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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe aus Lhina

An Frau Clara Curtius.

Peking, 4. Januar 1898.

... Ich kann mich für eine Religion der Resignation nicht begeistern und ziehe
die der Tat vor. Die Religion ist Leben und Leben -- Handeln. Daher bin ich für
meine Person auch noch recht weit von der gepriesenen Wunschlosigkeit entfernt. Wie
oft z. B. wünsche ich mich an Ihren gemütlichen runden Tisch, um mich wieder
einmal nach Herzenslust über dieses und jenes, was den: Alltagsleben ferne liegt,
mit Ihnen auszusprechen. Und ist es nicht seltsam, so oft meine Gedanken bei
Ihnen weilen (und das ist gar oft der Fall), stelle ich Sie mir immer in der
altgewohnten Umgebung in der Matthäikirchstraße vor. Deshalb begreife ich
auch sehr wohl, daß Sie sich in den neuen Räumen noch immer nicht recht
heimisch fühlen. Es gibt eben Äußerlichkeiten, die durch so zahllose Fäden mit
dem innern Sein des Menschen verwoben sind, daß sie dadurch aufhören bloße
Äußerlichkeiten zu sein und schließlich einen Teil unseres eigenen Selbst bilden.

Wenn Herr v. Richthofen meint, ich sollte meine Anschauungen und Er¬
fahrungen frisch und bald schriftlich niederlegen, so ist das leichter gesagt als
getan. An guten: Willen fehlt mirs nicht; allein ich bin der Ansicht, daß
eigentlich nur diejenigen interessant, anregend und unterhaltend über China
schreiben können, die es nur oberflächlich kennen. Das klingt zwar paradox,
aber das ist bei so manchem, was wahr ist, der Fall. Wer gewissenhaft und
auf Grund eingehender Kenntnisse der Sprache, Geschichte und, soweit das über¬
haupt möglich ist, des Geisteslebens, dieses eigenartigste aller Kulturvölker, dessen
innerstes und äußeres Leben darstellen will, stößt auf Schritt und Tritt auf die
größten Schwierigkeiten, die ihn immer wieder stutzig machen, und kann daher
eines den Leser auf die Dauer ermüdenden Ballasts an allerhand Kleinkram beim
besten Willen nicht entraten. Es liegt in dem Wesen jeder uralten Kultur, daß
gewisse, immer wiederkehrende Bräuche und auch Redewendungen, denenursprünglich
im Volksbewußtsein ein lebendiger Sinn innewohnte, allmählich im Laufe der
Jahrhunderte und Jahrtausende erstarren und ihren ursprünglichen Vorstellungs¬
und Begriffswert einbüßen. So entstehen im äußeren Leben tote Formen, in
der Sprache tote Formeln. Tot und auch wieder nicht tot! denn mißverstanden
oder unverstanden, beeinflussen sie das Geistesleben der Nation, indem sie es
entweder in falsche Bahnen teilen oder in seiner Entwicklung hemmen. Je alter
eine Kultur ist, je reicher sie an toten Satzungen und Formeln wird, um so
näher rückt die Gefahr des nationalen Marasmus, weil Vorstellungen und Begriffe,
die ihres Inhalts beraubt sind, dem sozialen Körper keinen Nahrungsstoff zuführen
können. Zu neuem Leben, zu einer nationalen Wiedergeburt kann ein fernes
Volk erst dann gelangen, wenn es erstens den eigenen Zustand sich klar zum
Bewußtsein bringt und zweitens die als leer erkannten Formen mit neuem Leben
füllt. Seit ich in Canton gewesen bin und gesehen habe, welch herrlicher,
jugendlicher Idealismus dort gerade in solchen Kreisen herrscht, denen sonst die
typischen Vertreter krassester Reaktion und des glühendsten Fremdenhasses


Grenzboten IV 1911 67
Briefe aus Lhina

An Frau Clara Curtius.

Peking, 4. Januar 1898.

... Ich kann mich für eine Religion der Resignation nicht begeistern und ziehe
die der Tat vor. Die Religion ist Leben und Leben — Handeln. Daher bin ich für
meine Person auch noch recht weit von der gepriesenen Wunschlosigkeit entfernt. Wie
oft z. B. wünsche ich mich an Ihren gemütlichen runden Tisch, um mich wieder
einmal nach Herzenslust über dieses und jenes, was den: Alltagsleben ferne liegt,
mit Ihnen auszusprechen. Und ist es nicht seltsam, so oft meine Gedanken bei
Ihnen weilen (und das ist gar oft der Fall), stelle ich Sie mir immer in der
altgewohnten Umgebung in der Matthäikirchstraße vor. Deshalb begreife ich
auch sehr wohl, daß Sie sich in den neuen Räumen noch immer nicht recht
heimisch fühlen. Es gibt eben Äußerlichkeiten, die durch so zahllose Fäden mit
dem innern Sein des Menschen verwoben sind, daß sie dadurch aufhören bloße
Äußerlichkeiten zu sein und schließlich einen Teil unseres eigenen Selbst bilden.

Wenn Herr v. Richthofen meint, ich sollte meine Anschauungen und Er¬
fahrungen frisch und bald schriftlich niederlegen, so ist das leichter gesagt als
getan. An guten: Willen fehlt mirs nicht; allein ich bin der Ansicht, daß
eigentlich nur diejenigen interessant, anregend und unterhaltend über China
schreiben können, die es nur oberflächlich kennen. Das klingt zwar paradox,
aber das ist bei so manchem, was wahr ist, der Fall. Wer gewissenhaft und
auf Grund eingehender Kenntnisse der Sprache, Geschichte und, soweit das über¬
haupt möglich ist, des Geisteslebens, dieses eigenartigste aller Kulturvölker, dessen
innerstes und äußeres Leben darstellen will, stößt auf Schritt und Tritt auf die
größten Schwierigkeiten, die ihn immer wieder stutzig machen, und kann daher
eines den Leser auf die Dauer ermüdenden Ballasts an allerhand Kleinkram beim
besten Willen nicht entraten. Es liegt in dem Wesen jeder uralten Kultur, daß
gewisse, immer wiederkehrende Bräuche und auch Redewendungen, denenursprünglich
im Volksbewußtsein ein lebendiger Sinn innewohnte, allmählich im Laufe der
Jahrhunderte und Jahrtausende erstarren und ihren ursprünglichen Vorstellungs¬
und Begriffswert einbüßen. So entstehen im äußeren Leben tote Formen, in
der Sprache tote Formeln. Tot und auch wieder nicht tot! denn mißverstanden
oder unverstanden, beeinflussen sie das Geistesleben der Nation, indem sie es
entweder in falsche Bahnen teilen oder in seiner Entwicklung hemmen. Je alter
eine Kultur ist, je reicher sie an toten Satzungen und Formeln wird, um so
näher rückt die Gefahr des nationalen Marasmus, weil Vorstellungen und Begriffe,
die ihres Inhalts beraubt sind, dem sozialen Körper keinen Nahrungsstoff zuführen
können. Zu neuem Leben, zu einer nationalen Wiedergeburt kann ein fernes
Volk erst dann gelangen, wenn es erstens den eigenen Zustand sich klar zum
Bewußtsein bringt und zweitens die als leer erkannten Formen mit neuem Leben
füllt. Seit ich in Canton gewesen bin und gesehen habe, welch herrlicher,
jugendlicher Idealismus dort gerade in solchen Kreisen herrscht, denen sonst die
typischen Vertreter krassester Reaktion und des glühendsten Fremdenhasses


Grenzboten IV 1911 67
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[0537] Briefe aus Lhina An Frau Clara Curtius. Peking, 4. Januar 1898. ... Ich kann mich für eine Religion der Resignation nicht begeistern und ziehe die der Tat vor. Die Religion ist Leben und Leben — Handeln. Daher bin ich für meine Person auch noch recht weit von der gepriesenen Wunschlosigkeit entfernt. Wie oft z. B. wünsche ich mich an Ihren gemütlichen runden Tisch, um mich wieder einmal nach Herzenslust über dieses und jenes, was den: Alltagsleben ferne liegt, mit Ihnen auszusprechen. Und ist es nicht seltsam, so oft meine Gedanken bei Ihnen weilen (und das ist gar oft der Fall), stelle ich Sie mir immer in der altgewohnten Umgebung in der Matthäikirchstraße vor. Deshalb begreife ich auch sehr wohl, daß Sie sich in den neuen Räumen noch immer nicht recht heimisch fühlen. Es gibt eben Äußerlichkeiten, die durch so zahllose Fäden mit dem innern Sein des Menschen verwoben sind, daß sie dadurch aufhören bloße Äußerlichkeiten zu sein und schließlich einen Teil unseres eigenen Selbst bilden. Wenn Herr v. Richthofen meint, ich sollte meine Anschauungen und Er¬ fahrungen frisch und bald schriftlich niederlegen, so ist das leichter gesagt als getan. An guten: Willen fehlt mirs nicht; allein ich bin der Ansicht, daß eigentlich nur diejenigen interessant, anregend und unterhaltend über China schreiben können, die es nur oberflächlich kennen. Das klingt zwar paradox, aber das ist bei so manchem, was wahr ist, der Fall. Wer gewissenhaft und auf Grund eingehender Kenntnisse der Sprache, Geschichte und, soweit das über¬ haupt möglich ist, des Geisteslebens, dieses eigenartigste aller Kulturvölker, dessen innerstes und äußeres Leben darstellen will, stößt auf Schritt und Tritt auf die größten Schwierigkeiten, die ihn immer wieder stutzig machen, und kann daher eines den Leser auf die Dauer ermüdenden Ballasts an allerhand Kleinkram beim besten Willen nicht entraten. Es liegt in dem Wesen jeder uralten Kultur, daß gewisse, immer wiederkehrende Bräuche und auch Redewendungen, denenursprünglich im Volksbewußtsein ein lebendiger Sinn innewohnte, allmählich im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende erstarren und ihren ursprünglichen Vorstellungs¬ und Begriffswert einbüßen. So entstehen im äußeren Leben tote Formen, in der Sprache tote Formeln. Tot und auch wieder nicht tot! denn mißverstanden oder unverstanden, beeinflussen sie das Geistesleben der Nation, indem sie es entweder in falsche Bahnen teilen oder in seiner Entwicklung hemmen. Je alter eine Kultur ist, je reicher sie an toten Satzungen und Formeln wird, um so näher rückt die Gefahr des nationalen Marasmus, weil Vorstellungen und Begriffe, die ihres Inhalts beraubt sind, dem sozialen Körper keinen Nahrungsstoff zuführen können. Zu neuem Leben, zu einer nationalen Wiedergeburt kann ein fernes Volk erst dann gelangen, wenn es erstens den eigenen Zustand sich klar zum Bewußtsein bringt und zweitens die als leer erkannten Formen mit neuem Leben füllt. Seit ich in Canton gewesen bin und gesehen habe, welch herrlicher, jugendlicher Idealismus dort gerade in solchen Kreisen herrscht, denen sonst die typischen Vertreter krassester Reaktion und des glühendsten Fremdenhasses Grenzboten IV 1911 67

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/537>, abgerufen am 03.07.2024.