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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe aus China

wurden meine Erwartungen hier nicht getäuscht. Pastor N., der dortige Missionar,
hatte zufällig gehört, daß an jenem Abend gerade eine Versammlung in der
nahegelegenen chinesischen Kirche stattfand, und meinte, daß Ao höchstwahrscheinlich
dort sein werde. So gingen wir denn, vom Pastor geleitet, dorthin, und richtig:
der erste, den wir sahen, war Freund Ao! Seine Freude, als er mich plötzlich
vor sich sah, war wirklich rührend. Er ist augenblicklich bei einem Beamten
der englischen Regierung, Mr. Lockhart, in Hongkong angestellt und erzählte
mir, wie Mr. Lockhart schon seit Monaten täglich die Schiffskisten durchsehe, in
der Hoffnung, ihm daraus meine Ankunft mitteilen zu können. Er hatte nämlich
durch den Berliner chinesischen Lehrer Hsüeh von meinen Reiseplänen gehört.
Da wir nun bereits am nächsten Morgen nach Canton fahren wollten, beredete
ich ihn sehr, sich doch für ein paar Tage beurlauben zu lassen und auch hinzu¬
kommen, was er mir auch zu versuchen versprach.

Die Kirche, in der wir Ao trafen, besteht aus einer selbständigen chinesischen
Gemeinde und wird von chinesischen Geistlichen geleitet. Wir lernten dort auch
Aos Schwiegersohn kennen, einen ungemein sympathisch aussehenden jungen
Mann, der an einem englischen Hospital in Hongkong als Arzt angestellt ist
und vollkommen fließend englisch spricht.

Das Personal der Berliner Mission besteht aus dem Pastor und einigen
Damen, die während wir dort waren, der Reihe nach auf der Bildfläche
erschienen. Es mögen ja alles gute und brave Menschen sein, aber es scheint
wirklich, als wäre nach protestantischer Auffassung Geschmacklosigkeit und Nach¬
lässigkeit in der Kleidung der einzig würdige Ausdruck wahrer Frömmigkeit.
Warum können denn diese Damen nicht ebenso wie die katholischen Schwestern
eine einfach würdige schwarze Ordenstracht anlegen? Müssen sie durchaus wie
stellenlose Köchinnen aussehen, um Gott wohlgefällig zu erscheinen? Ihrem
Bildungsstände schien freilich die äußere Erscheinung zu entsprechen.

Am Dienstag Morgen um 8 Uhr verließen wir Hongkong und kamen bereits
um 2^/2 Uhr hier an. Die Fahrt durch den Hafen und auf dem Perlenfluß
ist hübsch und abwechslungsreich. Schon eine Stunde bevor man Canton erreicht,
steht man in der Ferne die fünfstöckige Pagode und die gotischen Türme der
katholischen Kathedrale -- letztere zu dieser Umgebung passend wie die Faust
aufs Auge. Je mehr man sich der Stadt nähert, um so lebhafter gestaltet sich
das Leben auf dem Flusse, der von zahllosen Booten und Dschunken aller
Arten und Größen bedeckt ist. Unter anderem sahen wir auch jene ganz eigen¬
tümlichen Nadboote -- 8tern-xvKeel-boat8 nennen sie die Engländer --, die nur
hier vorkommen, und wie der Name besagt, an ihrem Hinterteil mit einem
Rad versehen sind, das aber nicht durch Dampf-, sondern Muskelkraft, nämlich
durch Treten, in Bewegung gesetzt wird. Vom Dampfschiff aus wurden wir
auf einem der zahllosen kleinen Boote an Land gebracht. Die "Bemannung"
dieser Boote besteht zumeist aus Weibern und Kindern, die sich mit fabelhafter
Gewandtheit und Flinkheit den Weg durch das Gewirr von Booten zu bahnen


Briefe aus China

wurden meine Erwartungen hier nicht getäuscht. Pastor N., der dortige Missionar,
hatte zufällig gehört, daß an jenem Abend gerade eine Versammlung in der
nahegelegenen chinesischen Kirche stattfand, und meinte, daß Ao höchstwahrscheinlich
dort sein werde. So gingen wir denn, vom Pastor geleitet, dorthin, und richtig:
der erste, den wir sahen, war Freund Ao! Seine Freude, als er mich plötzlich
vor sich sah, war wirklich rührend. Er ist augenblicklich bei einem Beamten
der englischen Regierung, Mr. Lockhart, in Hongkong angestellt und erzählte
mir, wie Mr. Lockhart schon seit Monaten täglich die Schiffskisten durchsehe, in
der Hoffnung, ihm daraus meine Ankunft mitteilen zu können. Er hatte nämlich
durch den Berliner chinesischen Lehrer Hsüeh von meinen Reiseplänen gehört.
Da wir nun bereits am nächsten Morgen nach Canton fahren wollten, beredete
ich ihn sehr, sich doch für ein paar Tage beurlauben zu lassen und auch hinzu¬
kommen, was er mir auch zu versuchen versprach.

Die Kirche, in der wir Ao trafen, besteht aus einer selbständigen chinesischen
Gemeinde und wird von chinesischen Geistlichen geleitet. Wir lernten dort auch
Aos Schwiegersohn kennen, einen ungemein sympathisch aussehenden jungen
Mann, der an einem englischen Hospital in Hongkong als Arzt angestellt ist
und vollkommen fließend englisch spricht.

Das Personal der Berliner Mission besteht aus dem Pastor und einigen
Damen, die während wir dort waren, der Reihe nach auf der Bildfläche
erschienen. Es mögen ja alles gute und brave Menschen sein, aber es scheint
wirklich, als wäre nach protestantischer Auffassung Geschmacklosigkeit und Nach¬
lässigkeit in der Kleidung der einzig würdige Ausdruck wahrer Frömmigkeit.
Warum können denn diese Damen nicht ebenso wie die katholischen Schwestern
eine einfach würdige schwarze Ordenstracht anlegen? Müssen sie durchaus wie
stellenlose Köchinnen aussehen, um Gott wohlgefällig zu erscheinen? Ihrem
Bildungsstände schien freilich die äußere Erscheinung zu entsprechen.

Am Dienstag Morgen um 8 Uhr verließen wir Hongkong und kamen bereits
um 2^/2 Uhr hier an. Die Fahrt durch den Hafen und auf dem Perlenfluß
ist hübsch und abwechslungsreich. Schon eine Stunde bevor man Canton erreicht,
steht man in der Ferne die fünfstöckige Pagode und die gotischen Türme der
katholischen Kathedrale — letztere zu dieser Umgebung passend wie die Faust
aufs Auge. Je mehr man sich der Stadt nähert, um so lebhafter gestaltet sich
das Leben auf dem Flusse, der von zahllosen Booten und Dschunken aller
Arten und Größen bedeckt ist. Unter anderem sahen wir auch jene ganz eigen¬
tümlichen Nadboote — 8tern-xvKeel-boat8 nennen sie die Engländer —, die nur
hier vorkommen, und wie der Name besagt, an ihrem Hinterteil mit einem
Rad versehen sind, das aber nicht durch Dampf-, sondern Muskelkraft, nämlich
durch Treten, in Bewegung gesetzt wird. Vom Dampfschiff aus wurden wir
auf einem der zahllosen kleinen Boote an Land gebracht. Die „Bemannung"
dieser Boote besteht zumeist aus Weibern und Kindern, die sich mit fabelhafter
Gewandtheit und Flinkheit den Weg durch das Gewirr von Booten zu bahnen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/486>, abgerufen am 23.07.2024.