begegnete uns ein Chinese; es war ein
einfacher Mann aus dem Volke. Ich fragte ihn nach dem Wege, und er gab
uns nicht nur in freundlichster Weise die gewünschte Auskunft, sondern führte
uns bis an eine Ecke, wo wir nicht mehr fehl gehen konnten. Ähnliches haben
wir in Hang-chow und Su-chow dutzendfach erlebt — überall die gleiche Höf¬
lichkeit. Nirgends wurden wir, wenn wir auch ohne jegliche Begleitung unter
lauter Chinesen waren, auch nur in der geringsten Art belästigt.

Und wird denn etwa das Christentum im christlichen Europa nicht alle
Tage und vor aller Augen von Juden und Sozialdemokraten beschimpft und
lächerlich gemacht? Da sollten die Herren Korrespondenten des Berliner Tage¬
blattes doch lieber erst vor ihrer eigenen Türe fegen, ehe sie China mit ihrer
Säuberungsarbeit beglücken. Es gibt auch zu Hause Unrat genug, — und
jeder Mistkäfer bleibe auf seinem Misthaufen.... (Weuore Briefe folge»)




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[0540] Lriefe aus China durch anderthalb Dutzend Sekten vertreten ist, von denen jede den Alleinbesitz der lauteren Wahrheit für sich beansprucht und allen übrigen Sekten gegenüber, die doch auch unter dem Namen „Christentum" auftreten, christliche Liebe — christliche Liebe sein läßt. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu", hat bereits Konfnzius gelehrt. Und daß die Chinesen die Fremden nicht gerade inbrünstig lieben, nimmt mich nicht wunder, seit ich gesehen habe, wie sie die Chinesen behandeln und sich als Herren im Lande gebärden. Dagegen sind die reisenden Engländer, die unseren Kontinent durch ihre Gegenwart verunzieren, noch die reinen Waisenknaben. Als ich z. B. neulich mit F. spazieren ging, wich ihm ein Chinese nicht, wie er es erwartet hatte, nach links, sondern nach rechts aus (in bester Absicht natürlich), da packte er ihn ohne Umstände beim Kragen und schleuderte ihn mitten auf die Straße. Was würde man denn sagen, wenn sich in Berlin ein Chinese derartiges gegen einen Berliner erlauben würde? Man soll doch um Gotteswillen europäisch und zivilisiert nicht für gleichbedeutend halten. Noch heute konnte ich die beschämende Beobachtung im Tsungli-Aamen (Auswärtiges Amt) machen, wieviel vornehmer, anstandsvoller und zivilisierter sich die Chinesen zu benehmen wußten, als all die schön uniformierten Herren Diplomaten und sonstigen Vertreter der „west¬ lichen Zivilisation". Neulich machte ich mit Lilln und Frau v. P. einen Spaziergang durch die Chinesenstadt, wo kein einziger Europäer außer einigen Missionaren wohnt. In dem Straßenlabyrinth verirrten wir uns und gerieten schließlich in eine ziemlich menschenleere Sackgasse. Dort begegnete uns ein Chinese; es war ein einfacher Mann aus dem Volke. Ich fragte ihn nach dem Wege, und er gab uns nicht nur in freundlichster Weise die gewünschte Auskunft, sondern führte uns bis an eine Ecke, wo wir nicht mehr fehl gehen konnten. Ähnliches haben wir in Hang-chow und Su-chow dutzendfach erlebt — überall die gleiche Höf¬ lichkeit. Nirgends wurden wir, wenn wir auch ohne jegliche Begleitung unter lauter Chinesen waren, auch nur in der geringsten Art belästigt. Und wird denn etwa das Christentum im christlichen Europa nicht alle Tage und vor aller Augen von Juden und Sozialdemokraten beschimpft und lächerlich gemacht? Da sollten die Herren Korrespondenten des Berliner Tage¬ blattes doch lieber erst vor ihrer eigenen Türe fegen, ehe sie China mit ihrer Säuberungsarbeit beglücken. Es gibt auch zu Hause Unrat genug, — und jeder Mistkäfer bleibe auf seinem Misthaufen.... (Weuore Briefe folge»)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/540>, abgerufen am 23.07.2024.