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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Auswärtige Angelegenheiten

Italiens Einbruch in Tripolis -- Fahrlässigkeit der Pforte -- Die Stellung Deutsch¬
lands -- Gang der kriegerischen Ereignisse -- Italien bekommt Tripolis -- Österreich-
Ungarns Haltung -- Herr Nikolaus von Montenegro -- Rußland -- Serbien und
Bulgarien -- Griechenland als Gefahrenherd -- Italien auf der Haager Friedens¬
konferenz -- Der Marokkohandel

Wohl selten ist die deutsche Presse so einmütig in der Beurteilung eines
Geschehnisses gewesen wie gegenüber dem Einbruch Italiens in türkisches
Gebiet. Die Blätter aller Richtungen haben herbe Worte gegen die italienische
Regierung gefunden und zutreffend Italiens Vorgehen als einen frechen Raubzug
gebrandmarkt. Auch die Freunde Italiens außerhalb des Dreibundes haben
an dem Vorgehen Anstoß genommen, aber, und das ist das charakteristische, sie
suchen die Verantwortung von den Italienern fort ans die anderen Dreibund¬
mächte, womöglich auf Deutschland, zu wälzen. So heißt es, Österreich-Ungarn
habe durch die Besetzung Bosniens das Signal zu dem Vorgehen Frankreichs
und nun zu dem Italiens gegeben, und Deutschland habe es gut geheißen.
Nun, der Vergleich hinkt. Österreich-Ungarn hat in Bosnien durch mehr als
ein Vierteljahrhundert eine Kulturarbeit verrichtet, die es moralisch schon lange
vor der formellen Inbesitznahme zum Herrn des Landes machte. Ähnlich ist
es mit Frankreich in Marokko. Auch die Franzosen haben seit 1880 unermüdlich
im Lande der Scherifen gewirkt und organisiert und erst dann den entscheidenden
Schritt getan, als sie tatsächliche Herren in Mauretanien waren. Was hat
dagegen Italien in Tripolis geleistet? Nichts! oder so gut wie nichts! Die
italienischen Kolonien in Tripolis haben kaum Zuwachs erhalten; der Handel
mit Tripolis beschränkt sich ans einige Millionen Lires und hat sich in den
letzten zehn Jahren nur um einige Hunderttausende vermehrt; eine Aus¬
wanderung von Jtalikern nach Tripolis hat nicht stattgefunden oder sich auf
Malteser beschränkt. Straßen- und Hafenbauten oder sonstige Kultur und Verkehr
fördernde Dinge, die nun vor irgendeinem drohenden Unheil geschützt werden
mußten, hat Italien in Tripolis nicht unternommen. Was Italien in Tripolis
zu besitzen glaubt, dankt es nicht eigenem Fleiß und eigener Energie, sondern
ausschließlich der Großmut Englands und Frankreichs, die, um selbst ungestört
schalten zu können, Italiens vermeintliche Rechte an Tripolis schon vor einigen
Jahren anerkannten. Um die Empfindungen der Türkei glaubte man sich nicht
kümmern zu brauchen. Italien hat es unter diesen Umständen seinen beiden
Bundesgenossen recht schwer gemacht, sich nicht auf die Gegenseite zu stellen; das
soll nicht verschwiegen werden.

Wenn trotz dieser Mißstimmung der öffentlichen Meinung gegen
Italien weder Österreich-Ungarn noch Deutschland Italien zur Ordnung riefen,
so ist daran wohl in erster Linie die strafwürdige Fahrlässigkeit und


Grenzboten IV 1911 6
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Italiens Einbruch in Tripolis — Fahrlässigkeit der Pforte — Die Stellung Deutsch¬
lands — Gang der kriegerischen Ereignisse — Italien bekommt Tripolis — Österreich-
Ungarns Haltung — Herr Nikolaus von Montenegro — Rußland — Serbien und
Bulgarien — Griechenland als Gefahrenherd — Italien auf der Haager Friedens¬
konferenz — Der Marokkohandel

Wohl selten ist die deutsche Presse so einmütig in der Beurteilung eines
Geschehnisses gewesen wie gegenüber dem Einbruch Italiens in türkisches
Gebiet. Die Blätter aller Richtungen haben herbe Worte gegen die italienische
Regierung gefunden und zutreffend Italiens Vorgehen als einen frechen Raubzug
gebrandmarkt. Auch die Freunde Italiens außerhalb des Dreibundes haben
an dem Vorgehen Anstoß genommen, aber, und das ist das charakteristische, sie
suchen die Verantwortung von den Italienern fort ans die anderen Dreibund¬
mächte, womöglich auf Deutschland, zu wälzen. So heißt es, Österreich-Ungarn
habe durch die Besetzung Bosniens das Signal zu dem Vorgehen Frankreichs
und nun zu dem Italiens gegeben, und Deutschland habe es gut geheißen.
Nun, der Vergleich hinkt. Österreich-Ungarn hat in Bosnien durch mehr als
ein Vierteljahrhundert eine Kulturarbeit verrichtet, die es moralisch schon lange
vor der formellen Inbesitznahme zum Herrn des Landes machte. Ähnlich ist
es mit Frankreich in Marokko. Auch die Franzosen haben seit 1880 unermüdlich
im Lande der Scherifen gewirkt und organisiert und erst dann den entscheidenden
Schritt getan, als sie tatsächliche Herren in Mauretanien waren. Was hat
dagegen Italien in Tripolis geleistet? Nichts! oder so gut wie nichts! Die
italienischen Kolonien in Tripolis haben kaum Zuwachs erhalten; der Handel
mit Tripolis beschränkt sich ans einige Millionen Lires und hat sich in den
letzten zehn Jahren nur um einige Hunderttausende vermehrt; eine Aus¬
wanderung von Jtalikern nach Tripolis hat nicht stattgefunden oder sich auf
Malteser beschränkt. Straßen- und Hafenbauten oder sonstige Kultur und Verkehr
fördernde Dinge, die nun vor irgendeinem drohenden Unheil geschützt werden
mußten, hat Italien in Tripolis nicht unternommen. Was Italien in Tripolis
zu besitzen glaubt, dankt es nicht eigenem Fleiß und eigener Energie, sondern
ausschließlich der Großmut Englands und Frankreichs, die, um selbst ungestört
schalten zu können, Italiens vermeintliche Rechte an Tripolis schon vor einigen
Jahren anerkannten. Um die Empfindungen der Türkei glaubte man sich nicht
kümmern zu brauchen. Italien hat es unter diesen Umständen seinen beiden
Bundesgenossen recht schwer gemacht, sich nicht auf die Gegenseite zu stellen; das
soll nicht verschwiegen werden.

Wenn trotz dieser Mißstimmung der öffentlichen Meinung gegen
Italien weder Österreich-Ungarn noch Deutschland Italien zur Ordnung riefen,
so ist daran wohl in erster Linie die strafwürdige Fahrlässigkeit und


Grenzboten IV 1911 6
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[0053] Rcichsspiegel Reichsspiegel Auswärtige Angelegenheiten Italiens Einbruch in Tripolis — Fahrlässigkeit der Pforte — Die Stellung Deutsch¬ lands — Gang der kriegerischen Ereignisse — Italien bekommt Tripolis — Österreich- Ungarns Haltung — Herr Nikolaus von Montenegro — Rußland — Serbien und Bulgarien — Griechenland als Gefahrenherd — Italien auf der Haager Friedens¬ konferenz — Der Marokkohandel Wohl selten ist die deutsche Presse so einmütig in der Beurteilung eines Geschehnisses gewesen wie gegenüber dem Einbruch Italiens in türkisches Gebiet. Die Blätter aller Richtungen haben herbe Worte gegen die italienische Regierung gefunden und zutreffend Italiens Vorgehen als einen frechen Raubzug gebrandmarkt. Auch die Freunde Italiens außerhalb des Dreibundes haben an dem Vorgehen Anstoß genommen, aber, und das ist das charakteristische, sie suchen die Verantwortung von den Italienern fort ans die anderen Dreibund¬ mächte, womöglich auf Deutschland, zu wälzen. So heißt es, Österreich-Ungarn habe durch die Besetzung Bosniens das Signal zu dem Vorgehen Frankreichs und nun zu dem Italiens gegeben, und Deutschland habe es gut geheißen. Nun, der Vergleich hinkt. Österreich-Ungarn hat in Bosnien durch mehr als ein Vierteljahrhundert eine Kulturarbeit verrichtet, die es moralisch schon lange vor der formellen Inbesitznahme zum Herrn des Landes machte. Ähnlich ist es mit Frankreich in Marokko. Auch die Franzosen haben seit 1880 unermüdlich im Lande der Scherifen gewirkt und organisiert und erst dann den entscheidenden Schritt getan, als sie tatsächliche Herren in Mauretanien waren. Was hat dagegen Italien in Tripolis geleistet? Nichts! oder so gut wie nichts! Die italienischen Kolonien in Tripolis haben kaum Zuwachs erhalten; der Handel mit Tripolis beschränkt sich ans einige Millionen Lires und hat sich in den letzten zehn Jahren nur um einige Hunderttausende vermehrt; eine Aus¬ wanderung von Jtalikern nach Tripolis hat nicht stattgefunden oder sich auf Malteser beschränkt. Straßen- und Hafenbauten oder sonstige Kultur und Verkehr fördernde Dinge, die nun vor irgendeinem drohenden Unheil geschützt werden mußten, hat Italien in Tripolis nicht unternommen. Was Italien in Tripolis zu besitzen glaubt, dankt es nicht eigenem Fleiß und eigener Energie, sondern ausschließlich der Großmut Englands und Frankreichs, die, um selbst ungestört schalten zu können, Italiens vermeintliche Rechte an Tripolis schon vor einigen Jahren anerkannten. Um die Empfindungen der Türkei glaubte man sich nicht kümmern zu brauchen. Italien hat es unter diesen Umständen seinen beiden Bundesgenossen recht schwer gemacht, sich nicht auf die Gegenseite zu stellen; das soll nicht verschwiegen werden. Wenn trotz dieser Mißstimmung der öffentlichen Meinung gegen Italien weder Österreich-Ungarn noch Deutschland Italien zur Ordnung riefen, so ist daran wohl in erster Linie die strafwürdige Fahrlässigkeit und Grenzboten IV 1911 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/53>, abgerufen am 23.07.2024.