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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Religionsfreiheit "ut Airchenresorm

denen das Christentum Tugendlehre und Vergeltungsglaube, Gewissensfreiheit
und Menschenliebe ist und weiter nichts. Wir haben eine Bildungsreligion,
der das geschichtliche Evangelium nur ein Bild und Symbol ewiger Wahr¬
heiten und Werte ist neben andern. Wir haben Romantiker, deren Sehnsucht
nach einer Erneuerung des alten Kultus mit seinen reichen Andachtsmöglichkeiten
und der alten Autoritätsverehrung ausgreift. Nicht zu vergessen, daß auch von
außen her, durch die Einflüsse des Jndependentismus und Methodismus die
Frömmigkeit eines großen Volksteiles ihr eigenes Gepräge empfangen hat, und
daß unterhalb all dieser Arten von Protestantismus noch ein naturwüchsiger
Volksglaube an krasse Wunder, an die Wirkung heiliger Zauberformeln und
Handlungen, an Besprechungen und Zukunstsdeutungen in christlichen Formen
fortlebet.

Man kann sich diese Mannigfaltigkeit gar nicht groß genug denken. Ich
bestreite nun natürlich nicht, daß auch unter dieser Masse eine Einheit besteht. Dafür
sorgt die Lutherbibel und das Kirchenlied, das Unser Vater und die Taus- und
Trausitte. Auch ist ein Grundstock gemeinsamer Gedanken und Stimmungen
vorhanden. Irgendwie ist doch aller Blick auf Jesus gerichtet, sind alle anti-
katholisch. Aber wer daraus schnellfertig eine Gesinnungseinheit macht, mi߬
braucht dies edle Wort. Was ich behaupte, ist, daß diese in der Mannigfaltigkeit
enthaltene Einheit nicht hinlangt zur Kirchenbildung und zur Erhaltung großer
religiöser Gemeinschaften. Diese brauchen einen tragfähigeren Grund und
ein festeres Band. Eine einigermaßen soziologisch geschulte Betrachtung zeigt
uns, daß alle Kirchen seit der Reformation hervorgegangen sind aus viel tiefer
greifenden und reicheren Gemeinsamkeiten. Aus gemeinsamer Auffassung von
Lehre und Geschichte, aus gemeinsamen Verfassungs- oder Kultusidealen, aus
gemeinsamen sozialen Zielen, aus gemeinsamer Verehrung schöpferischer Personen,
aus gemeinsamen Nöten und Leiden z. B. unter politischem Druck. Erst wo
solche Motive wirksam werden und mit ihrer Macht alle daneben vorhandenen
Differenzen verschlingen, erst da entstehen religiöse Gemeinden und Kirchen¬
bildungen, erst da ist die Möglichkeit gemeinsamen religiösen Erlebens, gemein¬
samen Gottesdienstes, gemeinsamen Handelns, kurz die Möglichkeit charaktersoller
Eigenart und Entwicklung gegeben.

Beherzigen wir dies, so muß es uns als ein unbegreifliches Unterfangen
erscheinen, eine so in sich verschiedene Masse von einundzwanzig Millionen an
dieselbe Art Verfassung, dieselbe Gottesdienstordnung, dieselbe Norm zu binden
und ihnen eine gleiche Stellung zu sozialen Problemen aufzuzwingen. Das
kann um keinen anderen Preis durchgeführt werden, als um den fortwährenden
Verzichts auf Charakter, Überzeugung und Energie des Handelns.

Und doch ist dies die Stellung des preußischen Staats. Der preußische
Staat hat ein Organ aus sich herausgesetzt und mit dem Monopol der evan¬
gelischen Gemeindebildimg ausgestattet: das landesherrliche Kirchenregiment. Dies
Kirchenregiment ist die einzige Instanz, die evangelische Gemeinden bilden kann.


Religionsfreiheit »ut Airchenresorm

denen das Christentum Tugendlehre und Vergeltungsglaube, Gewissensfreiheit
und Menschenliebe ist und weiter nichts. Wir haben eine Bildungsreligion,
der das geschichtliche Evangelium nur ein Bild und Symbol ewiger Wahr¬
heiten und Werte ist neben andern. Wir haben Romantiker, deren Sehnsucht
nach einer Erneuerung des alten Kultus mit seinen reichen Andachtsmöglichkeiten
und der alten Autoritätsverehrung ausgreift. Nicht zu vergessen, daß auch von
außen her, durch die Einflüsse des Jndependentismus und Methodismus die
Frömmigkeit eines großen Volksteiles ihr eigenes Gepräge empfangen hat, und
daß unterhalb all dieser Arten von Protestantismus noch ein naturwüchsiger
Volksglaube an krasse Wunder, an die Wirkung heiliger Zauberformeln und
Handlungen, an Besprechungen und Zukunstsdeutungen in christlichen Formen
fortlebet.

Man kann sich diese Mannigfaltigkeit gar nicht groß genug denken. Ich
bestreite nun natürlich nicht, daß auch unter dieser Masse eine Einheit besteht. Dafür
sorgt die Lutherbibel und das Kirchenlied, das Unser Vater und die Taus- und
Trausitte. Auch ist ein Grundstock gemeinsamer Gedanken und Stimmungen
vorhanden. Irgendwie ist doch aller Blick auf Jesus gerichtet, sind alle anti-
katholisch. Aber wer daraus schnellfertig eine Gesinnungseinheit macht, mi߬
braucht dies edle Wort. Was ich behaupte, ist, daß diese in der Mannigfaltigkeit
enthaltene Einheit nicht hinlangt zur Kirchenbildung und zur Erhaltung großer
religiöser Gemeinschaften. Diese brauchen einen tragfähigeren Grund und
ein festeres Band. Eine einigermaßen soziologisch geschulte Betrachtung zeigt
uns, daß alle Kirchen seit der Reformation hervorgegangen sind aus viel tiefer
greifenden und reicheren Gemeinsamkeiten. Aus gemeinsamer Auffassung von
Lehre und Geschichte, aus gemeinsamen Verfassungs- oder Kultusidealen, aus
gemeinsamen sozialen Zielen, aus gemeinsamer Verehrung schöpferischer Personen,
aus gemeinsamen Nöten und Leiden z. B. unter politischem Druck. Erst wo
solche Motive wirksam werden und mit ihrer Macht alle daneben vorhandenen
Differenzen verschlingen, erst da entstehen religiöse Gemeinden und Kirchen¬
bildungen, erst da ist die Möglichkeit gemeinsamen religiösen Erlebens, gemein¬
samen Gottesdienstes, gemeinsamen Handelns, kurz die Möglichkeit charaktersoller
Eigenart und Entwicklung gegeben.

Beherzigen wir dies, so muß es uns als ein unbegreifliches Unterfangen
erscheinen, eine so in sich verschiedene Masse von einundzwanzig Millionen an
dieselbe Art Verfassung, dieselbe Gottesdienstordnung, dieselbe Norm zu binden
und ihnen eine gleiche Stellung zu sozialen Problemen aufzuzwingen. Das
kann um keinen anderen Preis durchgeführt werden, als um den fortwährenden
Verzichts auf Charakter, Überzeugung und Energie des Handelns.

Und doch ist dies die Stellung des preußischen Staats. Der preußische
Staat hat ein Organ aus sich herausgesetzt und mit dem Monopol der evan¬
gelischen Gemeindebildimg ausgestattet: das landesherrliche Kirchenregiment. Dies
Kirchenregiment ist die einzige Instanz, die evangelische Gemeinden bilden kann.


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[0479] Religionsfreiheit »ut Airchenresorm denen das Christentum Tugendlehre und Vergeltungsglaube, Gewissensfreiheit und Menschenliebe ist und weiter nichts. Wir haben eine Bildungsreligion, der das geschichtliche Evangelium nur ein Bild und Symbol ewiger Wahr¬ heiten und Werte ist neben andern. Wir haben Romantiker, deren Sehnsucht nach einer Erneuerung des alten Kultus mit seinen reichen Andachtsmöglichkeiten und der alten Autoritätsverehrung ausgreift. Nicht zu vergessen, daß auch von außen her, durch die Einflüsse des Jndependentismus und Methodismus die Frömmigkeit eines großen Volksteiles ihr eigenes Gepräge empfangen hat, und daß unterhalb all dieser Arten von Protestantismus noch ein naturwüchsiger Volksglaube an krasse Wunder, an die Wirkung heiliger Zauberformeln und Handlungen, an Besprechungen und Zukunstsdeutungen in christlichen Formen fortlebet. Man kann sich diese Mannigfaltigkeit gar nicht groß genug denken. Ich bestreite nun natürlich nicht, daß auch unter dieser Masse eine Einheit besteht. Dafür sorgt die Lutherbibel und das Kirchenlied, das Unser Vater und die Taus- und Trausitte. Auch ist ein Grundstock gemeinsamer Gedanken und Stimmungen vorhanden. Irgendwie ist doch aller Blick auf Jesus gerichtet, sind alle anti- katholisch. Aber wer daraus schnellfertig eine Gesinnungseinheit macht, mi߬ braucht dies edle Wort. Was ich behaupte, ist, daß diese in der Mannigfaltigkeit enthaltene Einheit nicht hinlangt zur Kirchenbildung und zur Erhaltung großer religiöser Gemeinschaften. Diese brauchen einen tragfähigeren Grund und ein festeres Band. Eine einigermaßen soziologisch geschulte Betrachtung zeigt uns, daß alle Kirchen seit der Reformation hervorgegangen sind aus viel tiefer greifenden und reicheren Gemeinsamkeiten. Aus gemeinsamer Auffassung von Lehre und Geschichte, aus gemeinsamen Verfassungs- oder Kultusidealen, aus gemeinsamen sozialen Zielen, aus gemeinsamer Verehrung schöpferischer Personen, aus gemeinsamen Nöten und Leiden z. B. unter politischem Druck. Erst wo solche Motive wirksam werden und mit ihrer Macht alle daneben vorhandenen Differenzen verschlingen, erst da entstehen religiöse Gemeinden und Kirchen¬ bildungen, erst da ist die Möglichkeit gemeinsamen religiösen Erlebens, gemein¬ samen Gottesdienstes, gemeinsamen Handelns, kurz die Möglichkeit charaktersoller Eigenart und Entwicklung gegeben. Beherzigen wir dies, so muß es uns als ein unbegreifliches Unterfangen erscheinen, eine so in sich verschiedene Masse von einundzwanzig Millionen an dieselbe Art Verfassung, dieselbe Gottesdienstordnung, dieselbe Norm zu binden und ihnen eine gleiche Stellung zu sozialen Problemen aufzuzwingen. Das kann um keinen anderen Preis durchgeführt werden, als um den fortwährenden Verzichts auf Charakter, Überzeugung und Energie des Handelns. Und doch ist dies die Stellung des preußischen Staats. Der preußische Staat hat ein Organ aus sich herausgesetzt und mit dem Monopol der evan¬ gelischen Gemeindebildimg ausgestattet: das landesherrliche Kirchenregiment. Dies Kirchenregiment ist die einzige Instanz, die evangelische Gemeinden bilden kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/479>, abgerufen am 23.07.2024.