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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Volksdichtungen aus (Lapri
Prof. Dr, Heinrich Zfchalig- Erstmalig aufgezeichnet und veröffentlicht von

le süditalienische Tarantella ist offenbar ein uralter Volkstanz. Die
gleichnamige Tanzkrankheit im vierzehnten und fünfzehnten Jahr¬
hundert und ähnliche Erscheinungen, wie sie mimisch durch die
"Tanzdichtung" einer Rita Sacchetto oder musikalisch durch hervor¬
ragende Klavier-, Violin- oder Cellovirtuosen dargestellt werden,
kommen hier nicht in Betracht; ebensowenig die als Tarantella bezeichneten
prunkhaften Ballette in der Scala zu Mailand oder in den großen Fremdensälen
zu Rom.

Einen ganz eigenen Zauber, für den vor dreißig Jahren selbst ein beredter
Italiener im "Piccolo" kaum Worte findet, scheint jedoch die Muse der Tanzkunst
der Tarantella von Capri verliehen zu haben. Jedenfalls übertrifft sie jene
äußerlich verfeinerten Kunstvorführungen durch natürliche Anmut und Leidenschaft,
vor allem aber durch eine gewisse "klassische" Ursprünglichkeit. Stimmen doch
verschiedene Stellungen und Bewegungen vollkommen mit entsprechenden Fresken
in Pompeji überein! Ja, nach einer auf Capri erzählten Sage haben die Grazien
selbst die Tarantella erfunden. Als die von Odysseus überlisteten Sirenen ein
stärkeres Betörungsmittel als den durch das Wachs machtlos gewordenen Zauber¬
sang begehrten, erdachten die Huldgöttinnen diesen Tanz und lehrten ihn, weil die
sußlosen Sirenen ihn selbst nicht ausführen konnten, den Schönen der Insel. Über
Neapel, das den Capresen den Zauberreigen bald abgelauscht hatte, eroberte er
sich dann ganz Süditalien bis nach Tarent und Sizilien, wo er überall noch heute
den Fremden in freilich oft recht fragwürdiger "Ausmachung" als Nationaltanz
vorgeführt wird. Sollte aber die Sache sich zufällig umgekehrt verhalten und das
schaufreudige Tarent die eigentliche Heimstätte der Tarantella sein, so bleibt eins
dabei doch als wahrscheinlich erwiesen: ihr antiker Ursprung. Daher rührt Wohl
auch das mimisch-symbolische Gepräge des Tanzes, der in seinen acht bis zehn
Figuren ein bald neckisches, bald ernstes und schließlich mit Erfolg gekröntes
Liebeswerben ausdrückt und darum in Capri auch als "ballo per apertura all gala
öello 8posali2lo" getanzt wird.

Zur musikalischen Begleitung, d. h. zur eigentlich ziemlich unmusikalischen
Markierung des Taktes, wird gewöhnlich nur das Tamburin, die bekannte kleine
Handschellentrommel, von einer die Gunst der Grazien meist nicht mehr genießenden
Alten geschlagen. Früher wurden, und im Hause einer einst durch ihre Schönheit
berühmten Taraniellatänzerin (deren Kinder man jetzt tanzen sieht) werden dazu
"und jetzt noch, kurze volkstümliche Lieder gesungen, dem Sinne des Tanzes gemäß
natürlich Liebeslieder, die aber gleich den mancherlei Vorkommnissen im Liebes-




Volksdichtungen aus (Lapri
Prof. Dr, Heinrich Zfchalig- Erstmalig aufgezeichnet und veröffentlicht von

le süditalienische Tarantella ist offenbar ein uralter Volkstanz. Die
gleichnamige Tanzkrankheit im vierzehnten und fünfzehnten Jahr¬
hundert und ähnliche Erscheinungen, wie sie mimisch durch die
„Tanzdichtung" einer Rita Sacchetto oder musikalisch durch hervor¬
ragende Klavier-, Violin- oder Cellovirtuosen dargestellt werden,
kommen hier nicht in Betracht; ebensowenig die als Tarantella bezeichneten
prunkhaften Ballette in der Scala zu Mailand oder in den großen Fremdensälen
zu Rom.

Einen ganz eigenen Zauber, für den vor dreißig Jahren selbst ein beredter
Italiener im „Piccolo" kaum Worte findet, scheint jedoch die Muse der Tanzkunst
der Tarantella von Capri verliehen zu haben. Jedenfalls übertrifft sie jene
äußerlich verfeinerten Kunstvorführungen durch natürliche Anmut und Leidenschaft,
vor allem aber durch eine gewisse „klassische" Ursprünglichkeit. Stimmen doch
verschiedene Stellungen und Bewegungen vollkommen mit entsprechenden Fresken
in Pompeji überein! Ja, nach einer auf Capri erzählten Sage haben die Grazien
selbst die Tarantella erfunden. Als die von Odysseus überlisteten Sirenen ein
stärkeres Betörungsmittel als den durch das Wachs machtlos gewordenen Zauber¬
sang begehrten, erdachten die Huldgöttinnen diesen Tanz und lehrten ihn, weil die
sußlosen Sirenen ihn selbst nicht ausführen konnten, den Schönen der Insel. Über
Neapel, das den Capresen den Zauberreigen bald abgelauscht hatte, eroberte er
sich dann ganz Süditalien bis nach Tarent und Sizilien, wo er überall noch heute
den Fremden in freilich oft recht fragwürdiger „Ausmachung" als Nationaltanz
vorgeführt wird. Sollte aber die Sache sich zufällig umgekehrt verhalten und das
schaufreudige Tarent die eigentliche Heimstätte der Tarantella sein, so bleibt eins
dabei doch als wahrscheinlich erwiesen: ihr antiker Ursprung. Daher rührt Wohl
auch das mimisch-symbolische Gepräge des Tanzes, der in seinen acht bis zehn
Figuren ein bald neckisches, bald ernstes und schließlich mit Erfolg gekröntes
Liebeswerben ausdrückt und darum in Capri auch als „ballo per apertura all gala
öello 8posali2lo« getanzt wird.

Zur musikalischen Begleitung, d. h. zur eigentlich ziemlich unmusikalischen
Markierung des Taktes, wird gewöhnlich nur das Tamburin, die bekannte kleine
Handschellentrommel, von einer die Gunst der Grazien meist nicht mehr genießenden
Alten geschlagen. Früher wurden, und im Hause einer einst durch ihre Schönheit
berühmten Taraniellatänzerin (deren Kinder man jetzt tanzen sieht) werden dazu
"und jetzt noch, kurze volkstümliche Lieder gesungen, dem Sinne des Tanzes gemäß
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/509>, abgerufen am 03.07.2024.