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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Sorglosigkeit der türkischen Regierung schuld. Die häufigen Be¬
schwerden der italienischen Regierung bei der Pforte über angebliche Übergriffe
türkischer Beamten mußten der Negierung schon seit mindestens zwei Jahren
andeuten, daß irgend etwas gegen Tripolis im Gange sei. Vollends seit dem
Januar dieses Jahres mußte es den Türken klar sein, daß Italien in aller¬
nächster Zeit zur Realisierung seiner Abmachungen mit Frankreich und England
schreiten würde. Trotz allen bedrohlichen Anzeichen hat die türkische Regierung
keinerlei Schritte unternommen, um einen: kriegerischen oder auch nur diplo¬
matischen Handstreich gegenüber gerüstet zu sein. Im Leben der Staaten ist
es aber nur wenig anders als im Leben des Einzelmenschen: Freunde hat nur
der Starke, das ist derjenige, der zeigt, daß er seine Interessen selbst zu wahren
versteht.

Damit aber fällt auch ein guter Teil der Befürchtungen in sich zusammen,
der sich an die Stellung Deutschlands zu dem Streite knüpfte. Die
ganze Angelegenheit ist selbstverständlich nicht nur für die deutsche Diplomatie
ärgerlich, sondern birgt auch gewisse Gefahrenmomente für den deutschen Orient¬
handel in sich. Darüber ist kein Wort zu verlieren. Aber die Unterlassungen
und Verfehlungen der Streitenden machen es uns auch möglich kühl zu bleiben
und erst dann einzugreifen, wenn auf der einen oder anderen Seite wirtschaftliche
Interessen Deutschlands gefährdet werden sollten. Herr v. Kiderlen, der durch die
letzten Schritte Italiens und dessen rigorose Art vorzugehen wohl ebenso überrascht
worden ist, wie jeder andere Diplomat auf dem Erdenrund, hat sich denn auch sehr
schnell in die neue Situation gefunden. Seine Auffassung von den Pflichten
Deutschlands kommt wohl am deutlichsten dadurch zum Ausdruck, daß Deutsch¬
land nicht nur den Schutz der Italiener in der Türkei, sondern auch den der
Türken in Italien übernommen hat. Ins gemeinverständliche übertragen heißt
das: Ich gönne wohl beiden einen gehörigen Denkzettel, aber Unschuldige
sollen nicht leiden! Dafür werde ich sorgen! -- Damit ist der Wunsch Deutsch¬
lands, die Angelegenheit zu lokalisieren, so deutlich zum Ausdruck gebracht wie
nur möglich, und den Feinden Deutschlands wird es einmal schwer fallen, den
Nachweis zu erbringen, daß die deutsche Negierung irgend etwas versäumt habe,
um deu Weltfrieden zu erhalten.

Über den Gang der kriegerischen Ereignisse möchte ich an dieser
Stelle nur insoweit berichten, als es zum Verständnis der diplomatischen Dinge
notwendig ist; ich wäre überdies der Tagespresse gegenüber nur ein hinkender
Bote. Für die diplomatische Entwicklung des Streites ist es, solange nicht dritte
mit hineingezogen werden, ziemlich gleichgültig, ob die kriegführenden Mächte
in: vorliegenden Falle mehr oder weniger Schlachten schlagen. Wenn alles
normal verläuft, d. h. wenn nicht gewisse ehrgeizige oder mißgünstige Regierungen
den Brand absichtlich ausbreiten, steht das Ergebnis des Krieges schon heute
fest: Italien bekommt Tripolis. Nur die Höhe des Preises, den es dafür
an die Türkei wird zahlen müssen, dürfte von der Zahl der gewonnenen Schlachten


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Sorglosigkeit der türkischen Regierung schuld. Die häufigen Be¬
schwerden der italienischen Regierung bei der Pforte über angebliche Übergriffe
türkischer Beamten mußten der Negierung schon seit mindestens zwei Jahren
andeuten, daß irgend etwas gegen Tripolis im Gange sei. Vollends seit dem
Januar dieses Jahres mußte es den Türken klar sein, daß Italien in aller¬
nächster Zeit zur Realisierung seiner Abmachungen mit Frankreich und England
schreiten würde. Trotz allen bedrohlichen Anzeichen hat die türkische Regierung
keinerlei Schritte unternommen, um einen: kriegerischen oder auch nur diplo¬
matischen Handstreich gegenüber gerüstet zu sein. Im Leben der Staaten ist
es aber nur wenig anders als im Leben des Einzelmenschen: Freunde hat nur
der Starke, das ist derjenige, der zeigt, daß er seine Interessen selbst zu wahren
versteht.

Damit aber fällt auch ein guter Teil der Befürchtungen in sich zusammen,
der sich an die Stellung Deutschlands zu dem Streite knüpfte. Die
ganze Angelegenheit ist selbstverständlich nicht nur für die deutsche Diplomatie
ärgerlich, sondern birgt auch gewisse Gefahrenmomente für den deutschen Orient¬
handel in sich. Darüber ist kein Wort zu verlieren. Aber die Unterlassungen
und Verfehlungen der Streitenden machen es uns auch möglich kühl zu bleiben
und erst dann einzugreifen, wenn auf der einen oder anderen Seite wirtschaftliche
Interessen Deutschlands gefährdet werden sollten. Herr v. Kiderlen, der durch die
letzten Schritte Italiens und dessen rigorose Art vorzugehen wohl ebenso überrascht
worden ist, wie jeder andere Diplomat auf dem Erdenrund, hat sich denn auch sehr
schnell in die neue Situation gefunden. Seine Auffassung von den Pflichten
Deutschlands kommt wohl am deutlichsten dadurch zum Ausdruck, daß Deutsch¬
land nicht nur den Schutz der Italiener in der Türkei, sondern auch den der
Türken in Italien übernommen hat. Ins gemeinverständliche übertragen heißt
das: Ich gönne wohl beiden einen gehörigen Denkzettel, aber Unschuldige
sollen nicht leiden! Dafür werde ich sorgen! — Damit ist der Wunsch Deutsch¬
lands, die Angelegenheit zu lokalisieren, so deutlich zum Ausdruck gebracht wie
nur möglich, und den Feinden Deutschlands wird es einmal schwer fallen, den
Nachweis zu erbringen, daß die deutsche Negierung irgend etwas versäumt habe,
um deu Weltfrieden zu erhalten.

Über den Gang der kriegerischen Ereignisse möchte ich an dieser
Stelle nur insoweit berichten, als es zum Verständnis der diplomatischen Dinge
notwendig ist; ich wäre überdies der Tagespresse gegenüber nur ein hinkender
Bote. Für die diplomatische Entwicklung des Streites ist es, solange nicht dritte
mit hineingezogen werden, ziemlich gleichgültig, ob die kriegführenden Mächte
in: vorliegenden Falle mehr oder weniger Schlachten schlagen. Wenn alles
normal verläuft, d. h. wenn nicht gewisse ehrgeizige oder mißgünstige Regierungen
den Brand absichtlich ausbreiten, steht das Ergebnis des Krieges schon heute
fest: Italien bekommt Tripolis. Nur die Höhe des Preises, den es dafür
an die Türkei wird zahlen müssen, dürfte von der Zahl der gewonnenen Schlachten


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[0054] Reichsspiegcl Sorglosigkeit der türkischen Regierung schuld. Die häufigen Be¬ schwerden der italienischen Regierung bei der Pforte über angebliche Übergriffe türkischer Beamten mußten der Negierung schon seit mindestens zwei Jahren andeuten, daß irgend etwas gegen Tripolis im Gange sei. Vollends seit dem Januar dieses Jahres mußte es den Türken klar sein, daß Italien in aller¬ nächster Zeit zur Realisierung seiner Abmachungen mit Frankreich und England schreiten würde. Trotz allen bedrohlichen Anzeichen hat die türkische Regierung keinerlei Schritte unternommen, um einen: kriegerischen oder auch nur diplo¬ matischen Handstreich gegenüber gerüstet zu sein. Im Leben der Staaten ist es aber nur wenig anders als im Leben des Einzelmenschen: Freunde hat nur der Starke, das ist derjenige, der zeigt, daß er seine Interessen selbst zu wahren versteht. Damit aber fällt auch ein guter Teil der Befürchtungen in sich zusammen, der sich an die Stellung Deutschlands zu dem Streite knüpfte. Die ganze Angelegenheit ist selbstverständlich nicht nur für die deutsche Diplomatie ärgerlich, sondern birgt auch gewisse Gefahrenmomente für den deutschen Orient¬ handel in sich. Darüber ist kein Wort zu verlieren. Aber die Unterlassungen und Verfehlungen der Streitenden machen es uns auch möglich kühl zu bleiben und erst dann einzugreifen, wenn auf der einen oder anderen Seite wirtschaftliche Interessen Deutschlands gefährdet werden sollten. Herr v. Kiderlen, der durch die letzten Schritte Italiens und dessen rigorose Art vorzugehen wohl ebenso überrascht worden ist, wie jeder andere Diplomat auf dem Erdenrund, hat sich denn auch sehr schnell in die neue Situation gefunden. Seine Auffassung von den Pflichten Deutschlands kommt wohl am deutlichsten dadurch zum Ausdruck, daß Deutsch¬ land nicht nur den Schutz der Italiener in der Türkei, sondern auch den der Türken in Italien übernommen hat. Ins gemeinverständliche übertragen heißt das: Ich gönne wohl beiden einen gehörigen Denkzettel, aber Unschuldige sollen nicht leiden! Dafür werde ich sorgen! — Damit ist der Wunsch Deutsch¬ lands, die Angelegenheit zu lokalisieren, so deutlich zum Ausdruck gebracht wie nur möglich, und den Feinden Deutschlands wird es einmal schwer fallen, den Nachweis zu erbringen, daß die deutsche Negierung irgend etwas versäumt habe, um deu Weltfrieden zu erhalten. Über den Gang der kriegerischen Ereignisse möchte ich an dieser Stelle nur insoweit berichten, als es zum Verständnis der diplomatischen Dinge notwendig ist; ich wäre überdies der Tagespresse gegenüber nur ein hinkender Bote. Für die diplomatische Entwicklung des Streites ist es, solange nicht dritte mit hineingezogen werden, ziemlich gleichgültig, ob die kriegführenden Mächte in: vorliegenden Falle mehr oder weniger Schlachten schlagen. Wenn alles normal verläuft, d. h. wenn nicht gewisse ehrgeizige oder mißgünstige Regierungen den Brand absichtlich ausbreiten, steht das Ergebnis des Krieges schon heute fest: Italien bekommt Tripolis. Nur die Höhe des Preises, den es dafür an die Türkei wird zahlen müssen, dürfte von der Zahl der gewonnenen Schlachten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/54>, abgerufen am 23.07.2024.