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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

Auslese fand nur insofern statt, als Diebstahlsfälle vorwiegend von mir heran¬
gezogen wurden.

Mein besonderes Interesse hatte sich von Beginn an daraus gerichtet, ein
Bild von der sittlichen Reife der jungen Missetäter zu erhalten, die Entwicklung
ihrer ethischen und sozial-ethischen Anschauungen kennen zu lernen und weiterhin
auch ihre Ansicht über den Zweck der Strafe zu erforschen; freilich können an
dieser Stelle nicht alle diese Punkte in Betracht gezogen werden. Waren nun auch
meine Feststellungen für die gerichtsärztliche Aufgabe nicht unmittelbar verwertbar
und erforderlich, so stehen sie doch in engem theoretischen Zusammenhange mit
den vielfachen Erörterungen, welche sich an die im geltenden Recht vorgesehene,
im Vorentwurf des künftigen ausgeschaltete Freisprechung knüpfen, falls der An¬
geschuldigte bei Begehung der strafbaren Handlung die zur Erkenntnis der Straf¬
barkeit erforderliche Einsicht nicht besaß (Z 5(> Strafgesetzbuch). Bei strenger
Auslegung dieses für das weitere Schicksal des Jugendlichen so bedeutsamen
Paragraphen wird lediglich der Besitz der kriminellen Einsicht, wie man sie
zutreffend der sittlichen gegenübergestellt hat,*) berücksichtigt und zu
erforschen gesucht. Für die bloße kriminelle Einsicht, d. h. ein Wissen von
polizeilich-gerichtlichen Folgen beim Erwischtwerden genügt aber bei den meisten
Straftaten ein so niedriges Maß von Intelligenz, daß strenggenommen selbst
für Schwachsinnige dieser Freisprechnngsgrund oft nicht ausreichen kann. Wenn
nun auch teilweise die Jugendrichter eine weitherzigere Auslegung der
"Einsicht" vertreten zu können glauben, so war doch diese gerichtliche Frage für
das hier erstrebte Ziel nicht als Grundlage geeignet. Es mußte mir insbesondere
gleichgültig sein, ob die häufige, mehr oder weniger suggestive Frage des Richters:
Wußtest du nicht, daß darauf Strafe steht? von dem jungen Angeklagten bejaht
oder verneint wurde. Schon der Eindruck des Tribunals, die feierliche, oft nicht
einmal verstandene Verlesung der Anklage, die Wirkung des Auditoriums, die
Protokollierung, oft noch die Form der Frage selbst lassen die bejahende oder
verneinende Auskunft des Jugendlichen über seinen Standpunkt zur Zeit der
Tat, geschweige über den gar nicht maßgeblichen augenblicklichen, so beeinflußt
erscheinen, daß wir ihr einen psychologischen Wert nicht beimessen können. Sie
dürfte auch dem Richter selbst in den meisten Fällen gleichgültig sein, wenn er
bedenkt, was alles die dazwischen liegenden polizeilichen Vernehmungen, Ver-
mahnungen, Belehrungen von Eltern, Rektoren, Geistlichen, dem voruntersuchenden
Arzt und anderen in der Erinnerung verwischt und neu eingepflanzt haben können.

In dem schon erwähnten Buche von Prof. E. Schnitze sind all diese Be¬
denken in anschaulicherer Weise dargelegt als es hier möglich ist. "Ungünstiger",
sagt er zusammenfassend, "könnte die Versuchsanordnung, wollte man die Frage
der Einsicht gewissermaßen experimentell prüfen, nicht gut getroffen werden."



") Vgl. die aufSchaefer und Schubart verweisenden Darlegungen von E, Zienike, Professur
der gerichtlichen Medizin zu Kiel. Monatsschr. f. Kriminnlpsychologie u. Strafrechtsreforin.
August 1911.
Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife

Auslese fand nur insofern statt, als Diebstahlsfälle vorwiegend von mir heran¬
gezogen wurden.

Mein besonderes Interesse hatte sich von Beginn an daraus gerichtet, ein
Bild von der sittlichen Reife der jungen Missetäter zu erhalten, die Entwicklung
ihrer ethischen und sozial-ethischen Anschauungen kennen zu lernen und weiterhin
auch ihre Ansicht über den Zweck der Strafe zu erforschen; freilich können an
dieser Stelle nicht alle diese Punkte in Betracht gezogen werden. Waren nun auch
meine Feststellungen für die gerichtsärztliche Aufgabe nicht unmittelbar verwertbar
und erforderlich, so stehen sie doch in engem theoretischen Zusammenhange mit
den vielfachen Erörterungen, welche sich an die im geltenden Recht vorgesehene,
im Vorentwurf des künftigen ausgeschaltete Freisprechung knüpfen, falls der An¬
geschuldigte bei Begehung der strafbaren Handlung die zur Erkenntnis der Straf¬
barkeit erforderliche Einsicht nicht besaß (Z 5(> Strafgesetzbuch). Bei strenger
Auslegung dieses für das weitere Schicksal des Jugendlichen so bedeutsamen
Paragraphen wird lediglich der Besitz der kriminellen Einsicht, wie man sie
zutreffend der sittlichen gegenübergestellt hat,*) berücksichtigt und zu
erforschen gesucht. Für die bloße kriminelle Einsicht, d. h. ein Wissen von
polizeilich-gerichtlichen Folgen beim Erwischtwerden genügt aber bei den meisten
Straftaten ein so niedriges Maß von Intelligenz, daß strenggenommen selbst
für Schwachsinnige dieser Freisprechnngsgrund oft nicht ausreichen kann. Wenn
nun auch teilweise die Jugendrichter eine weitherzigere Auslegung der
„Einsicht" vertreten zu können glauben, so war doch diese gerichtliche Frage für
das hier erstrebte Ziel nicht als Grundlage geeignet. Es mußte mir insbesondere
gleichgültig sein, ob die häufige, mehr oder weniger suggestive Frage des Richters:
Wußtest du nicht, daß darauf Strafe steht? von dem jungen Angeklagten bejaht
oder verneint wurde. Schon der Eindruck des Tribunals, die feierliche, oft nicht
einmal verstandene Verlesung der Anklage, die Wirkung des Auditoriums, die
Protokollierung, oft noch die Form der Frage selbst lassen die bejahende oder
verneinende Auskunft des Jugendlichen über seinen Standpunkt zur Zeit der
Tat, geschweige über den gar nicht maßgeblichen augenblicklichen, so beeinflußt
erscheinen, daß wir ihr einen psychologischen Wert nicht beimessen können. Sie
dürfte auch dem Richter selbst in den meisten Fällen gleichgültig sein, wenn er
bedenkt, was alles die dazwischen liegenden polizeilichen Vernehmungen, Ver-
mahnungen, Belehrungen von Eltern, Rektoren, Geistlichen, dem voruntersuchenden
Arzt und anderen in der Erinnerung verwischt und neu eingepflanzt haben können.

In dem schon erwähnten Buche von Prof. E. Schnitze sind all diese Be¬
denken in anschaulicherer Weise dargelegt als es hier möglich ist. „Ungünstiger",
sagt er zusammenfassend, „könnte die Versuchsanordnung, wollte man die Frage
der Einsicht gewissermaßen experimentell prüfen, nicht gut getroffen werden."



") Vgl. die aufSchaefer und Schubart verweisenden Darlegungen von E, Zienike, Professur
der gerichtlichen Medizin zu Kiel. Monatsschr. f. Kriminnlpsychologie u. Strafrechtsreforin.
August 1911.
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[0494] Die jugendlichen Angeklagten und ihre sittliche Reife Auslese fand nur insofern statt, als Diebstahlsfälle vorwiegend von mir heran¬ gezogen wurden. Mein besonderes Interesse hatte sich von Beginn an daraus gerichtet, ein Bild von der sittlichen Reife der jungen Missetäter zu erhalten, die Entwicklung ihrer ethischen und sozial-ethischen Anschauungen kennen zu lernen und weiterhin auch ihre Ansicht über den Zweck der Strafe zu erforschen; freilich können an dieser Stelle nicht alle diese Punkte in Betracht gezogen werden. Waren nun auch meine Feststellungen für die gerichtsärztliche Aufgabe nicht unmittelbar verwertbar und erforderlich, so stehen sie doch in engem theoretischen Zusammenhange mit den vielfachen Erörterungen, welche sich an die im geltenden Recht vorgesehene, im Vorentwurf des künftigen ausgeschaltete Freisprechung knüpfen, falls der An¬ geschuldigte bei Begehung der strafbaren Handlung die zur Erkenntnis der Straf¬ barkeit erforderliche Einsicht nicht besaß (Z 5(> Strafgesetzbuch). Bei strenger Auslegung dieses für das weitere Schicksal des Jugendlichen so bedeutsamen Paragraphen wird lediglich der Besitz der kriminellen Einsicht, wie man sie zutreffend der sittlichen gegenübergestellt hat,*) berücksichtigt und zu erforschen gesucht. Für die bloße kriminelle Einsicht, d. h. ein Wissen von polizeilich-gerichtlichen Folgen beim Erwischtwerden genügt aber bei den meisten Straftaten ein so niedriges Maß von Intelligenz, daß strenggenommen selbst für Schwachsinnige dieser Freisprechnngsgrund oft nicht ausreichen kann. Wenn nun auch teilweise die Jugendrichter eine weitherzigere Auslegung der „Einsicht" vertreten zu können glauben, so war doch diese gerichtliche Frage für das hier erstrebte Ziel nicht als Grundlage geeignet. Es mußte mir insbesondere gleichgültig sein, ob die häufige, mehr oder weniger suggestive Frage des Richters: Wußtest du nicht, daß darauf Strafe steht? von dem jungen Angeklagten bejaht oder verneint wurde. Schon der Eindruck des Tribunals, die feierliche, oft nicht einmal verstandene Verlesung der Anklage, die Wirkung des Auditoriums, die Protokollierung, oft noch die Form der Frage selbst lassen die bejahende oder verneinende Auskunft des Jugendlichen über seinen Standpunkt zur Zeit der Tat, geschweige über den gar nicht maßgeblichen augenblicklichen, so beeinflußt erscheinen, daß wir ihr einen psychologischen Wert nicht beimessen können. Sie dürfte auch dem Richter selbst in den meisten Fällen gleichgültig sein, wenn er bedenkt, was alles die dazwischen liegenden polizeilichen Vernehmungen, Ver- mahnungen, Belehrungen von Eltern, Rektoren, Geistlichen, dem voruntersuchenden Arzt und anderen in der Erinnerung verwischt und neu eingepflanzt haben können. In dem schon erwähnten Buche von Prof. E. Schnitze sind all diese Be¬ denken in anschaulicherer Weise dargelegt als es hier möglich ist. „Ungünstiger", sagt er zusammenfassend, „könnte die Versuchsanordnung, wollte man die Frage der Einsicht gewissermaßen experimentell prüfen, nicht gut getroffen werden." ") Vgl. die aufSchaefer und Schubart verweisenden Darlegungen von E, Zienike, Professur der gerichtlichen Medizin zu Kiel. Monatsschr. f. Kriminnlpsychologie u. Strafrechtsreforin. August 1911.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/494>, abgerufen am 26.08.2024.