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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe aus ^sima

Gottesdienstnorm aufzuerlegen. Für diesen Unterschied fehlt in den Synoden
das Verständnis. So hat die Synodalverfassung den Druck des landeskirchlichen
Monopols nur verschärft, die charakterlose Vereinerleiung gefördert, daran ge¬
wöhnt, ernste Überzeugungsfragen auf dem Wege von Kompromissen oder von
Formeln zu lösen, bei denen sich jeder Beteiligte etwas anderes denkt. So
segensreich ein Verband aller evangelischen Gemeinden des Staates auf wirt¬
schaftlichem und juristischem Gebiete ist -- die besten Früchte der Synodal-
verfassung sind auf diesem Felde gereift --, so unerträglich ist ein solcher Verband,
der sich anmaßt, seiner rechtlichen Gewalt das innere Leben und dessen Äußerungen
zu unterwerfen.

Rudolf Gucken hat einmal für die christliche Religion den schönen Ausdruck
geprägt: die charakteristische Religion. Das Landeskirchentum, wie wir es haben,
ist der Ausdruck einer charakterlosen Religion. Das ist unsere Not. Unter dem
System der monopolistischen obrigkeitlichen Religionspflege ist die Persönlichkeits¬
religion zum Einschlafen gekommen. Hin und wieder regt sie sich, wie eine
Träumende, dann wird sie von ihren Wärtern mit begütigenden oder unwirschem
Worte wieder zur Ruhe gebracht. Aus Fragen des Gewissens, der Überzeugung,
der persönlichen Entscheidung wird Konvention, Handwerk, Zeremonie, beamten¬
mäßiger Betrieb. Die Religion kommt dabei um ihren Ernst und um ihre
Würde. Man läßt sie sich gefallen, über sich ergehen, mehr oder minder willig,
mehr oder minder kalt. Das ist die gegenwärtige Lage unserer evangelischen
Kirche.




Briefe aus (Lhina
weiland Orofessor Dr. Wilhelm Grube- von

An seine Schwester.

Canton, 14. November 1897.


Meine liebe Weinande!

Seit ich Dir zuletzt aus Shanghai schrieb, haben wir wieder so viel
Interessantes und Schönes erlebt und gesehen, daß es wirklich schwer hält,
Anfang und Ende des Erzählens zu finden.

Nachdem wir noch am letzten Abend in Shanghai uns eine halbe Stunde
lang das Ballfest bei den: Taotai angesehen hatten, schifften wir uns am nächsten
Morgen in aller Frühe auf der "Sachsen" vom Norddeutschen Lloyd nach
Hongkong ein. Von den: Ball ist nicht viel zu berichten, denn abgesehen von
den vielen Chinesen und einigen Chinesinnen, die sich aber natürlich nicht am
Tanzen beteiligten, war der Ball ungefähr wie jeder andere. Kaum waren wir


Briefe aus ^sima

Gottesdienstnorm aufzuerlegen. Für diesen Unterschied fehlt in den Synoden
das Verständnis. So hat die Synodalverfassung den Druck des landeskirchlichen
Monopols nur verschärft, die charakterlose Vereinerleiung gefördert, daran ge¬
wöhnt, ernste Überzeugungsfragen auf dem Wege von Kompromissen oder von
Formeln zu lösen, bei denen sich jeder Beteiligte etwas anderes denkt. So
segensreich ein Verband aller evangelischen Gemeinden des Staates auf wirt¬
schaftlichem und juristischem Gebiete ist — die besten Früchte der Synodal-
verfassung sind auf diesem Felde gereift —, so unerträglich ist ein solcher Verband,
der sich anmaßt, seiner rechtlichen Gewalt das innere Leben und dessen Äußerungen
zu unterwerfen.

Rudolf Gucken hat einmal für die christliche Religion den schönen Ausdruck
geprägt: die charakteristische Religion. Das Landeskirchentum, wie wir es haben,
ist der Ausdruck einer charakterlosen Religion. Das ist unsere Not. Unter dem
System der monopolistischen obrigkeitlichen Religionspflege ist die Persönlichkeits¬
religion zum Einschlafen gekommen. Hin und wieder regt sie sich, wie eine
Träumende, dann wird sie von ihren Wärtern mit begütigenden oder unwirschem
Worte wieder zur Ruhe gebracht. Aus Fragen des Gewissens, der Überzeugung,
der persönlichen Entscheidung wird Konvention, Handwerk, Zeremonie, beamten¬
mäßiger Betrieb. Die Religion kommt dabei um ihren Ernst und um ihre
Würde. Man läßt sie sich gefallen, über sich ergehen, mehr oder minder willig,
mehr oder minder kalt. Das ist die gegenwärtige Lage unserer evangelischen
Kirche.




Briefe aus (Lhina
weiland Orofessor Dr. Wilhelm Grube- von

An seine Schwester.

Canton, 14. November 1897.


Meine liebe Weinande!

Seit ich Dir zuletzt aus Shanghai schrieb, haben wir wieder so viel
Interessantes und Schönes erlebt und gesehen, daß es wirklich schwer hält,
Anfang und Ende des Erzählens zu finden.

Nachdem wir noch am letzten Abend in Shanghai uns eine halbe Stunde
lang das Ballfest bei den: Taotai angesehen hatten, schifften wir uns am nächsten
Morgen in aller Frühe auf der „Sachsen" vom Norddeutschen Lloyd nach
Hongkong ein. Von den: Ball ist nicht viel zu berichten, denn abgesehen von
den vielen Chinesen und einigen Chinesinnen, die sich aber natürlich nicht am
Tanzen beteiligten, war der Ball ungefähr wie jeder andere. Kaum waren wir


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[0484] Briefe aus ^sima Gottesdienstnorm aufzuerlegen. Für diesen Unterschied fehlt in den Synoden das Verständnis. So hat die Synodalverfassung den Druck des landeskirchlichen Monopols nur verschärft, die charakterlose Vereinerleiung gefördert, daran ge¬ wöhnt, ernste Überzeugungsfragen auf dem Wege von Kompromissen oder von Formeln zu lösen, bei denen sich jeder Beteiligte etwas anderes denkt. So segensreich ein Verband aller evangelischen Gemeinden des Staates auf wirt¬ schaftlichem und juristischem Gebiete ist — die besten Früchte der Synodal- verfassung sind auf diesem Felde gereift —, so unerträglich ist ein solcher Verband, der sich anmaßt, seiner rechtlichen Gewalt das innere Leben und dessen Äußerungen zu unterwerfen. Rudolf Gucken hat einmal für die christliche Religion den schönen Ausdruck geprägt: die charakteristische Religion. Das Landeskirchentum, wie wir es haben, ist der Ausdruck einer charakterlosen Religion. Das ist unsere Not. Unter dem System der monopolistischen obrigkeitlichen Religionspflege ist die Persönlichkeits¬ religion zum Einschlafen gekommen. Hin und wieder regt sie sich, wie eine Träumende, dann wird sie von ihren Wärtern mit begütigenden oder unwirschem Worte wieder zur Ruhe gebracht. Aus Fragen des Gewissens, der Überzeugung, der persönlichen Entscheidung wird Konvention, Handwerk, Zeremonie, beamten¬ mäßiger Betrieb. Die Religion kommt dabei um ihren Ernst und um ihre Würde. Man läßt sie sich gefallen, über sich ergehen, mehr oder minder willig, mehr oder minder kalt. Das ist die gegenwärtige Lage unserer evangelischen Kirche. Briefe aus (Lhina weiland Orofessor Dr. Wilhelm Grube- von An seine Schwester. Canton, 14. November 1897. Meine liebe Weinande! Seit ich Dir zuletzt aus Shanghai schrieb, haben wir wieder so viel Interessantes und Schönes erlebt und gesehen, daß es wirklich schwer hält, Anfang und Ende des Erzählens zu finden. Nachdem wir noch am letzten Abend in Shanghai uns eine halbe Stunde lang das Ballfest bei den: Taotai angesehen hatten, schifften wir uns am nächsten Morgen in aller Frühe auf der „Sachsen" vom Norddeutschen Lloyd nach Hongkong ein. Von den: Ball ist nicht viel zu berichten, denn abgesehen von den vielen Chinesen und einigen Chinesinnen, die sich aber natürlich nicht am Tanzen beteiligten, war der Ball ungefähr wie jeder andere. Kaum waren wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/484>, abgerufen am 23.07.2024.