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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

Wenn um auch die Situation im ärztlichen Sprechzimmer und die Art
meiner eigenen Methode solche Versuchsfehler ausschaltete, so habe ich mir
doch nicht die grundsätzlichen Schwierigkeiten verschwiegen, die einer jeden
Moralprüfung in Form der Ausfrage anhaften, und bin mir der Bedeutung des
Schopenhauerschen Wortes bewußt geblieben: "Allein die Tat ist der harte
Probierstein aller unserer Überzeugungen". Es mußte mir genug sein, wenn
es gelang, in einem begrenzten ethischen Gebiete, in der Stellungnahme zum
Diebstahle, ein bestimmtes, als Kriterium verwendbares Ergebnis für den
Stand der sittlichen Reife der Jugendlichen zu erhalten. Gegenüber anderen
Untersuchern stand mir hierbei der besondere Vorteil zur Seite, daß der Ge¬
sinnungsprüfung, die ich vornahm, stets ein konkreter Vorgang, eine in den
allermeisten Fällen uneingeschränkt zugestandene Straftat zugrunde gelegt
werden konnte.

Das von mir eingeschlagene Prüfungsverfahren nahm folgenden Ver¬
lauf: Nach vorausgegangener Vernehmung der Angehörigen und nachdem im
Laufe des ärztlichen Verhörs unter vier Augen eine gewisse persönliche Ver¬
traulichkeit mit dem Untersuchten gewonnen war, wurde ihm gewissermaßen als
Schluß der Jntelligenzprüfnng die auch im offiziellen Schema vorgesehene
allgemeine Frage vorgelegt: Warum darf man (denn) nicht stehlen?

Wiewohl diese Formulierung der Frage eine gewisse Unbestimmtheit und
Vieldeutigkeit in sich trägt, so erweckte sie immerhin in für mich zweckmäßiger
Weise das kindliche Kansalitätsbedürfnis und löste tatsächlich mit verschwindenden
Ausnahmen stets eine entsprechende Antwort aus. In den meisten Fällen ließ
sich dabei das Vorherrschen der durchaus egozentrischen, mehr oder weniger
egoistischen Auffassungsweise ohne weiteres erkennen, wie sie für das Kindes¬
alter allgemein charakteristisch ist. In offener, mehr oder weniger naiver Weise
wird diese Stellungnahme, namentlich von den weniger intelligenten und leicht
schwachsinnigen Prüfungen, kundgegeben. Derartige Antworten von fünf geistig
Zurückgebliebenen lauteten z. B.:

"Weil man erwischt wird/'"

"Wells auf die Polizei angezeigt wird und Schläge zu Hause gibt.
"

"Weil das sonst die Eltern gesagt wird und weil man wegkommt.

"Weil man dann Gefängnis kriegt."
"

"Weil ich drauf Strafe kriege.

Die folgenden Angaben wurden von Normalen (mehr oder weniger In¬
telligenten) geliefert.

"Weil drauf Strafe steht."

"Weils doch raus kommt."

"Wells für seinen eigenen Nutzen ist, nicht zu stehlen, und schlimme Folge" hat."
"

"Wenn man stiehlt, bekommt man nicht so gut eine Stellung.
"

"Well das fürs spätere Leben schlecht ist.

In einer zweiten kleineren Gruppe, die fast uur Vollsinnige enthält, wird
die Achtung vor dem Eigentum des Nächsten und die durch den Diebstahl
gesetzte Schädigung in den Antworten geltend gemacht, z. B.:


Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

Wenn um auch die Situation im ärztlichen Sprechzimmer und die Art
meiner eigenen Methode solche Versuchsfehler ausschaltete, so habe ich mir
doch nicht die grundsätzlichen Schwierigkeiten verschwiegen, die einer jeden
Moralprüfung in Form der Ausfrage anhaften, und bin mir der Bedeutung des
Schopenhauerschen Wortes bewußt geblieben: „Allein die Tat ist der harte
Probierstein aller unserer Überzeugungen". Es mußte mir genug sein, wenn
es gelang, in einem begrenzten ethischen Gebiete, in der Stellungnahme zum
Diebstahle, ein bestimmtes, als Kriterium verwendbares Ergebnis für den
Stand der sittlichen Reife der Jugendlichen zu erhalten. Gegenüber anderen
Untersuchern stand mir hierbei der besondere Vorteil zur Seite, daß der Ge¬
sinnungsprüfung, die ich vornahm, stets ein konkreter Vorgang, eine in den
allermeisten Fällen uneingeschränkt zugestandene Straftat zugrunde gelegt
werden konnte.

Das von mir eingeschlagene Prüfungsverfahren nahm folgenden Ver¬
lauf: Nach vorausgegangener Vernehmung der Angehörigen und nachdem im
Laufe des ärztlichen Verhörs unter vier Augen eine gewisse persönliche Ver¬
traulichkeit mit dem Untersuchten gewonnen war, wurde ihm gewissermaßen als
Schluß der Jntelligenzprüfnng die auch im offiziellen Schema vorgesehene
allgemeine Frage vorgelegt: Warum darf man (denn) nicht stehlen?

Wiewohl diese Formulierung der Frage eine gewisse Unbestimmtheit und
Vieldeutigkeit in sich trägt, so erweckte sie immerhin in für mich zweckmäßiger
Weise das kindliche Kansalitätsbedürfnis und löste tatsächlich mit verschwindenden
Ausnahmen stets eine entsprechende Antwort aus. In den meisten Fällen ließ
sich dabei das Vorherrschen der durchaus egozentrischen, mehr oder weniger
egoistischen Auffassungsweise ohne weiteres erkennen, wie sie für das Kindes¬
alter allgemein charakteristisch ist. In offener, mehr oder weniger naiver Weise
wird diese Stellungnahme, namentlich von den weniger intelligenten und leicht
schwachsinnigen Prüfungen, kundgegeben. Derartige Antworten von fünf geistig
Zurückgebliebenen lauteten z. B.:

„Weil man erwischt wird/'"

„Wells auf die Polizei angezeigt wird und Schläge zu Hause gibt.
"

„Weil das sonst die Eltern gesagt wird und weil man wegkommt.

„Weil man dann Gefängnis kriegt."
"

„Weil ich drauf Strafe kriege.

Die folgenden Angaben wurden von Normalen (mehr oder weniger In¬
telligenten) geliefert.

„Weil drauf Strafe steht."

„Weils doch raus kommt."

„Wells für seinen eigenen Nutzen ist, nicht zu stehlen, und schlimme Folge» hat."
"

„Wenn man stiehlt, bekommt man nicht so gut eine Stellung.
"

„Well das fürs spätere Leben schlecht ist.

In einer zweiten kleineren Gruppe, die fast uur Vollsinnige enthält, wird
die Achtung vor dem Eigentum des Nächsten und die durch den Diebstahl
gesetzte Schädigung in den Antworten geltend gemacht, z. B.:


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[0495] Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife Wenn um auch die Situation im ärztlichen Sprechzimmer und die Art meiner eigenen Methode solche Versuchsfehler ausschaltete, so habe ich mir doch nicht die grundsätzlichen Schwierigkeiten verschwiegen, die einer jeden Moralprüfung in Form der Ausfrage anhaften, und bin mir der Bedeutung des Schopenhauerschen Wortes bewußt geblieben: „Allein die Tat ist der harte Probierstein aller unserer Überzeugungen". Es mußte mir genug sein, wenn es gelang, in einem begrenzten ethischen Gebiete, in der Stellungnahme zum Diebstahle, ein bestimmtes, als Kriterium verwendbares Ergebnis für den Stand der sittlichen Reife der Jugendlichen zu erhalten. Gegenüber anderen Untersuchern stand mir hierbei der besondere Vorteil zur Seite, daß der Ge¬ sinnungsprüfung, die ich vornahm, stets ein konkreter Vorgang, eine in den allermeisten Fällen uneingeschränkt zugestandene Straftat zugrunde gelegt werden konnte. Das von mir eingeschlagene Prüfungsverfahren nahm folgenden Ver¬ lauf: Nach vorausgegangener Vernehmung der Angehörigen und nachdem im Laufe des ärztlichen Verhörs unter vier Augen eine gewisse persönliche Ver¬ traulichkeit mit dem Untersuchten gewonnen war, wurde ihm gewissermaßen als Schluß der Jntelligenzprüfnng die auch im offiziellen Schema vorgesehene allgemeine Frage vorgelegt: Warum darf man (denn) nicht stehlen? Wiewohl diese Formulierung der Frage eine gewisse Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit in sich trägt, so erweckte sie immerhin in für mich zweckmäßiger Weise das kindliche Kansalitätsbedürfnis und löste tatsächlich mit verschwindenden Ausnahmen stets eine entsprechende Antwort aus. In den meisten Fällen ließ sich dabei das Vorherrschen der durchaus egozentrischen, mehr oder weniger egoistischen Auffassungsweise ohne weiteres erkennen, wie sie für das Kindes¬ alter allgemein charakteristisch ist. In offener, mehr oder weniger naiver Weise wird diese Stellungnahme, namentlich von den weniger intelligenten und leicht schwachsinnigen Prüfungen, kundgegeben. Derartige Antworten von fünf geistig Zurückgebliebenen lauteten z. B.: „Weil man erwischt wird/'" „Wells auf die Polizei angezeigt wird und Schläge zu Hause gibt. " „Weil das sonst die Eltern gesagt wird und weil man wegkommt. „Weil man dann Gefängnis kriegt." " „Weil ich drauf Strafe kriege. Die folgenden Angaben wurden von Normalen (mehr oder weniger In¬ telligenten) geliefert. „Weil drauf Strafe steht." „Weils doch raus kommt." „Wells für seinen eigenen Nutzen ist, nicht zu stehlen, und schlimme Folge» hat." " „Wenn man stiehlt, bekommt man nicht so gut eine Stellung. " „Well das fürs spätere Leben schlecht ist. In einer zweiten kleineren Gruppe, die fast uur Vollsinnige enthält, wird die Achtung vor dem Eigentum des Nächsten und die durch den Diebstahl gesetzte Schädigung in den Antworten geltend gemacht, z. B.:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/495>, abgerufen am 23.07.2024.