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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Religionsfreiheit und Airchenreform

seelischer Stille." Das sind Sätze, die viel mehr als die Jathos, die Durch¬
schnittsmeinung der modernen Theologie widerspiegeln. Können wir es dann
aber nicht verstehen, daß vieler Altgläubiger Herzen bluten, wenn sie so etwas
lesen, daß nicht der Fanatismus, sondern das Gewissen sich sträubt, Theologen
der Art als Sprecher der Gemeinde anzunehmen, zu der man gehört?

Aber es ist vielleicht kein Zeichen von Tiefe, daß wir diese Not gerade
nur in den Fällen erkennen, wo es sich um verschiedene Arten des religiösen
Denkens handelt. Dieselbe Not ist es doch schließlich gewesen, die in dem
tapferen Kampfe der Altlutheraner wider die Agende von 1821 ihren Ausdruck
fand, -- dem Kampfe für ein eigentümliches Kultusideal wider das Monopol
des Kirchenregimentes, die Gottesdienstordnung zu bestimmen. Und das
Schlimmste und Bielersee ist, daß dies Monopol die Bildung christlich-sozialer
Gemeinden unmöglich gemacht hat. Im Vergleich hiermit wiegt der Fall Jatho
leicht. Ein Blick auf die englische Arbeiterbewegung mit ihrem starken reli¬
giösen Einschlag zeigt uns, welch' unsagbarer Schaden unserer vaterländischen
Entwicklung durch den Mangel an Religionsfreiheit zugefügt ist.

Unter diesem Drucke des Staates, unter der Herrschaft dieses Monopols
ist jede gesunde kirchliche Initiative in der protestantischen Bevölkerung verkümmert
und erstorben. Aber wie? Was im sechszehnten Jahrhundert hundertfach geschehen
ist, unter den denkbar schwierigsten politischen Verhältnissen, in einem armen
Volke, unter dem Mangel staatsbürglicher Rechte und verbindender Verkehrs¬
mittel, was heute noch hundertfach in der Diaspora geschieht, eine solche Bildung
von Gemeinden von unten her, das sollte nun unmöglich sein, in einer Zeit,
da unser Volk gewöhnt und geschult ist, für alle möglichen Zwecke Vereine zu
bilden und Versammlungen zu halten? Woher kommt dieser furchtbare Un¬
glaube? Nein, es liegt nur an dem Drucke des Staates, daß das nicht möglich
ist. In dem Augenblick, wo der Staat diesen Druck fallen läßt, wo er mit dem
Monopol der Landeskirche, Gemeinden zu bilden, bricht, sie nicht mehr in
dem Ansprüche stützt, den evangelischen Gemeinden des Landes einerlei Normen
der Lehre, des Kultus, der Verfassung aufzulegen, oder doch die Mitwirkung
der Landeskirche auf eine bloße Aufsicht und Normierung gewisser rechtlicher
und wirtschaftlicher Bedingungen beschränkt, wo er die Organisation evangelischer
Gemeinden auf Grund des Umlagerechtes gewährt, -- werden solche Gemeinden
auch entstehen.

Was heute statt dessen geschieht, ist etwas anderes. Der Staat hat zwar
die Macht, die Absplitterung und Bildung neuer Gemeinden zu verhindern.
Aber er hat nicht die Macht, die Einzelnen, die sich von der geltenden Kirchen¬
ordnung gedrückt fühlen, zur Teilnahme am kirchlichen Leben anzuhalten. Was
tun sie nun? Sie beschränken sich auf ein rein äußeres Verhältnis zur Kirche,
zahlen mehr oder minder widerwillig ihre Steuern und benutzen die Kirche
lediglich als Dekorationsinstitut bei Familienfesten. Dem Monopol der Landes¬
kirche entspricht die Unkirchlichkeit der Massen. Das ist heute die Stellung


Religionsfreiheit und Airchenreform

seelischer Stille." Das sind Sätze, die viel mehr als die Jathos, die Durch¬
schnittsmeinung der modernen Theologie widerspiegeln. Können wir es dann
aber nicht verstehen, daß vieler Altgläubiger Herzen bluten, wenn sie so etwas
lesen, daß nicht der Fanatismus, sondern das Gewissen sich sträubt, Theologen
der Art als Sprecher der Gemeinde anzunehmen, zu der man gehört?

Aber es ist vielleicht kein Zeichen von Tiefe, daß wir diese Not gerade
nur in den Fällen erkennen, wo es sich um verschiedene Arten des religiösen
Denkens handelt. Dieselbe Not ist es doch schließlich gewesen, die in dem
tapferen Kampfe der Altlutheraner wider die Agende von 1821 ihren Ausdruck
fand, — dem Kampfe für ein eigentümliches Kultusideal wider das Monopol
des Kirchenregimentes, die Gottesdienstordnung zu bestimmen. Und das
Schlimmste und Bielersee ist, daß dies Monopol die Bildung christlich-sozialer
Gemeinden unmöglich gemacht hat. Im Vergleich hiermit wiegt der Fall Jatho
leicht. Ein Blick auf die englische Arbeiterbewegung mit ihrem starken reli¬
giösen Einschlag zeigt uns, welch' unsagbarer Schaden unserer vaterländischen
Entwicklung durch den Mangel an Religionsfreiheit zugefügt ist.

Unter diesem Drucke des Staates, unter der Herrschaft dieses Monopols
ist jede gesunde kirchliche Initiative in der protestantischen Bevölkerung verkümmert
und erstorben. Aber wie? Was im sechszehnten Jahrhundert hundertfach geschehen
ist, unter den denkbar schwierigsten politischen Verhältnissen, in einem armen
Volke, unter dem Mangel staatsbürglicher Rechte und verbindender Verkehrs¬
mittel, was heute noch hundertfach in der Diaspora geschieht, eine solche Bildung
von Gemeinden von unten her, das sollte nun unmöglich sein, in einer Zeit,
da unser Volk gewöhnt und geschult ist, für alle möglichen Zwecke Vereine zu
bilden und Versammlungen zu halten? Woher kommt dieser furchtbare Un¬
glaube? Nein, es liegt nur an dem Drucke des Staates, daß das nicht möglich
ist. In dem Augenblick, wo der Staat diesen Druck fallen läßt, wo er mit dem
Monopol der Landeskirche, Gemeinden zu bilden, bricht, sie nicht mehr in
dem Ansprüche stützt, den evangelischen Gemeinden des Landes einerlei Normen
der Lehre, des Kultus, der Verfassung aufzulegen, oder doch die Mitwirkung
der Landeskirche auf eine bloße Aufsicht und Normierung gewisser rechtlicher
und wirtschaftlicher Bedingungen beschränkt, wo er die Organisation evangelischer
Gemeinden auf Grund des Umlagerechtes gewährt, — werden solche Gemeinden
auch entstehen.

Was heute statt dessen geschieht, ist etwas anderes. Der Staat hat zwar
die Macht, die Absplitterung und Bildung neuer Gemeinden zu verhindern.
Aber er hat nicht die Macht, die Einzelnen, die sich von der geltenden Kirchen¬
ordnung gedrückt fühlen, zur Teilnahme am kirchlichen Leben anzuhalten. Was
tun sie nun? Sie beschränken sich auf ein rein äußeres Verhältnis zur Kirche,
zahlen mehr oder minder widerwillig ihre Steuern und benutzen die Kirche
lediglich als Dekorationsinstitut bei Familienfesten. Dem Monopol der Landes¬
kirche entspricht die Unkirchlichkeit der Massen. Das ist heute die Stellung


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[0482] Religionsfreiheit und Airchenreform seelischer Stille." Das sind Sätze, die viel mehr als die Jathos, die Durch¬ schnittsmeinung der modernen Theologie widerspiegeln. Können wir es dann aber nicht verstehen, daß vieler Altgläubiger Herzen bluten, wenn sie so etwas lesen, daß nicht der Fanatismus, sondern das Gewissen sich sträubt, Theologen der Art als Sprecher der Gemeinde anzunehmen, zu der man gehört? Aber es ist vielleicht kein Zeichen von Tiefe, daß wir diese Not gerade nur in den Fällen erkennen, wo es sich um verschiedene Arten des religiösen Denkens handelt. Dieselbe Not ist es doch schließlich gewesen, die in dem tapferen Kampfe der Altlutheraner wider die Agende von 1821 ihren Ausdruck fand, — dem Kampfe für ein eigentümliches Kultusideal wider das Monopol des Kirchenregimentes, die Gottesdienstordnung zu bestimmen. Und das Schlimmste und Bielersee ist, daß dies Monopol die Bildung christlich-sozialer Gemeinden unmöglich gemacht hat. Im Vergleich hiermit wiegt der Fall Jatho leicht. Ein Blick auf die englische Arbeiterbewegung mit ihrem starken reli¬ giösen Einschlag zeigt uns, welch' unsagbarer Schaden unserer vaterländischen Entwicklung durch den Mangel an Religionsfreiheit zugefügt ist. Unter diesem Drucke des Staates, unter der Herrschaft dieses Monopols ist jede gesunde kirchliche Initiative in der protestantischen Bevölkerung verkümmert und erstorben. Aber wie? Was im sechszehnten Jahrhundert hundertfach geschehen ist, unter den denkbar schwierigsten politischen Verhältnissen, in einem armen Volke, unter dem Mangel staatsbürglicher Rechte und verbindender Verkehrs¬ mittel, was heute noch hundertfach in der Diaspora geschieht, eine solche Bildung von Gemeinden von unten her, das sollte nun unmöglich sein, in einer Zeit, da unser Volk gewöhnt und geschult ist, für alle möglichen Zwecke Vereine zu bilden und Versammlungen zu halten? Woher kommt dieser furchtbare Un¬ glaube? Nein, es liegt nur an dem Drucke des Staates, daß das nicht möglich ist. In dem Augenblick, wo der Staat diesen Druck fallen läßt, wo er mit dem Monopol der Landeskirche, Gemeinden zu bilden, bricht, sie nicht mehr in dem Ansprüche stützt, den evangelischen Gemeinden des Landes einerlei Normen der Lehre, des Kultus, der Verfassung aufzulegen, oder doch die Mitwirkung der Landeskirche auf eine bloße Aufsicht und Normierung gewisser rechtlicher und wirtschaftlicher Bedingungen beschränkt, wo er die Organisation evangelischer Gemeinden auf Grund des Umlagerechtes gewährt, — werden solche Gemeinden auch entstehen. Was heute statt dessen geschieht, ist etwas anderes. Der Staat hat zwar die Macht, die Absplitterung und Bildung neuer Gemeinden zu verhindern. Aber er hat nicht die Macht, die Einzelnen, die sich von der geltenden Kirchen¬ ordnung gedrückt fühlen, zur Teilnahme am kirchlichen Leben anzuhalten. Was tun sie nun? Sie beschränken sich auf ein rein äußeres Verhältnis zur Kirche, zahlen mehr oder minder widerwillig ihre Steuern und benutzen die Kirche lediglich als Dekorationsinstitut bei Familienfesten. Dem Monopol der Landes¬ kirche entspricht die Unkirchlichkeit der Massen. Das ist heute die Stellung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/482>, abgerufen am 23.07.2024.